Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 498



117 IV 498

87. Urteil des Kassationshofs vom 22. November 1991 i.S. Z. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 36 Abs. 2 SVG, Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV; Rechtsvortritt auf
Strassenverzweigungen.

    Die Kreuzung, Gabelung oder Einmündung von Garage- und
Parkplatzausfahrten usw. bilden im Verhältnis untereinander Verzweigungen,
auf denen das von rechts kommende Fahrzeug den Vortritt hat (E. 3-5).

    Art. 36 Abs. 4 SVG; Vortrittsrecht.

    Der Rückwärtsfahrer ist auf Verzweigungen vortrittsbelastet;
offengelassen, ob dies auch gegenüber Fahrzeugen gilt, die eine
untergeordnete Verkehrsfläche befahren (E. 6).

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 2. November 1990 sprach das Obergericht des Kantons
Aargau Z. in zweiter Instanz des Missachtens des Vortrittsrechts schuldig
und verurteilte ihn gestützt auf Art. 90 Abs. 1 SVG in Verbindung mit
Art. 14 Abs. 5 VRV zu einer Busse von Fr. 50.--. Von der Anklage der
Verletzung der Art. 36 Abs. 4 SVG und 15 Abs. 3 VRV sprach es ihn frei.

    Dagegen führt der Verurteilte eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zu
seiner Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau hat auf Gegenbemerkungen
verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz (Art. 277bis Abs. 1 BStP) stellt sich der Sachverhalt wie
folgt dar: Der Beschwerdeführer fuhr am 14. Oktober 1989 mit seinem
Personenwagen Toyota Corolla auf dem Areal A. in B. aus der Ausfahrt der
Tiefgarage in Richtung Gemeindehaus. Gleichzeitig fuhr I. mit seinem
Personenwagen Toyota Supra rückwärts vom Parkplatz der Liegenschaft
Hauptstrasse 26 her ebenfalls in Richtung Gemeindehaus. Als sich der
Beschwerdeführer bereits im Rechtsbogen zum Gemeindehaus befand, nahte
von links der rückwärtsfahrende Personenwagen des I., so dass es zu einer
leichten Kollision kam, wobei der Personenwagen des I. mit der linken,
hinteren Fahrzeugecke seitlich gegen den linken, vorderen Kotflügel des
Personenwagens des Beschwerdeführers stiess.

    Die kantonalen Instanzen kamen zum Schluss, der Unfallort stelle eine
Garageausfahrt dar, welche in eine Parkplatzzufahrt einmünde, so dass
weder Art. 36 Abs. 4 SVG noch Art. 36 Abs. 2 SVG oder Art. 15 Abs. 3
VRV Anwendung finden könnten. Wie sich aus der Bestimmung von Art. 1
Abs. 8 Satz 2 VRV ergebe, fehle es auch an den Voraussetzungen einer
Strassenverzweigung. Es handle sich um einen Fall des nicht geregelten
Vortritts nach Art. 14 Abs. 5 VRV, bei welchem die Fahrzeuglenker
besonders vorsichtig fahren und sich über den Vortritt verständigen
müssten. Diesen Vorsichtspflichten sei der Beschwerdeführer nicht
nachgekommen, insbesondere habe er keinen Blick nach links geworfen.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer räumt ein, dass die Garage- und
Parkplatzausfahrt Verkehrsflächen darstellten, deren Zusammentreffen
mit der Fahrbahn gemäss Art. 1 Abs. 8 VRV nicht als Verzweigung
gelten würde. Er stellt sich aber auf den Standpunkt, die in der
genannten Bestimmung aufgeführten Verkehrsflächen bildeten im Verhältnis
untereinander Strassenverzweigungen, wenn sie zusammenträfen und Fahrbahnen
im Sinne von Art. 1 Abs. 4 VRV aufwiesen. Da beide Verkehrsflächen dem
Fahrverkehr dienten, sei eine Fahrbahn zu bejahen. Bei dieser Sachlage
liege eine Verzweigung im Sinne von Art. 1 Abs. 8 Satz 1 VRV vor, so dass
Art. 36 Abs. 1 Satz 1 SVG zur Anwendung gelange, während Art. 14 Abs. 5
VRV nicht anwendbar sei. Im Eventualstandpunkt macht der Beschwerdeführer
geltend, dass er die Bestimmung von Art. 14 Abs. 5 VRV - selbst wenn sie
anwendbar sein sollte - nicht verletzt habe, weil im zu beurteilenden
Fall wegen der Rückwärtsfahrt des Unfallbeteiligten I. eine Verständigung
über den Vortritt gar nicht möglich gewesen sei. Es habe ungeachtet seines
eigenen Verhaltens allein aufgrund der Rückwärtsfahrt von I. zur Kollision
kommen müssen. Die Vorinstanz sei somit von einem bundesrechtswidrigen
Begriff des natürlichen Kausalzusammenhanges ausgegangen.

Erwägung 3

    3.- Auf Strassenverzweigungen hat gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG
grundsätzlich das von rechts kommende Fahrzeug den Vortritt. Strassen sind
die von Motorfahrzeugen, motorlosen Fahrzeugen oder Fussgängern benützten
Verkehrsflächen, wobei der dem Fahrverkehr dienende Teil als Fahrbahn
bezeichnet wird (Art. 1 Abs. 1 und 4 VRV). Verzweigungen sind Kreuzungen,
Gabelungen oder Einmündungen von Fahrbahnen (Art. 1 Abs. 8 Satz 1 VRV). Aus
dieser Begriffsumschreibung folgt, dass die Rechtsvortrittsregel von
Art. 36 Abs. 2 SVG dem Grundsatze nach immer gilt, wenn Fahrbahnen in
Form von Kreuzungen, Gabelungen oder Einmündungen aufeinandertreffen
bzw. sich schneiden.

    Von dieser Regel sehen Gesetz und Verordnung Ausnahmen vor. So haben
nach Art. 36 Abs. 2 SVG Fahrzeuge auf gekennzeichneten Hauptstrassen
den Vortritt, auch wenn sie von links kommen, wobei weitere abweichende
Regelungen durch Signale oder durch die Polizei vorbehalten bleiben. Ferner
gilt gemäss Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV das Zusammentreffen von Rad- oder
Feldwegen, von Garage-, Parkplatz-, Fabrik- oder Hofausfahrten usw. mit
der Fahrbahn nicht als Verzweigung. In Übereinstimmung hiermit hat nach
Art. 15 Abs. 3 VRV, wer aus Fabrik-, Hof- oder Garageausfahrten, aus
Feldwegen, Radwegen, Parkplätzen, Tankstellen und dergleichen oder über
ein Trottoir auf eine Haupt- oder Nebenstrasse fährt, den Benützern dieser
Strassen den Vortritt zu gewähren. Für zwei hier nicht interessierende
Sonderfälle sich verzweigender Strassen enthalten die Abs. 1 und 2 von
Art. 15 VRV eine besondere Vortrittsregelung.

Erwägung 4

    4.- a) Ausnahmen von der Rechtsvortrittsregel, wie sie Art. 1
Abs. 8 Satz 2 VRV vorsieht, sind unfallträchtig. Im Interesse der
Verkehrssicherheit müssen sie daher auf Fälle beschränkt werden, die auch
ohne Signalisierung für die Beteiligten, selbst für Ortsunkundige und bei
erschwerten Sichtverhältnissen, zweifelsfrei erkennbar sind. Im Zweifel
ist stets für die normale Ordnung, nicht für die Ausnahme zu entscheiden
(BGE 107 IV 49 E. 3a).

    Der Kassationshof hat objektive Kriterien dafür aufgestellt, wann
eine derartige Ausnahmesituation anzunehmen ist. In erster Linie handelt
es sich um die in Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV ausdrücklich erwähnten
Beispiele. Dazu gehören namentlich Ausfahrten, die nur einzelnen
Gebäuden oder Parkplätzen usw. dienen, unabhängig von ihrem Ausbau,
also auch breite asphaltierte Verkehrsflächen und bei Längen um ca. 100
m (BGE 107 IV 49 E. 3b mit Hinweis auf 99 IV 222). Ferner liegt eine
Ausnahmesituation bei eigentlichen Feldwegen vor, die schmal sind und
keinen Belag aufweisen. Für Fälle, in denen eine Klassierung unter die
in Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV genannten Beispiele nicht eindeutig ist,
hat der Kassationshof zusätzlich auf die Bedeutung des Verkehrsweges
abgestellt, die dieser für den allgemeinen Fahrverkehr hat, insbesondere
im Vergleich mit der Strasse, mit der er zusammentrifft. Er hat dabei
erkannt, dass Strässchen, die nur bestimmten Personen offenstehen oder als
Stichstrassen bzw. Sackgassen wenige Häuser bedienen, bei der Einmündung
in Durchgangsstrassen eine derart untergeordnete Bedeutung zukomme,
dass auch dort die Rechtsvortrittsregel nicht gelte (BGE 112 IV 88;
ferner BGE 91 IV 41 und 146).

    b) Im Fall eines zu einem Einkaufszentrum gehörenden Parkplatzes,
bei dem drei Fahrbahnen zur Einfahrt und eine zur Wegfahrt dienten,
die alle mit Pfeilen als Einbahnwege gekennzeichnet waren, hat der
Kassationshof erkannt, dass nicht nur die eigentlichen Parkfelder,
sondern auch die zwischen den Parkfeldern liegenden Fahrstreifen als
untergeordnete Verkehrsflächen von Art. 15 Abs. 3 VRV umfasst würden (BGE
100 IV 62 E. 3). Demgegenüber hat er die der Ein- und Ausfahrt dienenden
Fahrstreifen, die keine direkte Zufahrt zu den Parkfeldern boten, im
Verhältnis zu den zwischen den Parkfeldern liegenden Fahrstreifen den
Strassen gleichgestellt. Daraus folgte, dass dem aus einem Parkfeld
kommenden und in die Fahrbahn der Ein- und Wegfahrten einbiegenden
Fahrzeugführer gemäss Art. 15 Abs. 3 VRV und der allgemeinen Regel
von Art. 36 Abs. 4 SVG das Vortrittsrecht nicht zustand (BGE 100 IV 62
E. 4; ebenso unveröffentlichter Entscheid des Kassationshofs vom 10.
Oktober 1974 i.S. Z., SJZ 1975 S. 266 Nr. 117 a.E.).

Erwägung 5

    5.- a) Der Verkehrsweg, den der Fahrzeuglenker I. benützte,
dient allein als Zufahrt zu den Parkplätzen einer Liegenschaft und ist
maximal 30 Meter lang, so dass auf dieser Strecke kein Verkehr aufkommen
kann. Dasselbe gilt für die Garageausfahrt, die der Beschwerdeführer
befuhr. Beide Verkehrswege sind daher als Parkplatz- beziehungsweise
Garageausfahrten im Sinne von Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV zu betrachten. Eine
unterschiedliche verkehrsmässige Bedeutung der beiden Ausfahrten ist nicht
ersichtlich und wird von der Vorinstanz jedenfalls nicht festgestellt.

    b) Nach der allgemeinen Regel von Art. 36 Abs. 2 SVG hat auf
Strassenverzweigungen das von rechts kommende Fahrzeug den Vortritt. Diese
Rechtsvortrittsregel gelangt entgegen der Auffassung der Vorinstanz auch
zur Anwendung, wenn sich zwei Verkehrsflächen von untergeordneter Bedeutung
kreuzen oder gabeln, beziehungsweise die eine in die andere einmündet (vgl.
SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band
I, S. 245 N 664 mit weiteren Hinweisen). Die Bestimmung von Art. 1 Abs. 8
Satz 2 VRV steht dem nicht entgegen. Diese besagt, dass das Zusammentreffen
von Garage- und Parkplatzausfahrten etc. mit einer Fahrbahn nicht als
Verzweigung gilt. Rad- oder Feldwege und Garage- oder ähnliche Ausfahrten
sind jedoch ebenfalls von Motorfahrzeugen, motorlosen Fahrzeugen oder
Fussgängern benützte Verkehrsflächen und weisen dem Fahrverkehr dienende
Teile auf. Sie stellen nach der gesetzlichen Umschreibung ebenfalls
Strassen und Fahrbahnen dar (vgl. Art. 1 Abs. 1 und 4 VRV). Art. 1
Abs. 8 Satz 1 VRV trifft daher auch auf solche Verkehrsflächen zu, so
dass Kreuzungen, Gabelungen oder Einmündungen derartiger Verkehrswege
ebenfalls Verzweigungen sind.

    Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV liegt der Gedanke zugrunde, dass der Verkehr
auf Durchgangsstrassen weder innerorts noch ausserorts durch Abzweigungen
behindert werden soll, die für den Motorfahrzeugverkehr praktisch
keine oder nur geringe Bedeutung haben (BGE 92 IV 27). Im Verhältnis zu
Verkehrswegen von eindeutig untergeordneter Bedeutung steht der Vortritt
somit in jedem Fall den auf Strassen mit grossem Verkehrsaufkommen
verkehrenden Fahrzeugen zu. Dies steht in Einklang mit Art. 15 Abs. 3
VRV. Satz 2 von Art. 1 Abs. 8 VRV beinhaltet somit eine Ausnahme von der
Rechtsvortrittsregel gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG. Ein Grund für eine solche
Ausnahme vom Rechtsvortrittsgebot besteht jedoch beim Zusammentreffen
von Wegen und Ausfahrten, denen je im Verhältnis unter sich in bezug
auf die Verkehrsdichte annähernd die gleiche Bedeutung zukommt, nicht
(vgl. zu Verhältnis zweier Nebenstrassen untereinander BGE 96 IV 37 E. 1).

    Zusammenfassend ergibt sich daraus, dass als Regel bei jeder
Verzweigung von Fahrbahnen der Rechtsvortritt gilt. Ausnahmen davon greifen
nur Platz bei Verzweigungen von Fahrbahnen, bei denen der einen Fahrbahn
gegenüber der anderen im Sinne der angeführten bundesgerichtlichen
Rechtsprechung verkehrsmässig eine eindeutig untergeordnete
Bedeutung zukommt. Dem entspricht, dass die Ausnahmebestimmung von
Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV im Interesse möglichst klarer Verkehrs- und
Vortrittsrechtsverhältnisse einschränkend auszulegen ist und im Zweifel
stets die normale Ordnung gilt (BGE 106 IV 57, 107 IV 49 E. 3a).

    c) Aus dem Gesagten folgt, dass das Zusammentreffen der
Fahrbahn der Garageausfahrt, die der Beschwerdeführer benützte,
und der von I. befahrenen Parkplatzausfahrt eine Strassenverzweigung
bildet, bei der nach Art. 36 Abs. 2 SVG der Rechtsvortritt gilt. Der
Beschwerdeführer war daher gegenüber dem von links kommenden Fahrzeuglenker
I. vortrittsberechtigt. Wenn die Vorinstanz dies verneinte und Art. 14
Abs. 5 VRV anwandte, hat sie somit Bundesrecht verletzt.

Erwägung 6

    6.- Das Vortrittsrecht des Beschwerdeführers ergibt sich überdies auch
aus dem Umstand, dass I. rückwärts fuhr. Gemäss Art. 36 Abs. 4 SVG darf
der Fahrzeugführer, der rückwärts fahren will, andere Strassenbenützer
nicht behindern. Er hat allen auf der Strasse verkehrenden Fahrzeugen,
ob sie von rechts oder von links kommen, den Vortritt zu gewähren (BGE
106 IV 60 E. 2). Die Vortrittspflicht des Rückwärtsfahrenden gilt bei
jeder Verzweigung auch gegenüber von links kommenden oder durch Signal
an sich vortrittsbelasteten Vorwärtsfahrern (vgl. BUSSY/RUSCONI, Code
suisse de la circulation routière, Commentaire, art. 36 No 4.14 let. d;
GIGER, Strassenverkehrsgesetz, 4. Aufl. 1985, S. 111 lit. f).

    Das Zusammentreffen der Parkplatz- und der Garageausfahrt im zu
beurteilenden Fall bilden eine Verzweigung im Sinne von Art. 1 Abs. 8 Satz
VRV (vgl. E. 5 hievor). Dem Beschwerdeführer stand daher der Vortritt
auch deshalb zu, weil I. rückwärts fuhr. Ob I. als Rückwärtsfahrender
auch dann vortrittsbelastet gewesen wäre, wenn die von ihm befahrene
Verkehrsfläche gegenüber derjenigen, auf der sich der Beschwerdeführer
befand, übergeordnet gewesen wäre (Art. 1 Abs. 8 Satz 2 und 15 Abs. 3 VRV),
kann offenbleiben (vgl. SCHAFFHAUSER, aaO, N 704).

Erwägung 7

    7.- Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Beschwerdeführer
aus zwei Gründen vortrittsberechtigt war: Zum einen, weil er in der
vorliegenden Konstellation den Rechtsvortritt hatte; zum anderen, weil
I. als Rückwärtsfahrer vortrittsbelastet war. Aus diesen Gründen ist die
Nichtigkeitsbeschwerde gutzuheissen.