Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 78



117 IV 78

18. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 10. April 1991 i.S. K.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 87 AHVG i.V.m. Art. 25 EOG und Art. 70 IVG; Zweckentfremdung
von Arbeitnehmerbeiträgen.

    1. Eine Bestrafung nach Art. 87 Abs. 3 AHVG setzt keinen ausdrücklichen
Hinweis auf die Strafbarkeit der Nichtablieferung nach unbenütztem Ablauf
der Mahnfrist voraus (E. 1).

    2. Eine Zweckentfremdung von Arbeitnehmerbeiträgen liegt nur dann vor,
wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Lohnauszahlung die erforderlichen
(vorhandenen) Mittel oder ein diesen entsprechendes Substrat so für andere
Zwecke als die Zahlung an die Ausgleichskasse verwendet, dass nicht davon
ausgegangen werden kann, er werde seiner Zahlungspflicht im letztmöglichen
Zeitpunkt nachkommen können (Änderung der Rechtsprechung, E. 2).

Sachverhalt

    A.- K. erstellte in der Zeit von November 1983 bis Juni 1984 in seiner
Eigenschaft als Verwaltungsratspräsident der X. AG (die am 2. März 1984
in die Y. AG umgewandelt wurde) die Lohnabrechnungen in eigener Regie und
zog dabei unter anderem die Arbeitnehmerbeiträge der AHV vom Bruttolohn ab,
ohne diese vollumfänglich an die zuständige Ausgleichskasse weiterzuleiten,
obwohl ihm Fr. 45'552.-- liquide Mittel zur Verfügung gestanden hatten.

    Das Kantonsgericht des Kantons Schwyz verurteilte K. gestützt
auf diesen Sachverhalt am 18. Januar 1990 in zweiter Instanz wegen
Zweckentfremdung von Arbeitnehmerbeiträgen im Sinne von Art. 87 AHVG
i.V.m. Art. 25 EOG und Art. 70 IVG zu einer Busse von Fr. 500.--.

    B.- Gegen dieses Urteil wendet sich K. mit eidgenössischer
Nichtigkeitsbeschwerde, in welcher er beantragt, das Urteil des
Kantonsgerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung, eventuell
Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    C.- Das Kantonsgericht hat Gegenbemerkungen eingereicht, zu welchen K.
unaufgefordert Stellung nahm.

    Die Staatsanwaltschaft hat keine Vernehmlassung eingereicht.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 87 Abs. 3 AHVG (SR 831.10) wird mit Gefängnis bis
zu sechs Monaten oder mit Busse bis zu Fr. 20'000.-- bestraft, wer als
Arbeitgeber einem Arbeitnehmer Beiträge vom Lohn abzieht, sie indessen
dem vorgesehenen Zweck entfremdet.

    b) Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, den Arbeitnehmern von ihrem
Lohn abgezogene Beiträge nicht im erforderlichen Umfang der Ausgleichskasse
zugeführt zu haben; er macht jedoch geltend, er könnte nur bestraft werden,
wenn er im Rahmen eines ordnungsgemässen Mahnverfahrens auch auf die
Strafbarkeit der Nichtablieferung von Arbeitnehmerbeiträgen hingewiesen
worden wäre.

    c) Gemäss Art. 37 Abs. 2 AHVV ist mit der Mahnung auf die Folgen der
Missachtung der Mahnung hinzuweisen. Der Beschwerdeführer leitet daraus
ab, zu einem ordnungsgemässen Mahnverfahren gehöre auch der ausdrückliche
Hinweis auf die strafrechtlichen Folgen im Falle des unbenützten Ablaufs
der Mahnfrist. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist ein solcher
Hinweis in diesem Zusammenhang nicht erforderlich (unveröffentlichter
Entscheid vom 3. Dezember 1985 i.S. W., E. 2; vgl. Hinweis auf diesen
Entscheid in ZAK 1986, S. 427 f.). Eine Hinweispflicht als Voraussetzung
für die strafrechtliche Verantwortlichkeit kommt vielmehr nur in Betracht,
wenn das Gesetz oder gegebenenfalls die Verordnung ausdrücklich einen
solchen Hinweis verlangt, wie dies etwa in Art. 292 StGB der Fall ist.
Aus der AHV-Gesetzgebung ergibt sich keine derartige Hinweispflicht. Der
Einwand des Beschwerdeführers erweist sich deshalb als unbegründet.

Erwägung 2

    2.- a) Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung erfüllt der Arbeitgeber
Art. 87 Abs. 3 AHVG in objektiver Hinsicht, wenn er die tatsächlich
vom Lohn abgezogenen Arbeitnehmerbeiträge nicht spätestens innert der
angesetzten Mahnfrist an die Ausgleichskasse überweist, wobei unerheblich
ist, dass dem Arbeitgeber die dazu erforderlichen Mittel fehlten und diese
ihm auch nicht von Dritten zur Verfügung gestellt wurden (BGE 107 IV 205
mit Hinweis).

    Zu diesem Urteil warf SCHULTZ die Frage auf, wie sich ein Arbeitgeber
nach bundesgerichtlicher Auffassung denn verhalten solle, wenn er wirklich
nicht in der Lage sei, mehr als die den Arbeitnehmern geschuldeten
Nettolöhne zu bezahlen (ZBJV 1982, S. 560).

    b) Soweit BGE 107 IV 205 ff. die Möglichkeit des Arbeitgebers, seiner
Zahlungspflicht nachzukommen, als unerheblich erachtet, kann an dieser
Rechtsprechung nicht festgehalten werden. Falls Art. 87 Abs. 3 AHVG -
wovon der erwähnte Entscheid auszugehen scheint - die Nicht-Erfüllung
einer Zahlungspflicht innert der angesetzten Mahnfrist sanktionierte,
würde dies nach den allgemeinen Regeln des Unterlassungsdeliktes
voraussetzen, dass der Arbeitgeber überhaupt die Möglichkeit hatte,
seiner Pflicht nachzukommen (NOLL/TRECHSEL, Schweizerisches Strafrecht,
Allg. Teil I, 3. Aufl., S. 208; HAUSER/REHBERG, Strafrecht I, 4. Aufl.,
S. 183; STRATENWERTH, Allg. Teil I, S. 386; SCHULTZ, Allg. Teil I,
4. Aufl., S. 141; BGE 116 IV 389 E. 2e betreffend Nichtbezahlen der
Militärpflichtersatzabgabe); daran fehlt es, wenn der Arbeitgeber zu
diesem Zeitpunkt über die Mittel zur Bezahlung der Arbeitnehmerbeiträge
nicht verfügte.

    c) Es erscheint indessen fraglich, ob BGE 107 IV 205 ff. bei der
Auslegung von Art. 87 Abs. 3 AHVG von einem zutreffenden Ansatz ausgegangen
ist. Denn das Gesetz umschreibt die Tathandlung nicht als Unterlassen
der Zahlung der Arbeitnehmerbeiträge spätestens innert der angesetzten
Mahnfrist, sondern verwendet die Formulierung: Wer als Arbeitgeber einem
Arbeitnehmer Beiträge vom Lohn abzieht, "sie indessen dem vorgesehenen
Zwecke entfremdet".

    d) Die Arbeitnehmerbeiträge sind erst fällig nach Ablauf der
Zahlungsperiode von in der Regel einem Monat (Art. 34 Abs. 1 und Abs. 4
AHVV); darüber hinaus steht dem Arbeitgeber eine zehntägige Zahlungsfrist
zu; kommt er dieser nicht nach, so ist ihm im Mahnverfahren eine Nachfrist
zu setzen, die spätestens zwei Monate nach Ablauf der Zahlungsperiode
abläuft (Art. 37 Abs. 3 AHVV). Es stellt sich deshalb die Frage, in
welchem Zeitpunkt der Arbeitgeber über die nötigen Mittel zur Bezahlung
der Arbeitnehmerbeiträge verfügen muss.

    aa) Auszugehen ist vom Wortlaut von Art. 87 Abs. 3 AHVG. Dieser setzt
voraus, dass der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer Beiträge vom Lohn abgezogen
hat; denn nur diese tatsächlich abgezogenen Beiträge ("sie") können nach
dem Wortlaut überhaupt zweckentfremdet werden. Der Tatbestand kann daher
von vornherein nur erfüllt werden, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt
der Lohnauszahlung an die Arbeitnehmer die erforderlichen Mittel oder
ein diesen entsprechendes Substrat besitzt, das er nach Auszahlung der
Löhne der Ausgleichskasse zur Verfügung halten könnte.

    bb) Die blosse Nichtbezahlung an die Ausgleichskasse ist daher
keine Zweckentfremdung im Sinne von Art. 87 Abs. 3 AHVG, solange ein
Substrat beim Arbeitgeber vorhanden ist und die entsprechenden Mittel
auch jederzeit überwiesen werden könnten. Denn wie die nicht rechtzeitige
Ablieferung einer anvertrauten Geldsumme keine Veruntreuung darstellt
(SCHUBARTH, Kommentar StGB, Art. 140 N 47), die Tathandlung vielmehr in der
Vereitelung des obligatorischen Anspruchs des Treugebers liegt (REHBERG,
Strafrecht III, S. 61; STRATENWERTH, Bes. Teil I, S. 191; SCHULTZ, ZBJV
1973, S. 417; NOLL, Bes. Teil, S. 154; SCHUBARTH, aaO, Art. 140 N 47),
kann nicht von einer Zweckentfremdung gesprochen werden, wenn lediglich
nicht oder nicht rechtzeitig bezahlt wird. Eine Zweckentfremdung im Sinne
von Art. 87 Abs. 3 AHVG liegt daher - entgegen BGE 107 IV 205 ff. und 80
IV 184 ff. - nur dann vor, wenn der Arbeitgeber die erforderlichen Mittel
oder das Substrat für andere Zwecke verwendet.

    Allerdings findet sich in der Art. 87 Abs. 3 AHVG entsprechenden
Strafnorm von Art. 76 Abs. 3 BVG (SR 831.40) die abweichende Formulierung:
"Wer als Arbeitgeber einem Arbeitnehmer Beiträge vom Lohn abzieht und diese
nicht an die zuständige Vorsorgeeinrichtung überweist." Es wird angenommen,
diese Bestimmung des BVG vom 25. Juni 1982 sei der Parallelbestimmung des
älteren AHVG nachgebildet (HANS-MICHAEL RIEMER, Die Strafbestimmungen über
die berufliche Vorsorge (Art. 75-79 BVG), Gedächtnisschrift für Peter Noll,
Zürich 1984, S. 268 und 272 Fussnote 22; vgl. auch Botschaft BBl 1976 I
271: "Bei der Ausarbeitung der Strafbestimmungen wurde darauf geachtet,
dass sie im Einklang mit denjenigen des AHVG stehen."). Hingegen verwendet
Art. 112 Abs. 2 des UVG vom 20. März 1981 (SR 832.20) wieder die gleiche
Formulierung wie Art. 87 Abs. 3 AHVG. Aus Art. 76 Abs. 3 BVG lässt sich
deshalb nichts gegen die vorstehend entwickelte Lösung ableiten. Da der
Beschwerdeführer im übrigen nicht nach dieser Bestimmung bestraft wurde,
kann offenbleiben, wie sie in diesem Punkte auszulegen wäre.

    cc) Grundgedanke von Art. 87 Abs. 3 AHVG ist eine
Substraterhaltungspflicht. Da es sich jedoch nicht um einen eigentlichen
Veruntreuungstatbestand handelt, sondern der Zeitpunkt des Lohnabzugs
und der Zeitpunkt der Zahlungspflicht auseinanderfallen, muss es dem
Arbeitgeber erlaubt sein, mit dem Substrat so zu wirtschaften, dass bei
objektiver Betrachtungsweise davon ausgegangen werden kann, dass er seiner
Zahlungspflicht im letztmöglichen Zeitpunkt werde nachkommen können; denn
die Erfüllung der Zahlungspflicht ist ja auch dann noch möglich, wenn man
annehmen darf, bei vernünftigem Wirtschaften würden auf diesen Zeitpunkt
die dafür erforderlichen Kredite gewährt. (Auch ohne diese Einschränkung
des objektiven Tatbestandes würde die Strafbarkeit in diesem Fall in der
Regel wohl mangels Vorsatz entfallen.)

    dd) Das Vorhandensein eines Substrates kann dann angenommen werden,
wenn der Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Lohnauszahlung gestützt auf
vorhandene Vermögenswerte die nötigen Kredite für die Bezahlung der
Arbeitnehmerbeiträge erhältlich machen könnte. Eine Zweckentfremdung
kann somit auch in der nachträglichen Verunmöglichung der Krediterlangung
liegen; so etwa dann, wenn bis zum letztmöglichen Zahlungszeitpunkt Kredite
für andere Zwecke aufgenommen und verbraucht werden, ohne dass man bei
objektiver Betrachtungsweise davon ausgehen konnte, bis zum letztmöglichen
Zahlungszeitpunkt würden neue Kredite in Höhe des Substrates gewährt.

    e) Die Vorinstanz stellt für das Bundesgericht verbindlich fest,
per Ende Juni 1984 seien liquide Mittel in Höhe von Fr. 45'552.--
vorhanden gewesen; weder im September noch im Dezember 1984 seien die
Beitragszahlungen erfolgt; nach der Konkurseröffnung am 11. Februar 1985
hätten die Arbeitnehmerprämien für die Zeit ab Januar 1984 abgeschrieben
werden müssen.

    Daraus ergibt sich, dass der Beschwerdeführer jedenfalls per Ende Juni
1984 über die Mittel zur Bezahlung der in der Zeit von Januar-Juni 1984
abgezogenen Arbeitnehmerbeiträge verfügte. Indem er die entsprechenden
Beträge nicht an die Ausgleichskasse weiterleitete, sondern anderweitig
darüber verfügte, erfüllte er den Tatbestand jedenfalls in bezug auf
die Arbeitnehmerbeiträge der Monate Januar-Juni; denn entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers kommt es nicht darauf an, ob er zum
Zeitpunkt der massgeblichen Mahnungen (28. September und 11. Dezember)
über die entsprechenden Mittel verfügte.

    Fragen kann man sich einzig, ob, wie der Beschwerdeführer offenbar
geltend machen will, die Pflicht zur Substraterhaltung unter bestimmten
Umständen zurückzutreten hat hinter der Pflicht, in einer Notsituation
alles zur Erhaltung eines Betriebes Notwendige vorzukehren. Die Vorinstanz
hält dem Einwand des Beschwerdeführers, er habe jene Gläubiger bezahlt,
die zur Aufrechterhaltung des Betriebes hätten bezahlt werden müssen,
entgegen, er habe die Ausgabenprioritäten falsch gesetzt. Dass und
weshalb sie insoweit Bundesrecht falsch angewendet hätte, wird in der
Beschwerdeschrift nicht substantiiert dargelegt und ist aufgrund des
vorliegenden Sachverhaltes auch nicht ersichtlich. Die Frage, ob und
gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber zur Erhaltung
des Betriebes auf das Substrat der Arbeitnehmerbeiträge greifen darf oder
ein solches Verhalten zumindest unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit
normgemässen Verhaltens entschuldigt erscheint, braucht deshalb hier
nicht weiter vertieft zu werden.