Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 408



117 IV 408

70. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. März 1991
i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 71 Abs. 2 StGB; Zusammenfassung mehrerer strafbarer Handlungen
zu einer verjährungsrechtlichen Einheit; fortgesetztes Delikt.

    Ob und unter welchen Bedingungen eine Mehrzahl strafbarer Handlungen
jeweils zu einer entsprechenden rechtlichen Einheit zusammenzufassen
ist, ist in den Sachbereichen, in denen das fortgesetzte Delikt bisher
Anwendung gefunden hat (Strafschärfung, Verjährung, Strafantragsfrist,
ne bis in idem), gesondert zu beurteilen. Verzicht auf die Rechtsfigur
des fortgesetzten Delikts (E. 2d).

    Verschiedene strafbare Handlungen sind gemäss Art. 71 Abs. 2 StGB dann
als eine Einheit (bei der die Verjährung für sämtliche Teilhandlungen erst
mit der letzten Tat zu laufen beginnt) anzusehen, wenn sie gleichartig und
gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet sind und ein andauerndes pflichtwidriges
Verhalten bilden. Unter welchen genauen Voraussetzungen dies der Fall ist,
kann nicht abschliessend in einer abstrakten Formel umschrieben werden
(E. 2f).

Sachverhalt

    A.- S. war Geschäftsführer der im Weinhandel tätigen G. AG.
In der Zeit vom Sommer 1976 bis Ende 1981 bezog er mehrfach Wein anstatt
unmittelbar für die G. AG auf Rechnung der von ihm beherrschten V. SA und
fakturierte die Lieferung anschliessend zu einem erhöhten Preis seiner
Arbeitgeberfirma weiter.

    B.- Am 8. Juni 1989 erklärte das Wirtschaftsstrafgericht des Kantons
Bern S. der fortgesetzten qualifizierten ungetreuen Geschäftsführung
gemäss Art. 159 Abs. 2 StGB schuldig und verurteilte ihn zu 18 Monaten
Gefängnis bedingt, unter Auferlegung einer Probezeit von zwei Jahren,
sowie zu einer Busse von Fr. 5'000.--. Die von der G. AG adhäsionsweise
eingereichte Zivilklage sprach es dem Grundsatz nach zu und wies diese
zur Berechnung der Höhe des geschuldeten Betrags an den Zivilrichter.

    C.- Dagegen führt S. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Er
beantragt, das angefochtene Urteil vollumfänglich aufzuheben und die
Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer wendet sich nicht gegen die Beurteilung
seines Verhaltens als qualifizierte ungetreue Geschäftsführung gemäss
Art. 159 Abs. 2 StGB. Er macht jedoch geltend, die ihm zur Last gelegten
strafbaren Handlungen seien zum grössten Teil verjährt.

    a) Die qualifizierte ungetreue Geschäftsführung gemäss Art. 159
Abs. 2 StGB wird mit Gefängnis bis zu fünf Jahren und Busse bestraft. Die
Verfolgung dieser Straftat ist somit gemäss Art. 70 Abs. 3 in Verbindung
mit Art. 72 Ziff. 2 Abs. 2 Satz 2 StGB in jedem Fall nach siebeneinhalb
Jahren verjährt. Wie die Vorinstanz verbindlich feststellt (Art. 277bis
Abs. 1 BStP), hat der Beschwerdeführer die letzten Tathandlungen am
29. Dezember 1981 ausgeführt. Diese waren im Zeitpunkt der Ausfällung
des angefochtenen Urteils, mit dem die Strafverfolgung beendet wurde
(BGE 116 IV 81 E. 1; 115 Ia 325), mithin noch nicht verjährt.

    Die Vorinstanz hat die Verjährung auch bezüglich aller übrigen vom
Beschwerdeführer seit dem Sommer 1976 begangenen strafbaren Handlungen
verneint, da sämtliche Taten in einem Fortsetzungszusammenhang stünden.

    b) Das Gesetz umschreibt die Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts
nicht. Sie ist von Lehre und Rechtsprechung entwickelt worden. Danach
ist ein fortgesetztes Delikt gegeben, wenn gleichartige oder ähnliche
Handlungen, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet sind, auf ein
und denselben Willensentschluss zurückgehen (BGE 102 IV 77 E. 2a mit
Hinweisen).

    Das fortgesetzte Delikt setzt sich zusammen aus mehreren strafbaren
Handlungen. Rechtlich wird es jedoch als eine Straftat angesehen (BGE 101
IV 190; 91 IV 66). Entsprechend befand das Bundesgericht, dass erstens bei
einer fortgesetzten Tatbegehung eine Strafschärfung wegen Zusammentreffens
strafbarer Handlungen nach Art. 68 StGB ausscheide (BGE 91 IV 66; 90 IV
132), dass sich zweitens die Rechtskraft einer Verurteilung wegen eines
fortgesetzten Delikts grundsätzlich auch auf jene Straftaten beziehe,
die dem Richter nicht bekannt waren (BGE 90 IV 132), dass drittens beim
fortgesetzten Delikt im Falle eines Antragsdelikts die Strafverfolgung
nicht auf die dreimonatige Frist des Art. 29 StGB beschränkt bleibe,
sondern der Täter auch wegen weiter zurückliegender Handlungen verfolgt
werden dürfe (BGE 91 IV 66; 80 IV 7 ff.), und dass viertens beim
fortgesetzten Delikt die Verjährung für sämtliche Einzelakte erst mit der
letzten Teilhandlung beginne; sei diese nicht verjährt, blieben auch alle
übrigen Einzelhandlungen strafbar (BGE 105 IV 13 mit Hinweisen).
   c) Diese Rechtsprechung ist auf Kritik gestossen.

    aa) Das Schrifttum wendete ein, der Ausschluss von Art. 68 StGB beim
fortgesetzten Delikt sei mit dem Schuldprinzip nicht zu vereinbaren
(SCHULTZ, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, erster
Band, 4. Aufl., S. 131; derselbe, ZBJV 102/1966, S. 55; STRATENWERTH,
Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, § 19 N 19; NOLL/TRECHSEL,
Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Aufl., S. 233; WERNER ARNOLD
KNECHT, Das fortgesetzte Delikt im schweizerischen Strafrecht, Diss. Bern
1969, S. 99); es erscheine höchst zweifelhaft, den der Straferhöhung wegen
Konkurrenz entgehen zu lassen, der aufgrund eines einzigen, aber dann um
so festeren Entschlusses wiederholt delinquiert habe, doch Art. 68 StGB
auf den anzuwenden, der sich immer wieder neu unter Überwindung innerer
Widerstände entschliessen müsse, weitere Straftaten zu begehen (SCHULTZ,
ZBJV 102/1966, S. 55).

    Im weiteren lasse sich die Verlängerung der Verjährung beim
fortgesetzten Delikt nicht begründen; der Beginn der Verjährung werde
unter Umständen in unverhältnismässiger Weise hinausgezögert, wenn der
letzte Teilakt massgebend sein soll (im Fall BGE 72 IV 179 ff. um mehr
als 20 Jahre), und die Absicht des Gesetzgebers durchkreuzt, bestimmte
Delikte schon in kurzer Zeit verjähren zu lassen (STRATENWERTH, aaO;
NOLL/TRECHSEL, aaO; KNECHT, aaO, S. 70).

    Auf die Rechtsfigur des fortgesetzten Delikts sei daher gänzlich zu
verzichten (STRATENWERTH, aaO; NOLL/TRECHSEL, aaO; SCHULTZ, aaO; KNECHT,
aaO, S. 98 ff.).

    bb) Auch die kantonale Rechtsprechung äusserte sich kritisch zum
fortgesetzten Delikt. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich vertrat
in einem Entscheid im Jahr 1980 die Auffassung, diese Konstruktion sei
im schweizerischen Recht jedenfalls entbehrlich (SJZ 77/1981, S. 236 f.).

    d) Das fortgesetzte Delikt umfasst mehrere selbständige strafbare
Handlungen. Die Tateinheit ist bei ihm nur fingiert. Es geht daher nicht
an zu sagen, weil das fortgesetzte Delikt eine Straftat sei, scheide
bei ihm eine Strafschärfung wegen Zusammentreffens mehrerer strafbarer
Handlungen gemäss Art. 68 StGB aus und könne es als Ganzes nicht vor seinem
Abschluss - das heisst nicht vor Ausführung der letzten Teilhandlung
- zu verjähren beginnen. Zu fragen ist vielmehr danach, ob und unter
welchen Bedingungen es in den Bereichen, in denen das fortgesetzte Delikt
bisher Anwendung gefunden hat (Strafzumessung, Verjährung, res iudicata,
Strafantrag), gerechtfertigt oder sogar geboten ist, mehrere selbständige
Straftaten zu einer rechtlichen Einheit zusammenzufassen. Die Antwort
darauf kann angesichts der Verschiedenartigkeit der Problemstellungen und
in Anbetracht dessen, dass die massgeblichen gesetzlichen Bestimmungen
voneinander abweichen, nicht eine einheitliche sein. Die anstehenden
Fragen sind in den einzelnen Sachbereichen vielmehr gesondert zu erörtern
(vgl. NOLL, ZStW 77/1965, S. 4). Aus dem Begriff des fortgesetzten Delikts
lassen sich keine differenzierten Lösungen ableiten. Diese Rechtsfigur
ist daher - entsprechend der in der herrschenden Lehre erhobenen Forderung
- aufzugeben.

    e) Zur Frage, ob es sachlich gerechtfertigt sei, auf eine
Strafschärfung gemäss Art. 68 Ziff. 1 StGB bei einer Mehrheit strafbarer
Handlungen unter den Bedingungen des fortgesetzten Delikts gemäss
bisheriger Praxis (BGE 91 IV 66; 90 IV 132) zu verzichten, äusserte
sich das Bundesgericht bereits. Es kam in BGE 116 IV 121 zum Schluss,
der generelle Ausschluss von Art. 68 Ziff. 1 StGB unter Rückgriff auf das
fortgesetzte Delikt lasse sich nicht begründen, und änderte entsprechend
seine frühere Praxis mit dem Hinweis, die Rechtsprechung zum fortgesetzten
Delikt bedürfe auch in den übrigen Bereichen einer Überprüfung (E. 2b/cc).

    f) Hier ist nun zu entscheiden, welche Folgen sich aus der Aufgabe
des fortgesetzten Delikts in bezug auf die Verjährung ergeben.

    aa) Der Beginn der Verjährung ist in Art. 71 StGB geregelt. Gemäss
Abs. 2 dieser Bestimmung beginnt die Verjährung, wenn der Täter die
strafbare Tätigkeit zu verschiedenen Zeiten ausführt, mit dem Tag, an dem
er die letzte Tätigkeit ausführt. Wie den Materialien zu entnehmen ist,
verstand der Gesetzgeber unter der zu verschiedenen Zeiten ausgeführten
Tätigkeit im Sinne von Art. 71 Abs. 2 StGB eine Mehrzahl strafbarer
Handlungen, die zu einem einzigen Delikt zusammengefasst werden sollten
(BGE 109 IV 86 mit Hinweis auf KNECHT, aaO, S. 1-13). Deutlicher als
in der deutschen kommt das in der französischen Gesetzesfassung zum
Ausdruck. Sie lautet: "La prescription court: si cette activité (coupable)
s'est exercée à plusieurs reprises, du jour du dernier acte." Wann die
"à plusieurs reprises" ausgeführte strafbare Tätigkeit zu einer Einheit
zusammenzufassen ist, bei der die Verjährung für alle Einzelhandlungen
erst mit der letzten Tat zu laufen beginnt, wurde bisher aufgrund der
Voraussetzungen des fortgesetzten, aber auch des gewerbsmässigen Delikts
bestimmt (BGE 105 IV 13 mit Hinweisen). Die Frage ist, wie die einzelnen
strafbaren Tätigkeiten ("actes") nach der Aufgabe des fortgesetzten Delikts
untereinander verbunden sein müssen, damit sie unter dem Gesichtspunkt
des Verjährungsbeginns nach Art. 71 Abs. 2 StGB mit der letzten strafbaren
Handlung als ein Ganzes betrachtet werden dürfen.

    Soweit beim gewerbsmässigen Delikt in bezug auf den Beginn der
Verjährung die gleiche Praxis wie beim fortgesetzten Delikt Anwendung
fand, war dies dadurch begründet, dass der erstere Begriff eine allenfalls
fortgesetzte Begehung der Tat in sich schloss (BGE 107 IV 82; 105 IV 13;
vgl. auch 116 IV 121). Infolge der Aufgabe des fortgesetzten Delikts können
daher auch bei Gewerbsmässigkeit die Voraussetzungen für die Anwendung
von Art. 71 Abs. 2 StGB nicht mehr in gleicher Weise bejaht werden.

    bb) Massgeblich für die Beantwortung der erwähnten sich neu
stellenden Frage müssen nicht subjektive, sondern objektive Kriterien
sein. Erforderlich sind, wie bisher beim fortgesetzten Delikt, die
Gleichartigkeit der Begehungsweise und die Beeinträchtigung desselben
Rechtsgutes. Die erforderliche Einheit ist zu bejahen, wenn die
gleichartigen und gegen dasselbe Rechtsgut gerichteten strafbaren
Handlungen - ohne dass bereits ein eigentliches Dauerdelikt gegeben
wäre (Art. 71 Abs. 3 StGB) - ein andauerndes pflichtwidriges Verhalten
bilden. Unter welchen genauen Voraussetzungen dies der Fall ist, kann
nicht abschliessend in einer abstrakten Formel umschrieben werden. Es
wird vielmehr Sache der Praxis sein, im einzelnen die Kriterien
hiefür herauszubilden, wobei sich der Richter von Sinn und Zweck der
Verjährung (vgl. dazu SCHULTZ, aaO, S. 246; HAUSER/REHBERG, Strafrecht I,
4. Aufl., S. 215) leiten zu lassen hat. Klar ist, dass die andauernde
Pflichtverletzung vom in Frage stehenden gesetzlichen Straftatbestand
ausdrücklich oder sinngemäss mitumfasst sein muss (vgl. BGE 84 IV 17;
75 IV 40). Wie beim Dauerdelikt wird nicht auf die Vollendung, sondern
auf die Beendigung der Straftat abzustellen sein (vgl. BGE 106 IV 296;
STRATENWERTH, aaO, § 12 N 10).

    Ein andauerndes pflichtwidriges Verhalten ist beispielsweise gegeben
bei dem, der seine Unterstützungspflichten stetig vernachlässigt und sich
damit gemäss Art. 217 StGB strafbar macht; denn nach der Unterlassung der
termingerechten Zahlung eines Unterhaltsbeitrags bleibt er weiterhin und
andauernd in der Pflicht, die unterlassene Zahlung nachzuholen.

    g) Danach ist im hier zu beurteilenden Fall die Verbindung mehrerer
strafbarer Einzelhandlungen zu einer verjährungsrechtlichen Einheit
im Sinne von Art. 71 Abs. 2 StGB zu bejahen. Die Gleichartigkeit
der Begehungsweise ist nach den verbindlichen tatsächlichen
Feststellungen im angefochtenen Entscheid (Art. 277bis Abs. 1 BStP)
unstreitig gegeben. Darüber hinaus waren die Taten stets gegen das
gleiche Rechtsgut gerichtet, und von den strafbaren Handlungen war
immer derselbe Rechtsgutsträger betroffen. Schliesslich liegt ein
andauerndes pflichtwidriges Verhalten vor. Der Beschwerdeführer wäre als
Geschäftsführer nämlich nicht nur verpflichtet gewesen, gewinnbringende
Geschäfte anstatt für sich selber für seine Arbeitgeberfirma
abzuschliessen; er hätte sich auch um Ersatz des von ihm durch die
Straftaten verursachten Schadens kümmern müssen. Dadurch, dass er das nicht
tat, verletzte er andauernd seine Pflichten gegenüber dem Geschäftsherrn.

    h) Im Ergebnis hat die Vorinstanz somit kein Bundesrecht verletzt, wenn
sie den Eintritt der Verjährung in bezug auf sämtliche vom Beschwerdeführer
begangenen strafbaren Handlungen verneint hat.