Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IV 107



117 IV 107

23. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 8. März 1991 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Bern gegen S. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    1. Art. 270 Abs. 1 BStP; öffentlicher Ankläger des Kantons; Befugnis
zu dessen Vertretung.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern ist öffentlicher Ankläger
des Kantons im Sinne von Art. 270 Abs. 1 BStP. Für die Beantwortung
der Frage, ob der stellvertretende Prokurator im Einzelfall als
Vertreter der Staatsanwaltschaft zur Führung der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde befugt und diese damit gültig erhoben ist, ist
das kantonale Organisationsrecht massgebend (E. 1a).

    2. Art. 58 und Art. 60 StGB; Wahrung der Interessen des Staates,
des Täters und des Geschädigten bei der Einziehung des unrechtmässigen
Vermögensvorteils.

    Die Einziehung nach Art. 58 Abs. 1 lit. a StGB ist stets anzuordnen,
solange der Täter über den unrechtmässigen Vermögensvorteil verfügt
(E. 2a). Um den Täter vor der Gefahr der Doppelzahlung zu schützen, hat der
Richter die Einziehung zu verfügen unter dem Vorbehalt der Rückübertragung
eingezogener Vermögenswerte auf den Täter, sofern und soweit dieser dem
Geschädigten Schadenersatz geleistet hat (E. 2b). Sind die Voraussetzungen
des Art. 60 StGB gegeben, muss der Richter dem Geschädigten eingezogene
Vermögenswerte zuerkennen (E. 2c; Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- S. war Geschäftsführer der im Weinhandel tätigen R. AG.
In der Zeit vom Sommer 1976 bis Ende 1981 bezog er mehrfach Wein anstatt
unmittelbar für die R. AG auf Rechnung der von ihm beherrschten V. SA und
fakturierte die Lieferung anschliessend zu einem erhöhten Preis seiner
Arbeitgeberfirma weiter.

    B.- Am 8. Juni 1989 erklärte das Wirtschaftsstrafgericht des Kantons
Bern S. der fortgesetzten qualifizierten ungetreuen Geschäftsführung
schuldig und verurteilte ihn zu 18 Monaten Gefängnis bedingt, unter
Auferlegung einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse von
Fr. 5'000.--. Die von der R. AG adhäsionsweise eingereichte Zivilklage
sprach es dem Grundsatz nach zu und wies diese zur Berechnung der Höhe
des geschuldeten Betrags an den Zivilrichter. Von der Einziehung des
unrechtmässigen Vermögensvorteils gemäss Art. 58 StGB sah es ab.

    C.- Gegen diesen Verzicht auf die Einziehung führt
die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben
und die Sache zwecks Erkennung auf eine Ersatzforderung des Staates im
Betrag von Fr. 540'000.-- an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Der Beschwerdegegner beantragt Abweisung der Beschwerde. Die
R. AG verzichtet auf die Stellung eines Antrags.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Der Beschwerdegegner macht geltend, der stellvertretende
Prokurator 1 sei zur Nichtigkeitsbeschwerde nicht legitimiert; die
Beschwerdebefugnis stehe ausschliesslich dem Generalprokurator zu.

    aa) Dieser Einwand geht fehl. Beschwerdeführer ist nicht der
stellvertretende Prokurator 1, sondern die Staatsanwaltschaft des Kantons
Bern. Deren Aufgabe besteht gemäss Art. 89 des bernischen Gesetzes über die
Organisation der Gerichtsbehörden (GOG/BE; BSG 161.1) unter anderem darin,
die Schuldigen vor den Strafgerichten zur Verantwortung zu ziehen. Sie ist
mithin öffentlicher Ankläger des Kantons im Sinne von Art. 270 Abs. 1 BStP
und zur Nichtigkeitsbeschwerde legitimiert (BGE 115 IV 154 E. 4). Fragen
kann man sich nur, ob der stellvertretende Prokurator 1 befugt war, als
Vertreter der Staatsanwaltschaft zu handeln. Sollte dies zu verneinen sein,
wäre die Beschwerde nicht gültig erhoben worden.

    bb) Art. 84 Abs. 1 GOG/BE legt fest, welches die Beamten der
Staatsanwaltschaft des Kantons Bern sind. Gemäss Art. 84 Abs. 2
Satz 1 GOG/BE kann der Grosse Rat stellvertretende Prokuratoren
einsetzen. Dies hat er mit Dekret vom 29. August 1983 über den Ausbau
der Staatsanwaltschaft getan (BSG 164.21). Den Aufgabenbereich
der stellvertretenden Prokuratoren hat die Anklagekammer des
Obergerichts in Ausführung von Art. 84 Abs. 2 Satz 2 GOG/BE auf Antrag
des Generalprokurators mit Verfügung vom 10. April 1987 festgelegt.
Danach führen die stellvertretenden Prokuratoren 1 bis 3 die Aufsicht über
Voruntersuchungen in Wirtschaftssachen und vertreten die Anklage in diesen
Geschäften; Einzelanordnungen über die Zuweisung der Wirtschaftsstrafsachen
trifft die Anklagekammer. Eine solche Anordnung erging am 30. Oktober 1984.
Darin wurde in der Untersuchungssache gegen den Beschwerdegegner dem
stellvertretenden Prokurator 1 auf Antrag des Generalprokurators die
Ausübung der staatsanwaltschaftlichen Funktionen übertragen. Damit ging
aber auch die Befugnis auf den stellvertretenden Prokurator 1 über, als
Vertreter der Staatsanwaltschaft die zur Verfügung stehenden Rechtsmittel
einzulegen.
   cc) Die Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach gültig erhoben worden.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz verzichtete auf eine Einziehung im wesentlichen
mit der Begründung, diese könnte zu einer vom Gesetz nicht gewollten
Doppelzahlung durch den Beschwerdegegner führen, nämlich dann, wenn die
Geschädigte gestützt auf die Zusprechung ihrer Klage dem Grundsatz nach
ungeachtet der Einziehung vom Beschwerdegegner Schadenersatz verlangen
würde; dies stünde ihr, der Geschädigten, frei, da sie zu einem Vorgehen
nach Art. 60 StGB nicht verpflichtet sei. Dem hält die Staatsanwaltschaft
entgegen, es sei bundesrechtswidrig, von einer Gewinnabschöpfung abzusehen,
wenn nicht gleichzeitig eine Zivilforderung endgültig zugesprochen werde;
denn wenn die Zivilpartei ihre Forderung nicht weiterverfolge, verbleibe
dem Täter der Gewinn.

    a) Gemäss Art. 58 Abs. 1 lit. a StGB verfügt der Richter ohne Rücksicht
auf die Strafbarkeit einer bestimmten Person die Einziehung von (...)
Vermögenswerten, die durch eine strafbare Handlung (...) erlangt worden
sind (...), soweit die Einziehung zur Beseitigung eines unrechtmässigen
Vorteils oder Zustandes als geboten erscheint; sind (...) Vermögenswerte
bei demjenigen, der durch sie einen unrechtmässigen Vorteil erlangt hat
und bei dem sie einzuziehen wären, nicht mehr vorhanden, so wird nach
Art. 58 Abs. 4 StGB auf eine Ersatzforderung des Staates in der Höhe des
unrechtmässigen Vorteils erkannt. Sinn und Zweck dieser Bestimmungen ist
es, zu verhindern, dass der Täter im Genuss eines durch eine strafbare
Handlung erlangten Vermögensvorteils bleibt; strafbares Verhalten soll
sich nicht lohnen (BGE 105 IV 171 E. c mit Hinweisen).

    Dieser Forderung ist entsprochen, wenn der Täter dem Geschädigten
den Schaden ersetzt hat und über den unrechtmässigen Vermögensvorteil
deshalb nicht mehr verfügt. Anders verhält es sich, wenn er noch
keine Schadenersatzleistungen erbracht hat. Diesfalls steht ihm der
unrechtmässige Vorteil noch zu, und zwar selbst dann, wenn der Geschädigte
Schadenersatz beansprucht und der Richter eine entsprechende Klage bereits
gutgeheissen hat. Erst mit der Erfüllung der Schadenersatzpflicht ist
sichergestellt, dass der Täter die Früchte des strafbaren Verhaltens
verloren hat, und erst dann rechtfertigt sich der Verzicht auf eine
Einziehung. Entsprechend dem Grundgedanken des Art. 58 Abs. 1 lit. a
StGB ist die Einziehung somit stets anzuordnen, solange der Täter noch
im Besitz des unrechtmässigen Vermögensvorteils ist.

    Es ist indes einzuräumen, dass sich der Täter damit der Gefahr
der Doppelzahlung ausgesetzt sieht. Denn der Schadenersatzanspruch des
Geschädigten geht mit der Einziehung des unrechtmässigen Vermögensvorteils
nicht unter. Zudem ist der Geschädigte nicht verpflichtet, vom Staat die
Zuwendung der eingezogenen Vermögenswerte nach Art. 60 StGB zu verlangen;
er kann vielmehr weiterhin gegen den Täter vorgehen. Dessen doppelte
Inanspruchnahme kann auch der Richter nicht dadurch verhindern, dass er
eingezogene Vermögenswerte von sich aus dem Geschädigten zuerkennt und
damit den Täter vor der Geltendmachung von Schadenersatz durch diesen
schützt. Denn eine entsprechende Zuwendung setzt gemäss Art. 60 Abs. 3
StGB einen Antrag des Geschädigten voraus; ausserdem kann sie nur erfolgen,
wenn der Täter dem Geschädigten den Schaden voraussichtlich nicht ersetzen
wird und der Schadenersatz, anders als hier, der Höhe nach gerichtlich
oder durch Vergleich festgesetzt ist (Art. 60 Abs. 1 StGB).

    b) Gewahrt bleibt sowohl das Interesse des Staates an der
Gewinnabschöpfung als auch jenes des Täters, den unrechtmässigen Vorteil
nur einmal herauszugeben, wenn der Richter eine Einziehung verfügt
mit dem Vorbehalt der Rückübertragung der eingezogenen Vermögenswerte
auf den Täter, sofern und soweit dieser dem Geschädigten Schadenersatz
geleistet hat. Damit besteht Gewähr, dass dem Täter der unrechtmässige
Vermögensvorteil entzogen wird, ohne dass er Gefahr läuft, doppelt zu
bezahlen. Zur Verhinderung von Missbräuchen ist die Rückübertragung
eingezogener Vermögenswerte vom Nachweis des Täters abhängig zu machen,
dass die erbrachte Schadenersatzleistung tatsächlich geschuldet war.

    c) Die Einziehung des unrechtmässigen Vermögensvorteils kann es
mit sich bringen, dass der Geschädigte beim Täter kein ausreichendes
Haftungssubstrat mehr vorfindet (vgl. zur Kollision der Interessen des
Staates, des Täters und des Geschädigten ALBIN ESER, Die strafrechtlichen
Sanktionen gegen das Eigentum, Tübingen 1969, S. 294 ff.). Diesfalls kann
er jedoch vom Richter die Zuerkennung der eingezogenen Vermögenswerte
gemäss Art. 60 Abs. 1 StGB verlangen. Zwar wurde in BGE 89 IV 174 gesagt,
der Geschädigte habe selbst dann keinen Anspruch auf die Zuwendung
eingezogener Vermögenswerte, wenn die Voraussetzungen des Art. 60 StGB
gegeben seien. Daran kann jedoch nicht festgehalten werden. In den
Fällen, in denen vom Täter Schadenersatz nicht erhältlich ist, würde die
Weigerung des Richters, dem Geschädigten eingezogene Vermögenswerte bis
zur Höhe des gerichtlich oder durch Vergleich festgesetzten Schadenersatzes
zuzuerkennen, zu einer Bereicherung des Staates auf Kosten des Geschädigten
führen. Dies ist klarerweise nicht der Sinn der Einziehung. Sind die
Voraussetzungen des Art. 60 StGB erfüllt, muss daher der Richter dem
Geschädigten eingezogene Vermögenswerte zuwenden (ebenso SCHULTZ, Die
Einziehung, der Verfall von Geschenken und anderen Zuwendungen sowie
die Verwendung zugunsten des Geschädigten gemäss StrGB rev. Art. 58 f.,
ZBJV 114 (1978), S. 334/5).

    Diese Lösung rechtfertigt sich auch mit Blick auf die heutigen
Bestrebungen, die Rechtsstellung des Geschädigten zu verbessern, und
sie entspricht der im Rahmen des Erlasses eines Opferhilfegesetzes
vorgeschlagenen Änderung von Art. 60 StGB, wonach dem Geschädigten ein
Rechtsanspruch auf Zuerkennung eingezogener Vermögenswerte eingeräumt
werden soll, wenn die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (vgl.

    Botschaft zu einem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten
vom 25. April 1990, BBl 1990 II, S. 961 ff., insb. S. 996).