Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 457



117 IV 457

80. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. Dezember 1991 i.S. F.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 204 StGB; unzüchtige Veröffentlichungen, Sexshop.

    Das Anbieten, Vorrätighalten und Verbreiten von Erzeugnissen
der sogenannten weichen Pornographie in einem besonderen, als solchem
gekennzeichneten Sexshop, in dem keine anderen Waren als pornographische
Erzeugnisse angeboten werden, erfüllt den Tatbestand nicht, sofern für den
Sexshop nicht öffentlich - etwa durch Ausstellung pornographischer Bilder
oder Gegenstände im Schaufenster - Werbung betrieben und Jugendlichen
unter 18 Jahren der Zutritt verwehrt wird.

Sachverhalt

    A.- F. führte in der Zeit vom 12. Januar bis 1. Februar 1989
den Erotikshop "T." in R., in welchem Lokal er Filme und Schriften
pornographischen Inhalts zum Verkauf oder zur Vermietung anbot.

    Mit Strafbefehl vom 16. August 1989 verurteilte das Bezirksamt Aarau
F. gemäss Art. 204 Ziff. 1 StGB zu einer Busse von Fr. 1'000.--. Die
beschlagnahmten Schriften und Filme wurden gemäss Art. 58 StGB eingezogen.

    Dagegen erhob F. Einsprache. Mit Urteil des Bezirksgerichts Aarau
vom 31. Januar 1990 wurde er von Schuld und Strafe freigesprochen.

    In Gutheissung einer von der Staatsanwaltschaft geführten Berufung
hob das Obergericht des Kantons Aargau das vorinstanzliche Urteil auf,
sprach F. der unzüchtigen Veröffentlichung im Sinne von Art. 204 Ziff. 1
StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 1'000.--. Die
beschlagnahmten Filme und Magazine zog es gemäss Art. 58 in Verbindung
mit Art. 204 Ziff. 3 StGB ein.

    B.- F. erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz
zu seiner Freisprechung zurückzuweisen.

    Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt, die Beschwerde sei
abzuweisen.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Der Beschwerdeführer hat in dem von ihm betriebenen Erotikshop
unbestrittenermassen Videokassetten und Magazine feilgeboten, die sich
allesamt auf die Darstellung ungehemmter sexueller Praktiken beschränkten.
Nach den verbindlichen Feststellungen des Obergerichts werden in den
Filmen und Zeitschriften meist in Nah- und Detailaufnahmen primäre und
sekundäre Geschlechtsteile sowie der Geschlechtsakt in verschiedensten
Variationen dargestellt. Die Vorinstanz hält ferner unter Verweisung
auf das Urteil des Bezirksgerichts Aarau fest, in den fraglichen Filmen
und Magazinen würde "durchwegs die ganz normale menschliche Sexualität,
wie sie von einem Grossteil der Bevölkerung praktiziert werde", gezeigt;
jegliche Szenen abnormer menschlicher Sexualität (Perversion), d.h.
solche mit Kindern, Tieren und unter Gewaltanwendung, fehlten.

    b) Nach Auffassung des Obergerichts verletzen die fraglichen
Filmkassetten und Schriften in krasser Weise das Sittlichkeitsgefühl in
geschlechtlichen Dingen, so dass keinem Zweifel unterliegen könne, dass
es sich dabei um derbe Pornographie und mithin um unzüchtige Gegenstände
im Sinne von Art. 204 StGB handle.

    c) Der Beschwerdeführer macht demgegenüber zunächst geltend,
Massstab für die Entscheidung der Frage, was als unzüchtig im Sinne von
Art. 204 StGB zu verstehen ist, sei das Sittlichkeits- und Schamgefühl
des normal empfindenden Bürgers. Dieser Massstab habe sich im Laufe der
Zeit gewandelt. Insbesondere sei heute die Toleranz grösser geworden
und es werde vieles heute als normal empfunden, was früher als unzüchtig
gegolten habe. Unter diesen Umständen erschienen die von ihm verkauften und
vorrätig gehaltenen Waren für den Durchschnittsbürger längst nicht mehr
als anstössig, sondern seien mittlerweile zu gewöhnlichen Konsumgütern
geworden.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 204 Ziff. 1 StGB wird mit Gefängnis oder Busse
bestraft, wer unzüchtige Schriften, Bilder oder andere unzüchtige
Gegenstände unter anderem herstellt, verkauft, verbreitet oder sonstwie in
Verkehr bringt. Der Begriff "unzüchtig" ist ein unbestimmter Rechtsbegriff,
der wertender Auslegung durch den Richter bedarf (BGE 109 IV 122, 103 IV
97, 100 Ib 386 E. 4a). Die Interpretation eines solchen Begriffs durch
die kantonale Instanz als Frage des Bundesrechts wird vom Bundesgericht
grundsätzlich in freier Kognition überprüft. In Grenzfällen weicht das
Bundesgericht aber nur mit einer gewissen Zurückhaltung von der Auffassung
der Vorinstanz ab (vgl. dazu BGE 116 IV 314 f. zum Begriff des besonders
gefährlichen Raubes).

    b) Art. 204 StGB schützt primär die öffentliche Moral und Sittlichkeit
als Teil der öffentlichen Ordnung (BGE 114 IV 24/5, 100 IV 236, 89 IV
137). Die für eine Gemeinschaft wesentlichen sittlichen Werte sollen
durch unzüchtige Veröffentlichungen nicht gefährdet werden.

    Nach der Rechtsprechung gilt als unzüchtig, was den geschlechtlichen
Anstand verletzt, indem es in nicht leichtzunehmender Weise gegen
das Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlichen Dingen verstösst; für die
Grenzziehung zwischen unzüchtigen Darstellungen und solchen, die gewagt,
aber noch erlaubt sind, ist das Sittlichkeits- und Schamgefühl des
normal empfindenden Bürgers, der weder besonders empfindsam noch sittlich
verdorben ist, massgebend (BGE 100 IV 236, 96 IV 69, 89 IV 197/8, 87 IV
74, 86 IV 19, 83 IV 24/5, 79 IV 126/7).

    Bei der Beurteilung des Charakters einer Veröffentlichung sind die
gesamten Begleitumstände wie der Ort und die Art der Veröffentlichung sowie
der Kreis der Personen, für den sie bestimmt ist, zu berücksichtigen (BGE
96 IV 69). Nach der Rechtsprechung ist schliesslich dem Umstand Rechnung
zu tragen, dass sich die Anschauungen der Allgemeinheit über Sitte und
Moral und damit auch über den Begriff des Unzüchtigen im Laufe der Zeit
geändert haben; der Strafrichter hat sich demnach in Fällen, die nicht
unter die eigentliche Pornographie fallen, Zurückhaltung aufzuerlegen
und Art. 204 Ziff. 1 StGB erst anzuwenden, wenn die Darstellung
geschlechtlicher Vorgänge eindeutig den von der überwiegenden Mehrheit
des Volkes getragenen sittlichen Vorstellungen zuwiderläuft und somit
als Störung oder Belästigung der sozialen Ordnung angesehen werden muss
(BGE 96 IV 70 f.).

    In einem neueren Entscheid (BGE 117 IV 276; vgl. auch 117 IV 283) hat
das Bundesgericht festgehalten, dass sich die zu einem bestimmten Zeitpunkt
vorherrschenden Anschauungen der Allgemeinheit über Sitte und Anstand
nicht mit exakter Sicherheit feststellen liessen. Die beispielsweise
in einem Gesetzes- oder Revisionsentwurf enthaltenen Grundgedanken
könnten aber als Ausdruck der allgemeinen "Entwicklungstendenz" auf
einem bestimmten Rechtsgebiet gewürdigt und in diesem Sinn - mit der
notwendigen Zurückhaltung - übernommen werden (BGE 117 IV 279 ff. E. 3c
mit Verweisungen). Gestützt auf den Umstand, dass die Tatbestände
des Sexualstrafrechts, zu denen die Bestimmung über die unzüchtige
Veröffentlichung gehört, geändert und den heutigen kriminalpolitischen
Bedürfnissen und den veränderten gesellschaftlichen Auffassungen
angepasst werden sollten (Botschaft des Bundesrates über die Änderung des
Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes vom 26. Juni
1985, BBl 1985 II S. 1011 und 1064), ist das Bundesgericht zum Schluss
gelangt, dass aufgrund der veränderten Anschauungen der Allgemeinheit über
Moral und Sitte sexuell betonte Darstellungen, jedenfalls sofern sie ein
bestimmtes Mass nicht überschritten, nicht mehr als strafwürdig empfunden
würden. Dementsprechend hat es erkannt, dass den veränderten Anschauungen
jedenfalls insoweit Rechnung zu tragen sei, als in Analogie zu Art. 197
des Revisionsentwurfs beziehungsweise der Referendumsvorlage sogenannte
weiche Pornographie nicht mehr in jedem Fall unter Art. 204 StGB fallen
muss. Bei Kinovorführungen sei dies zu verneinen, wenn gewährleistet sei,
dass der Kinobesucher im voraus über Gegenstand und Charakter des Films
aufgeklärt werde und noch nicht 18jährigen Personen der Zutritt untersagt
sei (BGE 117 IV 281 f. E. 3e).

    Daran ist auch zum heutigen Zeitpunkt, da die eidgenössischen Räte
die Gesetzesänderung am 21. Juni 1991 unter dem Vorbehalt des fakultativen
Referendums verabschiedet haben (BBl 1991 II 1490), festzuhalten. Dass in
der Zwischenzeit gegen die Gesetzesvorlage das Referendum ergriffen worden
ist (BBl 1991 IV 530), vermag ein Abweichen von der neuen Rechtsprechung
nicht zu rechtfertigen, da die Gesetzesänderung alle strafbaren Handlungen
gegen die sexuelle Integrität umfasst und daher nicht ersichtlich ist,
gegen welche Bestimmungen sich das Referendum zur Hauptsache richtet. Im
übrigen trifft auch bei dieser Sachlage zu, dass der Umstand, wonach der
Vorlage jedenfalls hinsichtlich der neuen Pornographiebestimmung im breit
abgestützten Vernehmlassungsverfahren und im Parlament keine Opposition
erwachsen ist, ein deutlicher Ausdruck der veränderten "sozialethischen
Auffassungen ist, die im Sexualstrafrecht Milderungen angezeigt erscheinen
lassen" (BGE 117 IV 281 E. 3c a.E. mit Hinweis auf SCHULTZ, ZSR 110/1991
S. 183).

Erwägung 3

    3.- a) Die für die Vorführung von Sexfilmen in Kinos entwickelten
Grundsätze gelten auch für den Verkauf von pornographischen
Schriften und Gegenständen in sogenannten Sexshops. Mit der neuen
Pornographiebestimmung in der noch dem Referendum unterworfenen Fassung
vom 21. Juni 1991 (Art. 197 Ziff. 1 StGB), deren Grundgedanken nach der
neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung auch für das geltende Recht
bedeutsam sind, verfolgt das Strafrecht drei Hauptaufgaben: Zunächst
sollen junge Menschen vor der Konfrontation mit jeglicher pornographischer
Darstellung bewahrt werden; ferner soll verhindert werden, dass jemand
gegen seinen Willen Darstellungen sexuellen Inhalts wahrnimmt; schliesslich
soll harte Pornographie schlechthin verboten werden. Rechtsgut des neu
vorgesehenen Art. 197 Ziff. 1 StGB ist die ungestörte sexuelle Entwicklung
Jugendlicher. Dem Schutz dieser Entwicklung dient auch das gänzliche Verbot
der Verbreitung jeglicher Art von Pornographie durch Radio und Fernsehen,
da sich der Empfängerkreis bei diesen Medien nicht begrenzen lässt
(vgl. Botschaft des Bundesrates über die Änderung des Schweizerischen
Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes vom 26. Juni 1985, BBl
1985 II 1089; ähnlich die deutsche Regelung in § 184 dtStGB).

    b) Die Vorinstanz hat unter Verweis auf das Bezirksgericht
Aarau festgestellt, die im vom Beschwerdeführer geführten Erotikshop
feilgebotenen Magazine und Videokassetten zeigten ausschliesslich die
"ganz normale Sexualität, wie sie von einem Grossteil der Bevölkerung
praktiziert wird"; Darstellungen harter Pornographie fänden sich im
Angebot nicht. Nach der neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind
die betreffenden Schriften bei dieser Sachlage entgegen der Auffassung
der Vorinstanz nicht in jedem Fall als unzüchtige Veröffentlichungen im
Sinne von Art. 204 StGB zu werten.

    c) Bei der Beurteilung des Charakters der Veröffentlichung sind auch
Art und Ort derselben sowie der Kreis der Personen, für den sie bestimmt
ist, zu berücksichtigen. Diese Begleitumstände sind im Zusammenhang mit
den genannten Zweckgedanken der Pornographiebestimmung zu sehen. Im
zu beurteilenden Fall hat der Beschwerdeführer die pornographischen
Erzeugnisse in einem sogenannten Sexshop feilgehalten. Derartige Lokale,
in welchen ausschliesslich weiche Pornographie abgesetzt wird, genügen dem
Schutzgedanken der Pornographiebestimmung, wenn sie folgende Bedingungen
erfüllen: Sie müssen eindeutig als Sexshops gekennzeichnet sein, sie
dürfen nicht öffentlich, etwa durch Zurschaustellung pornographischer
Abbildungen oder Gegenstände im Schaufenster, Werbung betreiben, und
schliesslich muss Jugendlichen unter 18 Jahren - in Anlehnung an Art. 204
Ziff. 2 StGB und noch nicht nach der Grenze von 16 Jahren nach dem noch
dem Referendum unterliegenden Art. 197 - der Zutritt verwehrt werden. Unter
diesen Bedingungen ist der Jugendschutz in genügendem Masse gewährleistet
und auch sichergestellt, dass niemand unfreiwillig mit Darstellungen
pornographischen Inhalts konfrontiert wird. Zu unterstreichen ist, dass
dies nur gilt, wenn in den betreffenden Lokalen keine harte Pornographie
gehandelt wird. Sind die genannten Voraussetzungen erfüllt, ist den
veränderten Anschauungen der Allgemeinheit über Moral und Sitte insofern
Rechnung zu tragen, als das Anbieten, Vorrätighalten und Verbreiten von
Erzeugnissen der sogenannten weichen Pornographie in besonderen, als solche
gekennzeichneten Sexshops, die keine anderen Waren als pornographische
Erzeugnisse anbieten, grundsätzlich nicht mehr unter Art. 204 StGB fällt.

    d) Die kantonalen Entscheide setzen sich ausschliesslich mit dem
Begriff des unzüchtigen Gegenstandes auseinander. Darüber, ob der
vom Beschwerdeführer betriebene Erotikshop als solcher ausdrücklich
gekennzeichnet war und ob er durch Schaufensterauslagen auf die darin
angebotenen Erzeugnisse aufmerksam gemacht hat, finden sich keine
Ausführungen. Ebenfalls keine Feststellungen getroffen hat das Obergericht
hinsichtlich einer Zutrittsbeschränkung für Jugendliche. Hingegen ergibt
sich aus den kantonalen Untersuchungsakten ein entsprechender Hinweis. Es
wird festgehalten, dass die Schaufensterscheiben des Ladenlokals bis
obenhin verdeckt seien, so dass zufällig vorbeispazierende Passanten
keinen Einblick in den Sexshop erhielten. An der Ladentüre sei zudem der
Vermerk angebracht, dass der Zutritt erst ab 18 Jahren erlaubt sei.