Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 90



117 IV 90

21. Auszug aus dem Urteil der Anklagekammer vom 30. Januar 1991
i.S. D. gegen Juge d'instruction du canton de Vaud, Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich, Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Verhöramt des
Kantons Obwalden Regeste

    Art. 350 und Art. 351 StGB; Art. 264 BStP; Inhalt des Gesuches;
Anerkennung des Gerichtsstandes; Schwergewicht der deliktischen Handlungen.

    1. Anforderungen an die Begründung des Gesuches eines Beschuldigten
(Präzisierung der Rechtsprechung) (E. 2b).

    2. Prüfung durch die Anklagekammer bei anerkanntem Gerichtsstand
(E. 4a).

    3. Einer Anerkennung des Gerichtsstandes entgegenstehende berechtigte
Interessen des Beschuldigten (E. 4b).

    4. Die Frage des Schwergewichts stellt sich, wenn gleichartige bzw.
gleichgelagerte deliktische Handlungen zur Diskussion stehen oder
verschiedene Tatbestände, deren Strafdrohungen sich nicht wesentlich
unterscheiden (E. 4c).

Sachverhalt

    A.- P. D. wurde wegen verschiedener Delikte, die er in Engelberg verübt
hatte, gestützt auf einen Haftbefehl des Verhörrichteramtes Obwalden am
15. Oktober 1990 in Zürich angehalten und wegen Fortsetzungsgefahr in
Stans in Untersuchungshaft genommen. Es wird ihm zur Last gelegt, von
April 1989 bis Juni 1990 in den Kantonen Aargau, Zürich, Bern, Neuenburg,
Obwalden, Waadt, Schaffhausen und St. Gallen, zum Teil zusammen mit (in
wechselnder Besetzung) M. B., D. J., Ch. G. und/oder T. Sch., zahlreiche
Delikte begangen zu haben. Den erwähnten Tatbeteiligten werden insgesamt
119 Delikte zugeschrieben.

    Die Untersuchung wurde bis zur Verhaftung von P. D. in den Kantonen
Waadt, Zürich, Aargau und Obwalden geführt. Die bereits seit einiger Zeit
zwischen den beteiligten Kantonen geführten Gerichtsstandsverhandlungen
führten zu keinem Ergebnis, bis der Untersuchungsrichter des Kantons
Waadt am 28. November 1990 die Zuständigkeit der Behörden dieses Kantons
anerkannte.

    Gestützt auf diese Anerkennung verfügte die Strafkommission des
Kantons Obwalden am 6. Dezember 1990, P. D. sei den Strafbehörden des
Kantons Waadt zu übergeben. Diese Verfügung focht P. D. mit Beschwerde
vom 17. Dezember an.

    Noch bevor die Rechtsmittelfrist abgelaufen war, wurde P. D. auf
Ersuchen der Behörden dieses Kantons in den Kanton Waadt überführt. Dies
veranlasste den Präsidenten der Anklagekammer des Bundesgerichts,
mit Schreiben vom 19. Dezember 1990 die Behörden des Kantons Waadt
ausdrücklich darauf hinzuweisen, dem Verhafteten die erforderliche
medizinische (psychiatrische) Betreuung zukommen zu lassen, welche bereits
im Entscheid der Strafkommission erwähnt werde.

    B.- Mit Gesuch vom 17. Dezember 1990 beantragt P. D., es seien die
Behörden des Kantons Zürich, eventuell jene des Kantons Aargau berechtigt
und verpflichtet zu erklären, die ihm zur Last gelegten strafbaren
Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.

    Der Untersuchungsrichter des Kantons Waadt macht in seiner
Vernehmlassung geltend, die durch ihn erfolgte Anerkennung des
Gerichtsstandes beruhe auf seiner irrtümlichen Annahme, die zwei
Hauptbeteiligten hätten ihre deliktische Tätigkeit im Kanton Waadt
begonnen; dies sei indessen - wie er nun habe feststellen müssen - nicht
der Fall, da den beiden in diesem Kanton lediglich ein am 4. April 1989
aus einem Geldautomaten begangener Diebstahl zur Last gelegt werde. Im
übrigen unterzieht er sich dem Entscheid der Anklagekammer.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt unter anderem, auf
das Gesuch nicht einzutreten oder dieses abzuweisen; eventuell seien die
Behörden des Kantons Zürich, Obwalden oder Aargau (in dieser Reihenfolge)
zuständig zu erklären.

    Die Staatsanwaltschaft Zürich beantragt, den Kanton Aargau zuständig
zu erklären, falls der Untersuchungsrichter des Kantons Waadt nicht bei
seiner Übernahmeerklärung behaftet werden sollte.

    Das Verhöramt Obwalden nahm insbesondere Stellung zu dem in den
Vernehmlassungen erwähnten Tötungsdelikt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Dem Gesuchsteller werden gemäss dem durch die Waadtländer
Behörden erstellten Delikteverzeichnis zahlreiche, an verschiedenen Orten
verübte strafbare Handlungen zur Last gelegt:

    - Kanton Aargau: 17 Delikte (Diebstahl, wovon 16 bandenmässig,
Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, SVG-Delikte);

    - Kanton Bern: 4 Diebstähle;

    - Kanton Neuenburg: 7 bandenmässige Diebstähle (teilweise mit
Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch);

    - Kanton Obwalden: 16 Delikte (10 Diebstähle, meist mit
Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch, 6 SVG-Delikte, zum Teil mit
Sachbeschädigung);

    - Kanton Waadt: 1 Diebstahl (bandenmässig) und Sachbeschädigung;

    - Kanton Schaffhausen: 2 Delikte (Diebstahl und Erschleichen einer
Leistung);

    - Kanton St. Gallen: 1 Diebstahl;

    - Kanton Zürich: 61 Delikte (49 Diebstähle, meist mit Sachbeschädigung
und Hausfriedensbruch, Hehlerei, 8 SVG-Delikte, 4 Betäubungsmitteldelikte);

    - Kantone Aargau/Zürich: 2 Betäubungsmitteldelikte;

    - Kantone Zürich/Schaffhausen: 3 Delikte (Erschleichen einer Leistung).

    b) Um das Verfahren im Interesse des Gesuchstellers nicht noch
weiter zu verlängern, ist der Gerichtsstand ohne Verzug in einem
der dafür überhaupt in Frage kommenden Kantone zu bestimmen, was beim
Kanton Waadt nicht der Fall ist (E. 4b); es ist deshalb vom vorliegenden
Delikteverzeichnis auszugehen, welches nicht grundsätzlich angefochten
wird. Dass die Deliktsbeträge und Sachschäden darin nicht enthalten sind,
ist für den vorliegenden Entscheid ohne Bedeutung, lässt sich doch die
Frage des Gerichtsstandes unabhängig davon entscheiden.

    c) Mit Erklärung vom 28. November 1990 anerkannte der
Untersuchungsrichter des Kantons Waadt gegenüber den Kantonen Zürich und
Aargau (mit Mitteilung an die Untersuchungsrichter von Schaffhausen und
Obwalden) die Zuständigkeit der Behörden dieses Kantons.

Erwägung 2

    2.- a) Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt, auf das
Gesuch nicht einzutreten, weil dieses den Begründungsanforderungen nicht
zu genügen vermöge.

    b) Die Anforderungen an die Begründung des Gesuches um Bestimmung
des Gerichtsstandes sind insbesondere in Fällen mit umfangreichen Akten
hoch anzusetzen (BGE 116 IV 175). Diese Anforderungen gelten in erster
Linie für die Behörden der am Verfahren beteiligten Kantone. Stellt
indessen - wie hier - ein Beschuldigter das Gesuch, so können nicht
dieselben Anforderungen gestellt werden, da der Beschuldigte sich in
der Regel nicht auf Gerichtsstandsverhandlungen zwischen den Kantonen
stützen kann und schon deshalb über weniger Angaben verfügt. Was der
Gesuchsteller im Gesuch vorbringt, genügt im vorliegenden Fall zusammen
mit den eingereichten Vernehmlassungen und Akten, um den Gerichtsstand
zu bestimmen. Auf das Gesuch ist daher einzutreten.

Erwägung 3

    3.- Wird jemand wegen mehrerer, an verschiedenen Orten verübter
strafbarer Handlungen verfolgt, so sind gemäss Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1
StGB die Behörden des Ortes, wo die mit der schwersten Strafe bedrohte
Tat verübt wurde, auch für die Verfolgung und Beurteilung der übrigen
Taten zuständig.

    a) Wie sich aus der Vernehmlassung des Verhöramtes Obwalden vom
21. Januar 1991 ergibt, wurde der Gesuchsteller im Zusammenhang mit dem
am 13./14. August 1990 in X. erfolgten Tötungsdelikt lediglich befragt,
weil er zu jener Zeit als Kochgehilfe im Hotel A. beschäftigt war; er
sei wie alle Gäste und das Personal der beiden Hotels B. und A. befragt
worden; er sei indessen nie dieser Tat verdächtigt worden und einzig
wegen der übrigen Delikte später zur Verhaftung ausgeschrieben worden; die
Ermittlungen betreffend das Tötungsdelikt richteten sich gegen eine andere
Person aus dem Hotel B., welche bereits zur Verhaftung ausgeschrieben sei.

    Es besteht kein Anlass, auch ohne eingehende Einsicht in die Akten,
an diesen Angaben zu zweifeln; das fragliche Delikt ist deshalb für die
Bestimmung des Gerichtsstandes im vorliegenden Fall ohne Bedeutung.

    b) Der Gesuchsteller beging, meist zusammen mit M. B., allein in der
Zeit vom 2. bis 6. April 1989 im Kanton Aargau 14 Diebstähle, wobei in
fünf Fällen noch Ch. G. beteiligt war.

    Diese strafbaren Handlungen sind als bandenmässige Diebstähle und
damit als schwerste, dem Gesuchsteller zur Last gelegte Straftaten zu
qualifizieren. Damit kann offenbleiben, ob auch gewerbsmässige Begehung
vorliegt, da Art. 137 Ziff. 1bis StGB eine geringere Mindeststrafe
androht. Der gesetzliche Gerichtsstand ist somit der Kanton Aargau.

    c) Auch wenn die dem Gesuchsteller zur Last gelegten Straftaten
als Kollektivdelikt betrachtet werden, indem die bandenmässigen und
nicht bandenmässigen Delikte eine deliktische Einheit bilden und somit
als mit der gleichen Strafe bedroht zu gelten haben (vgl. SCHWERI,
Gerichtsstandsbestimmung, N 83 f. und N 269; vgl. auch BGE 86 IV 63 E. 2
betreffend gewerbsmässigen Betrug), wäre der Gerichtsstand gemäss Art. 350
Ziff. 1 Abs. 2 StGB der Kanton Aargau, da dort die Untersuchung bezüglich
dieser Delikte zuerst angehoben wurde.

Erwägung 4

    4.- Der Gesuchsteller räumt selber ein, diese verschiedenen
bandenmässigen Diebstähle verübt zu haben, weshalb gemäss Art. 350 Ziff. 1
StGB die Zuständigkeit des Kantons Aargau gegeben sei. Er ist indessen der
Auffassung, das Schwergewicht der Delikte liege im Kanton Zürich, wo er
mindestens 63 Straftaten verübt habe; es lägen daher wichtige Gründe vor,
um ausnahmsweise vom gesetzlichen Gerichtsstand abzuweichen.

    a) Ein in Abweichung vom gesetzlichen Gerichtsstand durch Vereinbarung
(bzw. Anerkennung) der Kantone bestimmter Gerichtsstand kann durch
den Beschuldigten nur dann mit Erfolg angefochten werden, wenn eine
Ermessensüberschreitung und damit eine Rechtsverletzung vorliegt (SCHWERI,
aaO, N 410). Dies ist dann der Fall, wenn die Abweichung nicht auf
triftigen Gründen (Prozessökonomie; Versehen der beteiligten Behörden;
Wahrung neu ins Gewicht fallender Interessen; veränderte Verhältnisse)
beruht (vgl. BGE 107 IV 159 E. 1 mit Hinweis; 98 IV 208 E. 2 mit
Hinweisen).

    b) Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, besteht doch offensichtlich
kein Anknüpfungspunkt, welcher die Zuständigkeit der Behörden des Kantons
Waadt zu rechtfertigen vermag: Im Kanton Waadt liegt weder der gesetzliche
Gerichtsstand, noch ist in bezug auf diesen Kanton ein triftiger Grund
ersichtlich, der ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand rechtfertigen
könnte. Die Anerkennung des Gerichtsstandes durch den Instruktionsrichter
des Kantons Waadt beruht vielmehr offenkundig auf einem Versehen, dessen
Ursachen hier nicht zu untersuchen sind.

    Die Behörden des Kantons Waadt auf dieser versehentlich erfolgten
Anerkennung zu behaften, widerliefe den berechtigten Interessen des
Beschuldigten, welcher in Zürich seinen Lebensmittelpunkt hat und -
wobei diesem Gesichtspunkt keine bestimmende Bedeutung zukommt - zwar
nicht mehr Jugendlicher im Sinne von Art. 372 StGB, aber doch noch
jugendlichen Alters ist. Aufgrund seiner Deutschsprachigkeit könnte
sich der Gesuchsteller nicht in seiner Muttersprache verständigen. Für
die Behörden aber müssten unter Umständen die Ergebnisse der in ihrer
überwiegenden Mehrzahl in der deutschsprachigen Schweiz zu führenden
Ermittlungen übersetzt werden, was prozessökonomisch kaum vertretbar
ist. An diesem Gerichtsstand kann deshalb nicht festgehalten werden.

    c) Es ist somit weiter zu prüfen, ob das Schwergewicht der deliktischen
Tätigkeit ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand im Sinne der
Anträge des Gesuchstellers zu rechtfertigen vermag.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich hält diesem Argument
entgegen, das Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit komme nur dann zum
Tragen, wenn Tatbestände mit gleich hoher Strafdrohung gegeben seien,
was hier nicht der Fall sei, da im Kanton Zürich kein bandenmässiges
Handeln vorliege.

    Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Die Frage nach dem
Schwergewicht kann sich immer dann stellen, wenn gleichartige (vgl. BGE
86 IV 64) bzw. gleich gelagerte (SCHWERI, aaO, N 422) deliktische
Handlungen zur Diskussion stehen. Diebstahl und bandenmässiger Diebstahl
sind in diesem Sinn ohne weiteres als gleichartig oder gleich gelagert
zu betrachten, denn die Rechtsprechung nimmt solche Gleichartigkeit
an bei Handlungen, die teils einer leichteren, teils einer schwereren
Form desselben Verbrechens oder Vergehens angehören (BGE 91 IV 66;
vgl. auch TRECHSEL, Kurzkommentar StGB, Art. 68 N 5, Art. 148 N 35). Auf
das Schwergewicht kann sogar dann abgestellt werden, wenn verschiedene
Tatbestände in Frage stehen, deren Strafdrohung sich indessen nicht
wesentlich unterscheidet (BGE 72 IV 41 E. 2); dies ist hier der Fall,
unterscheiden sich doch der bandenmässige und der gewerbsmässige Diebstahl
(der im Kanton Zürich zumindest nicht auszuschliessen ist) lediglich in
der Mindeststrafdrohung um drei Monate.

    d) Nach dem Delikteverzeichnis verübte der Gesuchsteller den im
Vergleich zu den anderen Kantonen weitaus grössten Teil der ihm bzw. auch
ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen im Kanton Zürich, während auf
die übrigen Kantone jeweils höchstens 19 (Aargau), 4 (Bern), 7 (Neuenburg),
16 (Obwalden), 1 (Waadt), 2 (Schaffhausen) und 1 (St. Gallen) Delikt(e)
entfallen.

    Unter diesen Umständen ist offensichtlich ein überwiegendes
Schwergewicht der deliktischen Tätigkeit im Kanton Zürich gegeben, was
ein Abweichen vom gesetzlichen Gerichtsstand rechtfertigt.