Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 135



117 IV 135

28. Urteil des Kassationshofes vom 26. März 1991 i.S. Generalprokurator
des Kantons Bern gegen E. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 139 Ziff. 1bis und Ziff. 2 StGB; qualifizierter Raub; gefährliche
Waffe; Offenbarung der besonderen Gefährlichkeit.

    Die besondere Gefährlichkeit gemäss Art. 139 Ziff. 2 StGB
ist nur zu bejahen, wenn die Tat aufgrund der Umstände nach ihrem
Unrechts- und Schuldgehalt besonders schwer wiegt. In Anbetracht der
Tatumstände (spontaner Entschluss, Aussicht auf nur geringe Beute, keine
Verletzungsgefahr) verneint bei einem Räuber, der in zwei Fällen eine
Frau mit der geöffneten Klinge eines Taschenmessers bedroht hat (E. 1).

    Ein ungeöffnet mitgeführtes Taschenmesser ist keine Waffe; ein
geöffnetes Taschenmesser ist jedenfalls keine gefährliche Waffe im Sinne
von Art. 139 Ziff. 1bis StGB (E. 1c).

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 30. März 1990 sprach das Strafamtsgericht Biel
E. des wiederholten und unter Offenbarung besonderer Gefährlichkeit im
Sinne von Art. 139 Ziff. 2 StGB begangenen Raubes sowie des wiederholten
Diebstahlversuchs schuldig und verurteilte ihn zu zweieinhalb Jahren
Gefängnis, abzüglich 277 Tage Untersuchungshaft. Zudem ordnete es gemäss
Art. 44 Ziff. 1 StGB eine ambulante Behandlung an; den Strafvollzug schob
es nicht auf.

    Der Verurteilung wegen wiederholten qualifizierten Raubes gemäss
Art. 139 Ziff. 2 StGB liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Am 20. April
1989, um ca. 13.50 Uhr, hielt E. der 45jährigen D. auf offener Strasse
in Biel die Klinge eines aufgeklappten Taschenmessers gegen den Bauch und
verlangte von ihr Geld. Das gleiche tat er am nämlichen Tag, um ca. 17.30,
gegenüber der 32jährigen A. Von D. erhielt er ungefähr Fr. 40.--, von
A. Fr. 102.--. Beide Frauen hatten ihren eigenen Aussagen zufolge Angst
vor der Bedrohung mit dem Messer und gaben das Geld deswegen heraus. Nach
Entgegennahme der Beute lief E. in beiden Fällen sofort weg.

    B.- In teilweiser Gutheissung einer Appellation des E. beurteilte
die 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern am 13. Juli 1990 die
am Nachmittag des 20. April 1989 in Biel begangenen Taten lediglich als
wiederholten einfachen Raub gemäss Art. 139 Ziff. 1 StGB und setzte deshalb
die Strafe auf 2 Jahre Gefängnis, abzüglich 382 Tage Untersuchungshaft,
herab.

    C.- Dagegen führt die ausserordentliche Generalprokuratorin des
Kantons Bern eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, das
Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Schuldigsprechung
des E. wegen wiederholten qualifizierten Raubes gemäss Art. 139 Ziff. 2
StGB sowie zur Neubemessung der Strafe an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Der Beschwerdegegner beantragt Abweisung der Beschwerde.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab aus den folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Der Beschwerdegegner hat in der Absicht, einen Diebstahl zu
begehen, D. und A. mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben
bedroht und sie dadurch zum Widerstand unfähig gemacht. Damit hat er
jeweils den Grundtatbestand des Raubes gemäss Art. 139 Ziff. 1 StGB
verwirklicht.

    Gemäss Art. 139 Ziff. 2 Abs. 3 StGB wird der Räuber mit Zuchthaus
nicht unter zwei Jahren bestraft, "wenn er sonstwie durch die Art, wie er
den Raub begeht, seine besondere Gefährlichkeit offenbart". Die Anwendung
dieser Bestimmung hat wegen der darin enthaltenen Mindeststrafdrohung von
zwei Jahren Zuchthaus zur Folge, dass der bedingte Strafvollzug gemäss
Art. 41 Ziff. 1 StGB von vornherein ausscheidet, und zwar auch bei einem
Ersttäter mit günstiger Prognose. Dies spricht, wie der Kassationshof in
BGE 116 IV 312 ff. ausgeführt hat, dafür, Art. 139 Ziff. 2 StGB restriktiv
auszulegen. Dabei ist zu beachten, dass bereits der Grundtatbestand des
Raubes einen Angriff auf die Person des Opfers und damit begriffsnotwendig
deren mehr oder weniger grosse Gefährdung voraussetzt. Die in Art. 139
Ziff. 2 StGB genannte besondere Gefährlichkeit ist deshalb nur zu bejahen,
wenn die konkrete Tat nach ihrem Unrechts- und Schuldgehalt besonders
schwer wiegt. Ob dies der Fall ist, ist aufgrund der Tatumstände zu
prüfen. Die Anwendung des Art. 139 Ziff. 2 Abs. 3 StGB lässt sich
namentlich begründen mit der professionellen Vorbereitung der Tat und
der ausgeprägt kühnen, verwegenen, heimtückischen, hinterlistigen oder
skrupellosen Art ihrer Begehung (BGE 116 IV 315 ff. E. 2d und e).

    b) Nach den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz
(Art. 277bis Abs. 1 BStP) hat der Beschwerdegegner nicht die geringsten
Vorkehren organisatorischer oder technischer Natur getroffen. Er hat
sich zur Tat vielmehr spontan entschlossen, und das Taschenmesser hat er
stets bei sich gehabt. Auch die Flucht hat er nicht geplant. Zudem ist
gemäss den Sachverhaltsfeststellungen im angefochtenen Entscheid davon
auszugehen, dass, anders als dies beim Einsatz einer Schusswaffe der Fall
gewesen wäre, die Gefahr einer ungewollten Verletzung der Opfer nicht
bestand. Überdies ist in Rechnung zu stellen, dass der Beschwerdegegner,
wie die Vorinstanz zu seinen Gunsten angenommen hat, nicht zugestochen
hätte, sondern davongelaufen wäre, wenn sich bei der Tatausführung für
ihn Schwierigkeiten ergeben hätten. Zu berücksichtigen ist ferner, dass
er die Raubtaten am hellichten Tage auf offener Strasse begangen und kaum
Aussicht auf reiche Beute gehabt hat.

    Daraus ergibt sich, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der vom
Beschwerdegegner verübten Taten nicht besonders schwer wiegt. Er hat
sein Vorgehen nicht professionell geplant und ist bei der Tatausführung
auch nicht besonders kühn, verwegen, heimtückisch, hinterlistig oder
skrupellos vorgegangen. Die Vorinstanz hat die besondere Gefährlichkeit
im Sinne von Art. 139 Ziff. 2 StGB somit zu Recht verneint.

    c) Die Beschwerdeführerin begründet ihren hievon abweichenden
Standpunkt damit, das vom Beschwerdegegner verwendete Taschenmesser sei
eine gefährliche Waffe; werde eine solche bei einem Raub eingesetzt,
sei Art. 139 Ziff. 2 StGB zwingend anzuwenden.

    aa) Dieser Einwand ist unbehelflich. Zwar hat der Kassationshof in
BGE 110 IV 77 ff. E. 2 festgehalten, wer eine Schusswaffe oder eine andere
gefährliche Waffe zum Zweck des Raubes nicht nur mit sich führe, sondern,
etwa zur Drohung, gebrauche, sei nicht nur nach Art. 139 Ziff. 1bis StGB zu
bestrafen; der Gebrauch gehe über den Rahmen dieser Bestimmung hinaus. Aus
Erwägung 3 ist jedoch zu ersehen, dass das Bundesgericht in jenem Entscheid
nicht allein aus dem Schusswaffengebrauch auf die besondere Gefährlichkeit
geschlossen, sondern diese vielmehr aufgrund einer umfassenden Würdigung
sämtlicher Tatumstände bejaht hat. Es hat vor allem berücksichtigt, dass
der im Umgang mit Waffen unerfahrene Täter mit einer geladenen Pistole,
die nicht gesichert werden konnte, Postkunden bedroht hat und damit,
anders als der Beschwerdegegner, das Risiko einer ungewollten Verletzung
der bedrohten Personen eingegangen ist.

    bb) Selbst wenn die besondere Gefährlichkeit gemäss Art. 139 Ziff. 2
StGB aber auch aus dem Gebrauch einer gefährlichen Waffe im Sinne von
Art. 139 Ziff. 1bis StGB stets zu folgern wäre, hätte sie die Vorinstanz
zu Recht verneint. Denn ein Taschenmesser ist in der Regel keine Waffe
(vgl. NOLL, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, S. 142;
TRECHSEL, Kurzkommentar zum Schweizerischen Strafgesetzbuch, Art. 137 N
20). Waffen sind nach der Rechtsprechung Gegenstände, die, wie Schlagringe
oder Gummiknüppel, nach ihrer Bestimmung dem Angriff oder der Verteidigung
dienen (BGE 113 IV 61 mit Hinweisen). Diese Bestimmung ist bei einem
Taschenmesser, wenn es ungeöffnet mitgeführt wird, nicht gegeben. Es
handelt sich bei ihm vielmehr um ein Objekt, das dazu bestimmt ist, als
Werkzeug zu dienen. Dass es wie eine Waffe eingesetzt werden kann und
dann unter Umständen nicht weniger gefährlich ist, ist unerheblich; denn
der Begriff der Waffe ist im Gegensatz zu jenem des gefährlichen Werkzeugs
gemäss Art. 123 Ziff. 1 Abs. 2 StGB abstrakt, d.h. unabhängig von der Art
der Verwendung im konkreten Fall zu definieren (BGE 112 IV 14). Allerdings
könnte man ein geöffnetes Taschenmesser als eine Stichwaffe ansehen. Doch
wäre ein geöffnetes Militärsackmesser auf Grund seiner Grösse und wohl
auch seiner Eignung jedenfalls keine gefährliche Waffe im Sinne von Art.
139 Ziff. 1bis StGB (vgl. Obergericht Solothurn, SJZ 83 (1987), S. 154).

    cc) Allein deswegen, weil ein Taschenmesser in der Regel keine
Waffe ist, ist die Annahme der besonderen Gefährlichkeit gemäss Art. 139
Ziff. 2 StGB in Fällen, in denen es eingesetzt wird, allerdings nicht
ausgeschlossen; denn der Unterschied zwischen einer gefährlichen Waffe
und einem ebensolchen Werkzeug entscheidet nur über die Anwendung von
Art. 139 Ziff. 1bis, nicht aber über jene von Art. 139 Ziff. 2 StGB. Die
Qualifikation der Tat gemäss Art. 139 Ziff. 2 Abs. 3 StGB hängt ab von
ihrem Unrechts- und Schuldgehalt, der, wie dargelegt, angesichts des von
der Vorinstanz verbindlich festgestellten Sachverhalts hier nicht als
besonders schwer betrachtet werden kann.