Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 V 208



117 V 208

26. Auszug aus dem Urteil vom 10. September 1991 i.S. A. gegen
Ausgleichskasse des Kantons Luzern und Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern Regeste

    Art. 16 Abs. 2 AHVG.

    - In analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 2 AHVG ist für die
Vollstreckung einer rechtskräftig festgelegten Rückerstattungsforderung
die dreijährige Frist massgebend (Bestätigung der Rechtsprechung; Erw. 2b).

    - Die dreijährige Vollstreckungsfrist ist Verwirkungsfrist,
dies unabhängig davon, ob sie auf eine Beitrags- oder auf
eine Rückerstattungsforderung Anwendung findet (Präzisierung der
Rechtsprechung). Für eine unterschiedliche Qualifizierung besteht umso
weniger Anlass, als die dreijährige Frist für die Durchsetzung der
Rückerstattung im Falle eines (innert Ordnungsfrist einzureichenden)
Erlassgesuches nach dessen rechtskräftiger Abweisung zu laufen beginnt
(Erw. 3b).

    - Art. 16 Abs. 2 letzter Satz AHVG ist auf die Verrechnung einer
Rückerstattungsforderung mit einer laufenden Rente nicht anwendbar
(Erw. 4c).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 47 Abs. 1 AHVG, anwendbar auf dem Gebiet der
Invalidenversicherung (Art. 49 IVG) und der Ergänzungsleistungen
(Art. 27 Abs. 1 ELV), sind unrechtmässig bezogene Renten und
Hilflosenentschädigungen zurückzuerstatten. Bei gutem Glauben
und gleichzeitigem Vorliegen einer grossen Härte kann von der
Rückforderung abgesehen werden. Nach Art. 47 Abs. 2 AHVG verjährt
der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die
Ausgleichskasse davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem
Ablauf von fünf Jahren seit der einzelnen Rentenzahlung. Wird der
Rückforderungsanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für
welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist festsetzt, so ist
diese Frist massgebend.

    Art. 16 Abs. 2 AHVG, soweit vorliegend von Bedeutung, lautet: Die
gemäss Abs. 1 geltend gemachte Beitragsforderung erlischt drei Jahre
nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem sie rechtskräftig wurde
(erster Satz). Bei Entstehung des Rentenanspruches nicht erloschene
Beitragsforderungen können in jedem Fall gemäss Art. 20 Abs. 2 noch
verrechnet werden (letzter Satz).

    b) In BGE 105 V 80 Erw. 2c, bestätigt in BGE 111 V 95 f., hat das Eidg.
Versicherungsgericht erkannt, dass die Fristen nach Art. 47 Abs. 2 AHVG
lediglich die Festsetzung der Rückerstattungsforderung betreffen, nicht
aber deren Vollstreckung. In analoger Anwendung von Art. 16 Abs. 2 AHVG ist
nach diesem Urteil für die Vollstreckung einer rechtskräftig festgelegten
Rückerstattungsforderung die dreijährige Frist massgebend. Daran ist
festzuhalten.

Erwägung 3

    3.- a) Das Eidg. Versicherungsgericht hat als Frage des Bundesrechts
frei zu prüfen, ob die Rückerstattungsforderung der Ausgleichskasse
(betreffend zu Unrecht bezogene Ergänzungsleistungen), deren
Erlass am 31. Juli 1985 rechtskräftig abgelehnt wurde, mit der dem
Beschwerdeführer zustehenden Invalidenrente ab 1. Januar 1989 zufolge
Vollstreckungsverjährung oder -verwirkung nicht mehr verrechnet werden
darf, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht wird. Für
die Beantwortung dieser Rechtsfrage ist zunächst zu prüfen, ob die Frist
von drei Jahren nach Art. 16 Abs. 2 AHVG für die Vollstreckung einer
rechtskräftig festgesetzten Rückerstattungsforderung Verjährungs- oder
Verwirkungscharakter hat. Kommt der erwähnten Frist Verjährungscharakter
zu, so ist die Rückerstattungsforderung im vorliegenden Fall nicht
verjährt, weil der Eintritt der Verjährung durch die periodischen
Verrechnungen immer wieder unterbrochen würde. Ist die Vollstreckungsfrist
hingegen als Verwirkungsfrist, deren Lauf - besondere gesetzliche
Bestimmungen vorbehalten - weder gehemmt noch unterbrochen werden kann
(BGE 116 V 229 Erw. 6a mit Hinweisen), zu qualifizieren, muss der
Rückerstattungsanspruch der Ausgleichskasse ab 1. Januar 1989 als
verwirkt gelten, es sei denn, Art. 16 Abs. 2 letzter Satz AHVG käme
ebenfalls analog zur Anwendung, wie dies Ausgleichskasse, Vorinstanz und
Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) annehmen (dazu Erw. 4).

    b) Entgegen dem Randtitel "Verjährung" handelt es sich bei
der dreijährigen Vollstreckungsfrist nach Art. 16 Abs. 2 AHVG um
eine Verwirkungsfrist. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut,
indem die nach Abs. 1 geltend gemachte Beitragsforderung drei Jahre
nach Ablauf des Kalenderjahres, in welchem sie rechtskräftig wurde,
"erlischt". Abgesehen vom bereits erwähnten BGE 105 V 81 Erw. 2c, in
welchem das Eidg. Versicherungsgericht ohne nähere Begründung Verjährung
angenommen hat, wurde die Dreijahresfrist gemäss Art. 16 Abs. 2 AHVG
in ständiger Rechtsprechung als Verwirkungsfrist qualifiziert (BGE 111
V 95, 100 V 155 Erw. 2a, 97 V 146 Erw. 1, EVGE 1955 S. 194; ZAK 1983
S. 387 Erw. 4c; ebenso MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht,
Bd. II, S. 150), und zwar sowohl bei der Vollstreckung einer rechtskräftig
festgelegten Beitragsforderung (ZAK 1982 S. 118 Erw. 3) als auch bei der
Vollstreckung einer rechtskräftig festgelegten Rückerstattungsforderung
(unveröffentlichtes Urteil K. vom 17. August 1989). Es besteht kein
sachlicher Grund, die Vollstreckungsfrist im Sinne von Art. 16 Abs. 2 AHVG
unterschiedlich zu qualifizieren, je nachdem ob sie auf eine Beitrags-
oder aber auf eine Rückerstattungsforderung Anwendung findet. Dazu besteht
umso weniger Anlass, als die dreijährige Frist für die Durchsetzung
der Rückerstattung im Falle eines innert der Ordnungsfrist (gemäss
Art. 79 Abs. 2 AHVV, anwendbar auch im EL- [BGE 110 V 25] und IV-Bereich)
einzureichenden Erlassgesuches erst nach dessen rechtskräftiger Abweisung
zu laufen beginnt, wovon die Rechtsprechung seit je stillschweigend
ausgegangen ist (vgl. ZAK 1988 S. 478; nicht veröffentlichte Urteile
C. vom 1. März 1989 und I. vom 30. Oktober 1989).

Erwägung 4

    4.- a) Im weiteren fragt sich, ob Art. 16 Abs. 2 letzter Satz AHVG auf
die Verrechnung einer rechtskräftig festgelegten Rückerstattungsforderung
ebenfalls analog anwendbar ist, was in BGE 105 V 81 Erw. 2c
offengelassen wurde. Entgegen der Auffassung des BSV hat sich das Eidg.
Versicherungsgericht im unveröffentlichten Urteil R. vom 28. April 1980
damit nicht näher auseinandergesetzt. Der vorliegende Fall bietet Anlass zu
einer grundsätzlichen Prüfung dieser Frage. Dabei sind zunächst Sinn und
Zweck der Ausnahmeregelung gemäss Art. 16 Abs. 2 letzter Satz AHVG - der
Verrechenbarkeit nicht erloschener Beitragsforderungen mit Rentenleistungen
unbesehen der dreijährigen Vollstreckungsverwirkungsfrist - näher zu prüfen
(zur Gesetzesauslegung vgl. BGE 115 V 348 Erw. 1c mit Hinweisen).

    b) Aufschlussreich sind diesbezüglich die Darlegungen des
Bundesrates zur Neuformulierung des Art. 16 Abs. 2 AHVG im Rahmen der
2. AHV-Revision, der in seiner Botschaft vom 5. Mai 1953 ausführte: "Von
der Überlegung ausgehend, dass aus Gründen der Rechtssicherheit und aus
verwaltungstechnischen Erwägungen nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes
in einem bestimmten Schuldverhältnis zwischen AHV und Beitragspflichtigen
Ruhe eintreten soll, haben wir vorgesehen, dass dem Ablauf der Fristen
die Wirkung einer Erlöschung der Forderung oder der Schuld zukommt"
(BBl 1953 II 119). Der Bundesrat erachtete mit der öffentlichrechtlichen
und damit zwingenden Natur des AHV-Rechts einzig eine Verwirkungsfrist
für vereinbar, wobei er sich indessen veranlasst sah, für "besondere
Sachverhalte" Ausnahmebestimmungen vorzusehen. Zum letzten Satz von
Art. 16 Abs. 2 AHVG äusserte er sich dahingehend, "dass bei Entstehung
des Rentenanspruchs nicht erloschene Beitragsforderungen in jedem Fall
gemäss Art. 20 Abs. 3 AHVG (in der heute geltenden Fassung Abs. 2) noch
verrechnet werden können. Beiträge, die der Rentenberechnung zugrunde
gelegt werden, sollen ohne Einschränkung durch Verrechnung bezahlt werden"
(BBl 1953 II 120).

    Das aufgrund der Materialien feststellbare Motiv und damit der vom
Gesetzgeber als sachlich bezeichnete Grund für die Verrechenbarkeit
nicht erloschener Beitragsforderungen mit Rentenleistungen über die
Dreijahresfrist hinaus liegen somit darin, dass rechtskräftig festgelegte,
aber noch nicht bezahlte Beiträge rentenbildend sein können (vgl. BGE 115 V
343 Erw. 2b; EVGE 1961 S. 30 Erw. 2, 1955 S. 34 Erw. 1a). In diesem Sinne
besteht zwischen Beiträgen und Renten ein enger versicherungsrechtlicher
Konnex, welcher hinsichtlich der Verrechnung eine spezielle Regelung
rechtfertigt.

    c) Ist Art. 16 Abs. 2 letzter Satz AHVG somit spezifisch auf das
Verrechnungsverhältnis zwischen Beiträgen und Renten zugeschnitten,
darf er nicht auf die Verrechnung von rechtskräftig festgesetzten
Rückerstattungsforderungen mit laufenden Renten angewendet werden. Hier
werden Leistungen mit Leistungen verrechnet. In diesem Bereich fehlt
es an einem engen versicherungsrechtlichen Konnex zwischen den sich
gegenüberstehenden Forderungen, welcher allein die analoge Anwendung der
besonderen Verrechnungsregelung des Art. 16 Abs. 2 letzter Satz AHVG zu
rechtfertigen vermöchte. Daher verbietet sich eine analoge Anwendung
dieser Sondernorm auf die Vollstreckung rechtskräftig festgelegter
Rückerstattungsforderungen. Denn die Zulässigkeit des Analogieschlusses
setzt "Gleichheit oder zumindest starke Ähnlichkeit zwischen dem
vom Gesetz erfassten und dem zu beurteilenden Tatbestand voraus"
(IMBODEN/RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
Nr. 27 B II mit Hinweis; BGE 115 V 79 Erw. 5a), was hier nicht
zutrifft. Zudem würde, unter dem für die Auslegung ebenfalls erheblichen
Gesichtspunkt des Rechtsgleichheitsgebotes (BGE 114 V 137 Erw. 3b), eine
generelle Verrechnungsmöglichkeit diejenigen Rückerstattungspflichtigen,
welche eine Dauerleistung der Sozialversicherung beziehen, gegenüber den
anderen Rückerstattungspflichtigen, die nicht Empfänger von Dauerleistungen
sind, in einer gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 Abs. 1 BV
verstossenden Weise (vgl. BGE 115 V 233 Erw. 6) benachteiligen. Im
Unterschied zur zweiten Gruppe könnten sich erstere, ohne erkennbaren
sachlichen Grund, der vollstreckungsmässig eine Ungleichbehandlung
rechtfertigte, in keinem Zeitpunkt auf Verwirkung berufen.

    Daraus folgt, dass eine rechtskräftig festgelegte
Rückerstattungsforderung nach drei Jahren - im Falle der Einreichung
eines Erlassgesuches drei Jahre nach dessen rechtskräftiger Abweisung -
verwirkt, und zwar auch dann, wenn die Rückerstattungsforderung mit einer
laufenden Rente verrechnet wird.

Erwägung 5

    5.- Im vorliegenden Fall hat das Eidg. Versicherungsgericht mit Urteil
vom 31. Juli 1985 die Ablehnung des Erlassgesuches bestätigt. Demzufolge
erlosch die Rückerstattungsforderung am 31. Dezember 1988, drei Jahre nach
Ablauf des Kalenderjahres, in welchem der Erlass rechtskräftig abgelehnt
wurde. Damit ist die angefochtene, von der Vorinstanz bestätigte Verfügung
vom 14. Mai 1990 aufzuheben mit der Feststellung, dass ab 1. Januar 1989
die Verrechnung der Rückerstattungsforderung betreffend die zu Unrecht
bezogenen Ergänzungsleistungen mit der laufenden Invalidenrente des
Beschwerdeführers unzulässig ist.