Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 14



117 IV 14

5. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. März 1991 i.S. R. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 126 Abs. 1 StGB; Begriff der Tätlichkeit, Züchtigungsrecht
des Lehrers.

    Eine Tätlichkeit ist anzunehmen bei einer das allgemein übliche und
gesellschaftlich geduldete Mass überschreitenden physischen Einwirkung auf
einen Menschen, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur
Folge hat. Eine solche Einwirkung kann auch gegeben sein, wenn sie keine
körperlichen Schmerzen verursacht (E. 2a; Änderung der Rechtsprechung).

    Schliesst das Bundesrecht ein Züchtigungsrecht des Lehrers aus? Enthält
insbesondere das Verbot der Körperstrafe gemäss Art. 65 Abs. 2 BV auch ein
solches der körperlichen Züchtigung von Schülern durch den Lehrer? Fragen
offengelassen, da ein Züchtigungsrecht des Lehrers jedenfalls eine
formelle gesetzliche Grundlage voraussetzt und diese im hier massgeblichen
kantonalen Recht nicht besteht (E. 4).

Sachverhalt

    A.- R. ist Psychologe mit Hochschulabschluss und führt eine Praxis
für Lebensberatung. In seiner Freizeit betreibt er, ausgezeichnet mit
dem schwarzen Gurt, Karatesport.

    Vom 3. bis zum 15. Oktober 1988 beteiligte er sich als Hilfsleiter an
einem von der Stadt Solothurn organisierten Ferienlager für Schulkinder
in Vignogn (GR). Dort kam es am 10. Oktober 1988 zwischen ihm und dem
damals sechzehnjährigen D. zu einer Auseinandersetzung. In deren Verlauf
versetzte R. dem D. je einen Stoss ("Puff") im Bereich des Hüftansatzes
und auf den Arm.

    B.- Mit Urteil vom 11. Juli 1990 sprach der Kreisgerichtsausschuss
Lugnez R. schuldig der Tätlichkeit gemäss Art. 126 StGB und bestrafte
ihn mit einer Busse von Fr. 90.--.

    C.- Eine von R. dagegen eingereichte Berufung wies der
Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden am 18. September 1990 ab.

    D.- R. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten
ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer bringt im weiteren vor, der objektive
Tatbestand einer Tätlichkeit sei nicht erfüllt.

    a) aa) Gemäss Art. 126 Abs. 1 neue Fassung (gleichlautend wie Art. 126
alte Fassung) StGB wird mit Haft oder Busse bestraft, wer gegen jemanden
Tätlichkeiten verübt, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit
zur Folge haben. Was unter dem Begriff der Tätlichkeiten zu verstehen
ist, sagt das Gesetz nicht. Insbesondere schweigt es sich darüber aus,
welches Mindestmass ein Eingriff in die körperliche Integrität eines
Menschen erreichen muss, um nach Art. 126 StGB strafbar zu sein. Nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Tätlichkeit erst gegeben
bei einer Handlung, die den Betroffenen physisch schmerzt ("fait quelque
mal", vgl. BGE 107 IV 42; 89 IV 73; 69 IV 4; ebenso SCHUBARTH, Kommentar
zum schweizerischen Strafrecht, Besonderer Teil, 1. Band, Art. 126
N 1). Die Lehre lehnt dieses Erfordernis der Schmerzzufügung dagegen
überwiegend als zu eng ab; sie hält dafür, der objektive Tatbestand des
Art. 126 Abs. 1 StGB sei bereits erfüllt, wenn der Angriff beim Opfer
zu einer Störung des Wohlbefindens bzw. einem deutlichen Missbehagen
führt (vgl. NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, S. 47;
REHBERG, Strafrecht III, 5. Aufl., S. 36/7; TRECHSEL, Kurzkommentar zum
Schweizerischen Strafgesetzbuch, Art. 126 N 2). Soweit sie am Erfordernis
der Schmerzeinwirkung festhält, räumt sie ein, dass auf dieses bei
Substanzeingriffen wie Haareschneiden zu verzichten sei (vgl. SCHUBARTH,
aaO, Art. 126 N 2).

    bb) Art. 126 StGB schützt, wie sich aus seiner Einordnung bei den
strafbaren Handlungen gegen Leib und Leben (Art. 111 ff. StGB) ergibt,
die körperliche Integrität des Menschen. Seine Anwendung setzt somit
einen Angriff auf dieses Rechtsgut voraus; die Beeinträchtigung allein
der seelischen Unversehrtheit ist allenfalls als Ehrverletzung strafbar
(vgl. TRECHSEL, aaO, Art. 126 N 1). Führt der Angriff beim Betroffenen
zu einer Schädigung des Körpers oder der Gesundheit, ist gemäss Art. 126
Abs. 1 StGB keine Tätlichkeit mehr gegeben; hier greifen bereits die
Körperverletzungstatbestände ein. Als Tätlichkeiten erfasst das Gesetz
demnach nur die unbedeutendsten Angriffe auf den Körper des Menschen
(BGE 103 IV 69; 68 IV 85).

    Der Strafschutz würde indes überdehnt, wenn selbst bei den
geringfügigsten und alltäglichsten Beeinträchtigungen der körperlichen
Unversehrtheit eine Tätlichkeit angenommen würde. Nicht jede Berührung
kann strafbar sein. Strafwürdig sind nur Eingriffe, die über das
allgemein übliche und gesellschaftlich geduldete Mass hinausgehen; eine
damit zusammenhängende Beeinträchtigung der seelischen Integrität ist
mitzuberücksichtigen. Mit der Sozialordnung in Widerspruch steht eine
körperliche Einwirkung in jedem Fall dann, wenn sie dem Betroffenen
physische Schmerzen bereitet; hier ist (mindestens) eine Tätlichkeit
deshalb stets zu bejahen. Die Grenze des gemeinhin Üblichen kann aber auch
bei einem Angriff überschritten sein, der keine körperlichen Schmerzen
verursacht. So verhält es sich beispielsweise, wenn der Täter sein Opfer zu
Boden wirft, sich dieses aber nicht wehtut, weil es sich mit den Händen
auffangen oder abrollen und einen brüsken Aufprall damit verhindern
kann. In solchen Fällen erweist sich die bisherige Auffassung des
Kassationshofs, wonach eine Tätlichkeit erst gegeben sei, wenn das Opfer
körperliche Schmerzen verspürt, als zu eng. In Änderung der Rechtsprechung
ist eine Tätlichkeit gemäss Art. 126 StGB vielmehr anzunehmen bei einer
das allgemein übliche und gesellschaftlich geduldete Mass überschreitenden
physischen Einwirkung auf einen Menschen, die keine Schädigung des Körpers
oder der Gesundheit zur Folge hat (vgl. STRATENWERTH, Schweizerisches
Strafrecht, Besonderer Teil I, 3. Aufl., § 3 N 55).

    Nicht entscheidend sein kann, ob der Angriff beim Betroffenen zu einer
Störung des Wohlbefindens oder einem deutlichen Missbehagen führt; denn
sonst hinge die Strafbarkeit des Täters von der Empfindlichkeit des Opfers
ab. Wenn allerdings ein Eingriff in die körperliche Integrität geeignet
ist, bei einem durchschnittlich widerstandsfähigen Menschen eine Störung
des Wohlbefindens hervorzurufen, ist dies ein gewichtiges Indiz dafür,
dass er über das allgemein übliche und geduldete Mass hinausgeht.

    cc) Ob ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit als alltägliches
und gesellschaftlich toleriertes Verhalten anzusehen ist, ist im Einzelfall
unter Berücksichtigung der Tatumstände zu entscheiden. Sofern dadurch nicht
bereits eine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit bewirkt wird,
ist eine Tätlichkeit im allgemeinen jedoch anzunehmen bei Ohrfeigen,
Faustschlägen, Fusstritten und heftigen, insbesondere mit den Händen
und Ellbogen geführten Stössen, ferner beim Anwerfen fester Gegenstände
von einigem Gewicht, beim Begiessen des Opfers mit einer Flüssigkeit und
bei der Zerzausung einer kunstvollen Frisur. Harmlose Schubse, wie sie
namentlich im Gedränge, etwa in Warteschlangen vor Skiliften, vorkommen
können, sind dagegen keine Tätlichkeiten.

    b) Nach den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
(Art. 277bis Abs. 1 BStP) hat der Beschwerdeführer dem D. gezielt zwei
Stösse ("Püffe") versetzt und dadurch bei diesem eine vorübergehende,
wenn auch nur harmlose Störung des Wohlbefindens herbeigeführt.

    Dieser Angriff ist nicht mehr als allgemein übliches und gebilligtes
Verhalten zu betrachten. Der im Karatesport erfahrene Beschwerdeführer
wollte ein Exempel statuieren, und er attackierte D. in einer Weise, die
er selbst als gewagt einstufte. Die Stösse konnten im übrigen nicht völlig
harmlos gewesen sein; denn sie waren immerhin geeignet, das Wohlbefinden
eines sechzehnjährigen Burschen zu stören.

    Bei dieser Sachlage hat die Vorinstanz den objektiven Tatbestand der
Tätlichkeit gemäss Art. 126 StGB zu Recht bejaht.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, zur Züchtigung
des D. berechtigt gewesen zu sein.

    a) Das Bundesgericht hatte sich bisher nicht zur Frage auszusprechen,
ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein Lehrer zur Rechtfertigung einer
Tätlichkeit gegenüber einem Schüler auf ein Züchtigungsrecht berufen
könne. Allerdings wurde in BGE 89 IV 73 angenommen, eine leichte Züchtigung
(Ohrfeige), die ein Hausverwalter in Ausübung seiner Pflichten einem
Kinde zufügt und die innerhalb vernünftiger Grenzen bleibt, stelle keine
Tätlichkeit dar. In dieser Entscheidung kommt die Tendenz zum Ausdruck,
die Züchtigung wegen des Erziehungszwecks als gar nicht tatbestandsmässig
anzusehen (ebenso Corte di cassazione Ticino, Rep 110 (1977), S. 248 ff.).

    An dieser Rechtsprechung kann nicht festgehalten werden. Eine Ohrfeige
erfüllt den objektiven Tatbestand einer Tätlichkeit (oben E. 2). Dies gilt
auch dann, wenn der Täter aus einem erzieherischen Beweggrund gehandelt
hat (vgl. TRECHSEL, aaO, Art. 126 N 7; SCHULTZ, Die strafrechtliche
Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahre 1963, ZBJV 101 (1965), S. 19
ff.; SCHUBARTH, aaO, Art. 126 N 20); fragen kann man sich diesfalls nur,
ob die Tätlichkeit durch ein Züchtigungsrecht gerechtfertigt ist.

    b) Nach den Feststellungen der Vorinstanz hat der Gesetzgeber des
Kantons Graubünden ein Züchtigungsrecht des Lehrers durch qualifiziertes
Schweigen ausgeschlossen. Der Beschwerdeführer stellt dies nicht in
Frage. Auf eine entsprechende Rüge könnte auch nicht eingetreten werden,
da Ausführungen über die Verletzung kantonalen Rechts im Verfahren der
eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde unzulässig sind (Art. 273 Abs. 1
lit. b BStP). Es ist somit davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer
aufgrund des bündnerischen Rechts ein Züchtigungsrecht nicht zustand.

    c) aa) Die Vorinstanz hat überdies geprüft, ob sich ein
Züchtigungsrecht aus dem solothurnischen Recht ergebe. Sie geht offenbar
davon aus, dass sich das Züchtigungsrecht bei einem von einer Solothurner
Schule mit Solothurner Schülern in Graubünden durchgeführten Ferienlager
nicht oder jedenfalls nicht ausschliesslich nach dem bündnerischen Recht
beurteile und das solothurnische zumindest auch beachtlich sei. Ob diese
Auffassung zutrifft, kann offenbleiben, wenn ein Züchtigungsrecht nach
solothurnischem Recht nicht besteht.

    bb) Die Vorinstanz hält fest, dass im Kanton Solothurn das
Züchtigungsrecht des Lehrers gesetzlich nicht geregelt ist. Damit stellt
sich die Frage, ob es gewohnheitsrechtlich begründet sein könnte.

    cc) Die körperliche Züchtigung eines Schülers beeinträchtigt
einerseits das Recht der Eltern, über die Art der Erziehung ihres Kindes
zu entscheiden und insbesondere jede physische Massregelung desselben
abzulehnen (vgl. SCHUBARTH, aaO, Art. 126 N 14, und TRECHSEL, aaO, Art. 126
N 7, mit Hinweisen) und andererseits das Grundrecht der persönlichen
Freiheit und Menschenwürde des Betroffenen selbst. Als Eingriff in die
persönliche Freiheit bedarf sie einer formellen gesetzlichen Grundlage
(BGE 89 I 100; HALLER, Kommentar BV, Persönliche Freiheit, N 119; COTTIER,
Die Verfassung und das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage, Diss. Bern
1983, S. 53 ff.). Auf Gewohnheitsrecht lässt sich das Züchtigungsrecht
des Lehrers somit nicht stützen (ebenso SCHUBARTH, aaO; TRECHSEL,
aaO; kritisch auch HAFTER, Lehrbuch des Schweizerischen Strafrechts,
Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Bern 1946, S. 163; LOGOZ/SANDOZ, Commentaire
du Code Pénal Suisse, Partie générale, Art. 32 N 2c; anderer Ansicht
HAEFLIGER, ZStrR 80 (1964), S. 36 f.; WALDER, ZStrR 81 (1965), S. 43/4;
PLOTKE, Schweizerisches Schulrecht, Bern 1979, S. 312).

    dd) Auch nach dem Recht des Kantons Solothurn ist also ein
Züchtigungsrecht des Lehrers zu verneinen. Ausdrücklich ist ein solches
nicht vorgesehen, und gewohnheitsrechtlich ist es unzulässig. Im übrigen
würde Gewohnheitsrecht eine langdauernde, ununterbrochene und einheitliche
Übung voraussetzen, die der allgemeinen Rechtsüberzeugung entspricht
(vgl. HÄFELIN/HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 2. Aufl.,
S. 5). Von einer solchen Überzeugung kann beim Züchtigungsrecht des
Lehrers angesichts dessen zunehmender Ablehnung im Schrifttum und dessen
ausdrücklichen Ausschlusses in mehreren Kantonen (vgl. dazu die Hinweise
bei SCHUBARTH, aaO, Art. 126 N 29, und DINKELMANN, Die Rechtsstellung des
Schülers im Schülerdisziplinarrecht, Diss. Zürich 1985, S. 75 ff. und 132)
jedoch nicht mehr gesprochen werden.

    d) Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob ein Züchtigungsrecht des
Lehrers überdies aus anderen Gründen abzulehnen ist, etwa deshalb, weil
es den Kantonen nicht nach Belieben offensteht, Rechtfertigungsgründe
in ihrem öffentlichen Recht zu schaffen, sondern nur im Rahmen der
Wertungen, die durch das Bundesrecht vorgezeichnet sind (vgl. SCHUBARTH,
aaO, Art. 126 N 15, mit Nachweisen), oder weil nach neuerer Auffassung
aus dem Verbot der Körperstrafe nach Art. 65 Abs. 2 BV auch ein Verbot
der körperlichen Züchtigung von Schülern durch den Lehrer herzuleiten
ist (so DICKE, Kommentar BV, Art. 65 N 25, mit Hinweisen). Offengelassen
werden kann auch, ob eine Rechtfertigung mit der zusätzlichen Begründung
zu verneinen wäre, der Beschwerdeführer habe nicht innerhalb der Grenzen
eines allfälligen Züchtigungsrechts gehandelt.

    e) Anzumerken bleibt, dass körperliche Massnahmen gegenüber einem
Schüler dem Lehrer auch dann nicht in jedem Fall untersagt sind, wenn
ihm ein Züchtigungsrecht nicht zusteht. Unter den Voraussetzungen der
Notwehr ist er berechtigt, Angriffe eines Schülers gegen ihn selbst,
gegen einen Klassengefährten oder gegen das öffentliche Eigentum, soweit
erforderlich, durch einen körperlichen Zugriff abzuwehren (vgl. JESCHECK,
Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 4. Aufl., Berlin 1988, S. 356;
SCHÖNKE/SCHRÖDER/ESER, Kommentar, 23. Aufl., § 223 N 20).