Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 292



117 IV 292

53. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 22. August 1991 i.S. B.
gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Fahren in angetrunkenem Zustand (Art. 91 Abs. 1 SVG);
Zurechnungsfähigkeit, "actio libera in causa" (Art. 10 ff. StGB).

    Eine alkoholbedingte Verminderung der Zurechnungsfähigkeit ist auch
beim Tatbestand des Fahrens in angetrunkenem Zustand beachtlich, wenn keine
(eventual)vorsätzliche "actio libera in causa" vorliegt.

    Darstellung der für den unzurechnungsfähigen und für den vermindert
zurechnungsfähigen Fahrzeuglenker bei (eventual)vorsätzlicher respektive
fahrlässiger "actio libera in causa" im einzelnen in Betracht fallenden
Rechtsfolgen.

Sachverhalt

    A.- B. war mit einem Geschäftswagen am 29. August 1989 beruflich
den ganzen Tag unterwegs. Am Abend führte er seinen Geschäftskollegen
an dessen Wohnort Welschenrohr, wo sie in der Folge noch verschiedene
Wirtschaften aufsuchten und Weisswein tranken. Zum Nachtessen, das B. bei
seinem Geschäftskollegen zu Hause einnahm, wurde Rotwein getrunken und
anschliessend noch weiter gefeiert. Es war beabsichtigt, dass B. die
Nacht bei seinem Geschäftskollegen verbringe, da er am nächsten Tag in
der gleichen Region beruflich tätig sein wollte. Deshalb telephonierte
er nach Hause und erklärte, dass er bei seinem Kollegen übernachten
werde. Gegen 22.00 Uhr ging er zu Bett, erwachte aber um ca. 01.30 Uhr
wieder, weil er Durst hatte. Hierauf entschloss er sich, doch nach Hause
zu fahren; warum er dies tat, vermochte er nicht mehr anzugeben. In
Oensingen fuhr er auf die Autobahn N1, worauf es zwischen Kirchberg
und Bern zu einem Selbstunfall kam. Mit angeblich ca. 110 km/h fahrend
geriet B. von der Normalspur nach links und kollidierte mit verschiedenen
Mittelleitpfosten. Sein Fahrzeug wurde erheblich beschädigt; zudem entstand
Sachschaden von ca. Fr. 2'500.-- an Kabelleitpfosten und diversen
Mittelstreifenpflanzen. B. gab an, kurz eingeschlafen zu sein. Der
Blutalkoholgehalt zum Zeitpunkt der fraglichen Fahrt betrug mindestens
2,26 Gew.%o.

    B.- Die a.o. Gerichtspräsidentin I von Burgdorf verurteilte B. am
21. März 1990 wegen vorsätzlichen Fahrens in angetrunkenem Zustand und
wegen Nichtbeherrschens des Fahrzeugs zu einer Gefängnisstrafe von zwei
Monaten, bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von fünf Jahren, und zu
einer Busse von Fr. 1'500.--.

    Auf Appellation der Staatsanwaltschaft Emmental-Oberaargau, welche vom
Generalprokurator, beschränkt auf die Frage der Gewährung des bedingten
Strafvollzugs, aufrechterhalten wurde, sowie auf Anschlussappellation des
Verurteilten, die sich auf den Schuldspruch wegen Nichtbeherrschens des
Fahrzeugs und das Strafmass beschränkte, bestätigte die 1. Strafkammer des
Obergerichts des Kantons Bern am 23. August 1990 die erstinstanzlichen
Schuldsprüche und erkannte auf eine unbedingte Gefängnisstrafe von zwei
Monaten.

    C.- Der Verurteilte führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache
zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt die Abweisung
der Nichtigkeitsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht eine Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit im Sinne von Art. 11 StGB geltend. Eine "actio libera
in causa" gemäss Art. 12 StGB ist seines Erachtens nicht gegeben, da er bei
seinem Geschäftskollegen hatte übernachten wollen, sich in dessen Wohnung
tatsächlich auch zu Bett gelegt und sich erst 3 1/2 Stunden später,
durstig erwacht, entschlossen habe, doch noch nach Hause zu fahren,
ohne dass er angeben konnte, warum er dies getan habe.

    a) Die Vorinstanz lehnt eine verminderte Zurechnungsfähigkeit
ab. Soweit sie dabei davon ausgeht, dass eine Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit im Sinne von Art. 11 StGB beim Tatbestand des Fahrens
in angetrunkenem Zustand, unabhängig vom Vorliegen einer "actio libera
in causa" gemäss Art. 12 StGB, generell nicht relevant sei, verletzt sie
Bundesrecht. Wohl hat der Kassationshof in BGE 95 IV 97 erkannt, dass zwar
Angetrunkenheit unbestreitbar geeignet sei, die Zurechnungsfähigkeit des
Täters im Sinne von Art. 11 StGB herabzusetzen, dass es aber verfehlt sei,
Art. 11 StGB auf den Tatbestand von Art. 91 Abs. 1 SVG zur Anwendung zu
bringen (S. 98). Diese Auffassung, die übrigens im Widerspruch zu den in
BGE 95 IV 97 nicht erwähnten BGE 93 IV 39 ff. und 85 IV 1 ff. steht,
ist vom Kassationshof in der Folge nicht aufrechterhalten worden. Die
Erörterung der Frage nach dem Vorliegen einer die Anwendung von Art. 10
und 11 StGB ausschliessenden "actio libera in causa" gemäss Art. 12 StGB
im Zusammenhang mit dem Tatbestand des Fahrens in angetrunkenem Zustand
hat ja nur dann einen Sinn, wenn bei Verneinung einer solchen "actio
libera in causa" die Unzurechnungsfähigkeit bzw. die Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit auch beim Fahren in angetrunkenem Zustand beachtlich
ist. Die Bestimmungen über die Zurechnungsfähigkeit (Art. 10-13 StGB)
sind Ausfluss des das ganze Strafrecht beherrschenden Schuldprinzips. Sie
gelten daher auch für den Tatbestand des Fahrens in angetrunkenem
Zustand. Eine alkoholbedingte Unzurechnungsfähigkeit bzw. Verminderung
der Zurechnungsfähigkeit kann deshalb auch beim Tatbestand des Fahrens in
angetrunkenem Zustand beachtlich sein (REHBERG, Das Fahren in angetrunkenem
Zustand, ZStrR 86/1970, S. 113 ff., 128; derselbe, Die strafrechtliche
Bedeutung der Alkoholisierung, Kriminalistik 37/1983, S. 507 ff., 509;
MARINA SCHMUTZ, Fahren in angetrunkenem Zustand ..., Diss. Zürich 1978,
S. 94 f.).

    War der Täter zum Zeitpunkt der Tatbegehung nicht zurechnungsfähig,
kann er nur unter den Voraussetzungen von Art. 12 StGB betreffend die
sogenannte "actio libera in causa" oder von Art. 263 StGB betreffend
Verübung einer Tat in selbstverschuldeter Unzurechnungsfähigkeit
bestraft werden. Der letztgenannte Tatbestand steht vorliegend nicht zur
Diskussion. Ein Rückgriff auf Art. 12 StGB setzt voraus, dass der Täter zu
einem Zeitpunkt, als er noch zumindest teilweise zurechnungsfähig war,
zumindest in Kauf nahm, dass er zum späteren Zeitpunkt der völligen
Unzurechnungsfähigkeit eine vorsätzliche Tat begehen werde oder,
soweit eine Fahrlässigkeitstat zur Diskussion steht, dass der Täter
in pflichtwidriger Weise die spätere Tatbegehung ausser acht lässt
(vgl. BGE 85 IV 1; 93 IV 41 ff.). Entsprechendes gilt für die verminderte
Zurechnungsfähigkeit gemäss Art. 11 StGB mit den folgenden Präzisierungen.

    b) Für das Fahren in angetrunkenem Zustand bedeutet dies folgendes,
wobei aufgrund des insoweit in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruchs der
1. Instanz hier von einer vorsätzlichen Trunkenheitsfahrt auszugehen ist:

    Eine allfällige Unzurechnungsfähigkeit des Fahrzeuglenkers zur Zeit
der vorsätzlichen Trunkenheitsfahrt ist unbeachtlich, wenn dieser zur
Zeit, als er noch nicht unzurechnungsfähig war, zumindest in Kauf nahm,
dass er in angetrunkenem Zustand noch ein Fahrzeug lenken würde, wenn also
eine (eventual)vorsätzliche "actio libera in causa" vorliegt. Ist dagegen
fahrlässige "actio libera in causa" gegeben, hätte also der Fahrzeuglenker
zur Zeit, als er noch nicht unzurechnungsfähig war, bei pflichtgemässer
Aufmerksamkeit voraussehen können, dass er in angetrunkenem Zustand noch
fahren würde, ist er wegen - ebenfalls strafbaren - fahrlässigen Fahrens
in angetrunkenem Zustand zu verurteilen (HENTSCHEL/BORN, Trunkenheit
im Strassenverkehr, 5. Auflage, S. 74; REHBERG, Kriminalistik 37/1983,
S. 507); dabei ist ihm eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
zuzubilligen, wenn er nicht schon im Zustand voller Zurechnungsfähigkeit,
sondern erst im Zustand verminderter Zurechnungsfähigkeit bei
pflichtgemässer Aufmerksamkeit hätte erkennen können, dass er im Zustand
der Unzurechnungsfähigkeit angetrunken ein Fahrzeug lenken würde. Eine
allfällige Verminderung der Zurechnungsfähigkeit des Fahrzeuglenkers zur
Zeit der vorsätzlichen Trunkenheitsfahrt ist unbeachtlich, wenn dieser
zur Zeit, als er noch voll zurechnungsfähig war, zumindest in Kauf nahm,
dass er in angetrunkenem Zustand noch ein Fahrzeug lenken würde, wenn also
eine (eventual)vorsätzliche "actio libera in causa" vorliegt. Ist dagegen
fahrlässige "actio libera in causa" gegeben, hätte also der Fahrzeuglenker
zur Zeit, als er noch voll zurechnungsfähig war, bei pflichtgemässer
Aufmerksamkeit voraussehen können, dass er in angetrunkenem Zustand
noch fahren würde, ist die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit zur
Zeit der Fahrt grundsätzlich beachtlich. Fahrlässige "actio libera
in causa" schliesst bei vorsätzlicher Verübung der Tat im Zustand
verminderter Zurechnungsfähigkeit die Anwendung von Art. 11 StGB nicht aus
(HENTSCHEL/BORN, op.cit., S. 74 mit Hinweisen). Der Fahrzeuglenker ist
in diesem Fall vielmehr wegen vorsätzlichen - nicht wegen fahrlässigen -
Fahrens in angetrunkenem Zustand in verminderter Zurechnungsfähigkeit zu
verurteilen. Es verstösst aber nicht gegen Bundesrecht, bei der Reduktion
der Strafe infolge der grundsätzlich zuzubilligenden Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit Zurückhaltung zu üben, da immerhin eine fahrlässige
"actio libera in causa" bei voller Zurechnungsfähigkeit vorliegt.

    c) Wie die Vorinstanz feststellt, beabsichtigte der Beschwerdeführer
bei seinem Geschäftskollegen zu übernachten. Er hat sich denn auch zunächst
bei ihm schlafen gelegt. Erst 3 1/2 Stunden später stand er auf und setzte
sich ans Steuer. In einer derartigen Konstellation ist es nicht zulässig,
darauf abzustellen, dass der Beschwerdeführer zu Beginn des intensiven
Alkoholkonsums voll zurechnungsfähig war. Denn zu diesem Zeitpunkt hat
er nach dem Gesagten eben nicht die Möglichkeit vorausgesehen, dass er in
alkoholisiertem Zustand ein Fahrzeug lenken werde. Sowohl eine vorsätzliche
wie eine fahrlässige "actio libera in causa" sind auszuschliessen.

    d) Der Beschwerdeführer wies zur Zeit der Fahrt eine
Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,26 Gew.%o auf. Er behauptet
mit Recht selber nicht, dass er unzurechnungsfähig im Sinne von Art. 10
StGB gewesen sei bzw. dass im Sinne von Art. 13 StGB ernsthafter Anlass
zu einer solchen Annahme besteht. Er macht aber geltend, dass er bei
Fahrtantritt eindeutig vermindert zurechnungsfähig im Sinne von Art. 11
StGB gewesen sei. Tatsächlich fällt bei einer Blutalkoholkonzentration
von über 2 Gew.%o eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit in Betracht
(siehe die Übersicht bei HENTSCHEL/BORN, op.cit., S. 86 ff.). Wenn das
Obergericht im neuen Verfahren dem Beschwerdeführer nicht von sich
aus eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit (in mittlerem Grade)
zubilligen will (vgl. dazu BGE 106 IV 242 E. 1b), wird es gemäss Art. 13
StGB ein Gutachten zur Frage der Verminderung der Zurechnungsfähigkeit im
Grundsatz und im Ausmass einholen müssen, da nach dem Gesagten bei einer
Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,26 Gew.%o ernsthafter Anlass
(siehe dazu BGE 102 IV 75 E. 1b, 98 IV 156) zu Zweifeln an der vollen
Zurechnungsfähigkeit des Fahrzeuglenkers besteht.

    Die Sache ist daher insoweit in teilweiser Gutheissung der
Nichtigkeitsbeschwerde zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.