Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 404



117 IV 404

69. Urteil des Kassationshofes vom 25. Oktober 1991 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich gegen D. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 69 StGB; Anrechnung der Untersuchungshaft.

    Von der Anrechnung der Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe
gemäss Art. 69 StGB ist nur abzusehen, soweit der Beschuldigte -
durch sein Verhalten nach der Tat - die Untersuchungshaft in der Absicht
herbeigeführt oder verlängert hat, dadurch den Strafvollzug zu verkürzen
oder zu umgehen (E. 2; Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- D. wurde am 19. Juli 1988 in Zürich in Untersuchungshaft
genommen. Am 9. Juni 1989 gelang ihm die Flucht. Am 8. Februar 1990 wurde
er in Frankreich wieder festgenommen. Dort blieb er bis zum 30. Juli 1990
in Auslieferungshaft.

    B.- Am 4. Februar 1991 verurteilte ihn das Obergericht des Kantons
Zürich wegen bandenmässigen Raubes, banden- und gewerbsmässigen Diebstahls
sowie weiterer Straftaten zu fünf Jahren und sechs Monaten Zuchthaus. Auf
diese Strafe rechnete es sowohl die Untersuchungs- und Sicherheits-
als auch die Auslieferungshaft, insgesamt 686 Tage, an.

    C.- Dagegen erhebt die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, das angefochtene
Urteil aufzuheben und die Sache zur Neuentscheidung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    D.- D. beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Staatsanwaltschaft macht geltend, die Vorinstanz hätte dem
Beschwerdegegner die in Frankreich erstandene Auslieferungshaft nicht
auf die Strafe anrechnen dürfen; der angefochtene Entscheid verletze
Art. 69 StGB.

    a) Gemäss Art. 69 StGB rechnet der Richter dem Verurteilten
die Untersuchungshaft auf die Freiheitsstrafe an, soweit der
Täter die Untersuchungshaft nicht durch sein Verhalten nach der Tat
herbeigeführt oder verlängert hat. Als Untersuchungshaft gilt jede in
einem Strafverfahren verhängte Haft, Untersuchungs- und Sicherheitshaft
(Art. 110 Ziff. 7 StGB).

    Nach Art. 14 des Bundesgesetzes über internationale Rechtshilfe in
Strafsachen vom 20. März 1981 (IRSG; SR 351.1) gilt Art. 69 StGB auch für
die Anrechnung der im Ausland erstandenen Untersuchungshaft oder der Haft,
die durch ein Verfahren nach dem IRSG im Ausland veranlasst wurde.

    Ob die Vorinstanz dem Beschwerdegegner die Auslieferungshaft zu Unrecht
auf die Zuchthausstrafe angerechnet hat, ist somit gemäss Art. 69 StGB
zu beurteilen.

    b) Art. 69 StGB sieht im Grundsatz die Anrechnung der Untersuchungshaft
auf die Freiheitsstrafe vor. Nach dem Gesetzeswortlaut unterbleibt die
Anrechnung, soweit der Täter die Untersuchungshaft durch sein Verhalten
nach der Tat herbeigeführt oder verlängert hat.

    aa) Das Bundesgericht vertrat zunächst die Ansicht, für die Ablehnung
der Anrechnung genüge es, dass das Verhalten des Täters nach der Tat für
die Anordnung oder Verlängerung der Untersuchungshaft ursächlich gewesen
sei; auf ein Verschulden des Täters komme es nicht an; die Verweigerung der
Auskunft, das Leugnen der Tat, die Irreführung der Strafverfolgungsbehörden
durch falsche Angaben, die Flucht oder das trölerische Ergreifen eines
Rechtsmittels seien deshalb Grund dafür, dem Verurteilten die Anrechnung
der Untersuchungshaft ganz oder teilweise zu versagen (BGE 95 IV 129 E. 1;
90 IV 69 f. E. 1 mit Hinweisen).

    bb) In BGE 102 IV 153 ff. änderte das Bundesgericht seine
Rechtsprechung. Es führte aus, der ursächliche Zusammenhang zwischen dem
Verhalten des Täters nach der Tat und der Anordnung bzw. Verlängerung
der Untersuchungshaft sei eine wichtige und begrenzende Voraussetzung für
den Ausschluss der Anrechnung; es müsse jedoch mehr verlangt werden; dem
Verurteilten müsse sein Verhalten nach der Tat gemäss rechtsstaatlichen
Grundsätzen objektiv vorwerfbar sein; er müsse es auch verschuldet
haben; unter Verschulden sei ein subjektiv vorwerfbarer Verstoss gegen
Pflichten und Beschränkungen zu verstehen, die sich für den Beschuldigten
aus dem Strafverfahrensrecht ergeben (E. 1d). Ausgehend davon befand das
Bundesgericht in BGE 103 IV 8 ff., der Ausschluss der Anrechnung lasse sich
nicht begründen mit dem Schweigen des Beschuldigten, der Verweigerung der
Aussage oder dem blossen Leugnen der Tat; denn der Beschuldigte sei nicht
verpflichtet, Straftaten zu offenbaren, zu denen er nicht befragt worden
sei, und er sei nicht gehalten, die Untersuchung zu seinem Nachteil zu
fördern oder zu erleichtern; die Anrechnung der Untersuchungshaft habe
demgegenüber zu unterbleiben, wenn der Beschuldigte die Behörden durch
unwahre Behauptungen und Einwendungen zu weiteren Untersuchungshandlungen
nötige, die das Verfahren über die Dauer hinaus verlängerten, die es
sonst beansprucht hätte; dasselbe gelte, wenn ein Beschuldigter seine
Verteidigungsrechte offensichtlich dazu missbrauche, einen sachfremden
Zweck zu erreichen (E. 3; vgl. auch BGE 105 IV 239 ff.).

    c) Eine noch engere Begrenzung der Verweigerung der Anrechnung
der Untersuchungshaft fordert das Schrifttum. Es ist überwiegend der
Auffassung, von der Anrechnung sei einzig abzusehen, wenn der Täter durch
sein Verhalten nach der Tat absichtlich zur Untersuchungshaft Anlass
gegeben habe, um dem Strafvollzug zu entgehen (DUBS, ZStR 76/1960, S. 191
ff.; HEIM, JdT 1964 IV, S. 40 ff.; JdT 1965 IV, S. 37; SCHULTZ, ZBJV
102/1966, S. 345 ff.; ZBJV 106/1970, S. 344; TRECHSEL, Kurzkommentar,
Art. 69 N 14; ZIRILLI, Problèmes relatifs à la détention préventive,
Thèse Lausanne 1975, S. 142 ff.). Dem hat sich auch die Rechtsprechung
im Kanton Waadt angeschlossen (JdT 1970 IV, S. 93 ff.).

    d) De lege ferenda schlägt SCHULTZ entsprechend der Regelung im
österreichischen Recht die ausnahmslose Anrechnung der Untersuchungshaft
auf die Freiheitsstrafe vor (Bericht und Vorentwurf zur Revision des
Allgemeinen Teils und des Dritten Buches "Einführung und Anwendung des
Gesetzes" des Schweizerischen Strafgesetzbuches, Bern 1987, S. 130 ff.).

Erwägung 2

    2.- a) Die grundsätzliche Anrechnung der Untersuchungshaft ist nach
heutiger Auffassung nicht als eine Massnahme der Billigkeit anzusehen.
Sie ist vielmehr aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten. Der
Vollzug der Untersuchungshaft stellt einen schwerwiegenden Eingriff
in das Grundrecht der persönlichen Freiheit eines vermutungsweise
Unschuldigen (Art. 6 Ziff. 2 EMRK) dar. Wie das Bundesgericht in BGE
113 IV 121 ausgeführt hat, lässt sich dieser Eingriff nur rechtfertigen
im Hinblick auf die spätere Anrechnung der in der Untersuchungshaft
verbrachten Zeit auf die Strafdauer oder - im Falle eines Freispruchs -
auf Zusprechung einer Entschädigung. Die Versagung der Anrechnung kann
bei einer verfassungsgemässen Auslegung von Art. 69 StGB somit nur in
eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig sein.

    b) Die bisherige Rechtsprechung, nach der die Untersuchungshaft
generell nicht anzurechnen ist, soweit sie der Verurteilte durch
einen schuldhaften Verstoss gegen Pflichten und Beschränkungen aus
dem Strafverfahrensrecht verursacht hat, erweist sich unter diesem
Gesichtswinkel als zu weit. Sie verkennt zudem den Sinn und Zweck
des Art. 69 StGB. Die darin enthaltene Regelung über die Ablehnung der
Anrechnung zielt nicht darauf ab, die Einhaltung strafverfahrensrechtlicher
Pflichten durch den Beschuldigten zu sichern. Sie soll, wie das
Bundesgericht in BGE 73 IV 94/5 dargelegt hat, vielmehr verhindern, dass
der Beschuldigte absichtlich zur Haft Anlass gebe, um dem als grösseres
Übel empfundenen Strafvollzug zu entgehen. Der Ausschluss der Anrechnung
nach Art. 69 StGB ist mit anderen Worten zugeschnitten auf Fälle des
Missbrauchs. Er soll denjenigen treffen, der die Untersuchungshaft zwecks
Verkürzung bzw. Vermeidung des Strafvollzugs herbeiführt oder verlängert,
weil er die Untersuchungshaft dem Strafvollzug vorzieht.

    c) Bei einer den Gesetzeszweck berücksichtigenden verfassungsgemässen
Auslegung von Art. 69 StGB ist die Anrechnung der Untersuchungshaft
auf die Freiheitsstrafe folglich nicht schon auszuschliessen, wenn der
Beschuldigte die Haft durch einen schuldhaften Verstoss gegen Pflichten
und Beschränkungen, die sich für ihn aus dem Strafverfahrensrecht
ergeben, verursacht hat. Von der Anrechnung ist in Übereinstimmung
mit der herrschenden Lehre nur abzusehen, soweit der Beschuldigte
durch sein Verhalten nach der Tat die Untersuchungshaft in der Absicht
herbeigeführt oder verlängert hat, dadurch den Strafvollzug zu verkürzen
oder zu umgehen. Das gilt auch für die Fälle, da der Täter aus der
Untersuchungshaft geflohen ist.

    d) Durch diese Begrenzung des Anrechnungsausschlusses lässt sich auch
vermeiden, dass der Verurteilte auf dem Umweg über Art. 69 StGB für die
Verletzung einer strafverfahrensrechtlichen Pflicht gemassregelt wird,
die keinen Straftatbestand erfüllt. Straflos ist namentlich die Flucht
aus der Untersuchungshaft. Hätte sie als schuldhafter Verstoss gegen die
Anwesenheitspflicht des Beschuldigten stets die Versagung der Anrechnung,
die sich aus der Sicht des Betroffenen wie eine Strafe auswirkt, zur Folge,
liefe das im Ergebnis auf eine Verletzung des Art. 1 StGB hinaus. Danach
ist strafbar nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich mit
Strafe bedroht.

    e) Die Vorinstanz begründet die Anrechnung der vom Beschwerdegegner
in Frankreich erstandenen Auslieferungshaft allein unter Hinweis auf ihre
ständige Praxis. Mit welcher Absicht der Beschwerdegegner geflohen ist,
sagt sie nicht. Die richtige Anwendung des Bundesrechts kann damit nicht
überprüft werden. Der angefochtene Entscheid ist deshalb gemäss Art. 277
BStP aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese
wird sich dazu zu äussern haben, ob der Beschwerdegegner mit der Flucht
bezweckte, die strafverfahrensrechtliche Haft zu Lasten des Strafvollzugs
zu verlängern.