Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 II 72



117 II 72

17. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. Mai 1991 i.S. B. AG
gegen Kantonales Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (KIGA), Abteilung
Arbeitslosenkasse (Berufung) Regeste

    Art. 321a Abs. 1 OR.

    Keine Treuepflichtverletzung des Arbeitnehmers, der zwar
in ungekündigter Stellung, jedoch bei voller Erbringung seiner
Arbeitsleistungen eine Einzelfirma gründet, die ihre Tätigkeit erst nach
Auflösung des Arbeitsverhältnisses aufnehmen und den früheren Arbeitgeber
nicht konkurrenzieren soll (E. 3 und 4).

Sachverhalt

    A.- H. J. war seit dem 1. September 1987 bei der B. AG als Organisator
angestellt und beabsichtigte im Herbst 1988, sich im Frühling 1989
selbständig zu machen. Am 14. November 1988 gründete er die Einzelfirma
Data Consulting J. mit dem Tätigkeitsbereich "Beratung über, Schulung für
und Vermittlung von EDV-Lösungen". Im Gespräch mit zwei Vorgesetzten gab
J. am 25. November 1988 zu, dass er eine Firma gegründet hatte. Noch am
gleichen Tag wurde J. fristlos entlassen. Bis zum Ablauf der ordentlichen
Kündigungsfrist Ende Februar 1989 war J. arbeitslos und bezog von der
Arbeitslosenversicherung Fr. 12'838.20.

    B.- Das Kantonale Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (KIGA),
Abteilung Arbeitslosenkasse, auf das die Ansprüche von J. im Umfang der
erbrachten Versicherungsleistungen übergegangen waren (Art. 29 Abs. 2
AVIG), klagte am 4. Juli 1989 beim Gerichtspräsidenten IV von Bern gegen
die B. AG auf Zahlung von Fr. 12'838.20. Der Gerichtspräsident verneinte
einen wichtigen Grund für die fristlose Entlassung von J. und hiess die
Klage am 21. Juni 1990 gut. Der Appellationshof des Kantons Bern bestätigte
das erstinstanzliche Urteil mit Entscheid vom 8. Oktober 1990. Die Beklagte
ficht diesen Entschied erfolglos mit Berufung beim Bundesgericht an.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Aus wichtigen Gründen kann ein Arbeitsverhältnis jederzeit fristlos
aufgelöst werden (Art. 337 Abs. 1 OR). Ein wichtiger Grund liegt dann
vor, wenn einer Partei die Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zugemutet
werden darf (Abs. 2). Nach der Rechtsprechung rechtfertigen nur besonders
schwere Verfehlungen des Arbeitnehmers dessen fristlose Entlassung (BGE
116 II 150 E. 6a). Eine Verfehlung setzt voraus, dass der Arbeitnehmer
entweder seine Arbeitspflichten oder seine Treuepflichten verletzt hat.

Erwägung 4

    4.- Die Beklagte will zur fristlosen Entlassung von J.  berechtigt
gewesen sein, weil dieser während bestehendem Arbeitsvertrag im Hinblick
auf die beabsichtigte selbständige Erwerbstätigkeit eine Einzelfirma
gegründet habe.

    a) Nach Art. 321a Abs. 1 OR hat der Arbeitnehmer die berechtigten
Interessen des Arbeitgebers in guten Treuen zu wahren. Er hat insbesondere
alles zu unterlassen, was den Arbeitgeber wirtschaftlich schädigen könnte
(REHBINDER, N. 3 zu Art. 321a OR; STAEHELIN, N. 14 zu Art. 321a OR). Die
Treuepflicht des Arbeitnehmers ist jedoch nicht schrankenlos. Grenze der
Treuepflicht sind die berechtigten eigenen Interessen des Arbeitnehmers
an der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit, zu denen insbesondere
auch das Interesse an einer anderen Tätigkeit gehört (REHBINDER, N. 7, 9
zu Art. 321a OR; STAEHELIN, N. 8, 34 zu Art. 321a OR; BRÜHWILER, N. 2c zu
Art. 321a OR). Deshalb darf ein Arbeitnehmer bei bestehendem Arbeitsvertrag
eine spätere Tätigkeit vorbereiten. Jedoch verletzt er seine Treuepflicht,
wenn diese Vorbereitungen gegen Treu und Glauben verstossen. Das ist vor
allem dann der Fall, wenn der Arbeitnehmer noch während der Kündigungsfrist
mit der Konkurrenzierung beginnt oder seinem Arbeitgeber Angestellte
oder Kunden abwirbt (BGE 104 II 28 Nr. 6; unveröffentlichtes Urteil der
I. Zivilabteilung vom 26. Mai 1988 i.S. L. S.A. gegen de M., E. 2);
führen die Vorbereitungen zu einer Beeinträchtigung der Arbeitsleistung,
verletzt der Arbeitnehmer nicht seine Treuepflicht im Sinne von Art. 321a
OR, sondern seine Arbeitspflicht. Durch abweichende Parteivereinbarungen
können die erwähnten Pflichten, die dem Arbeitnehmer nach dispositivem
Gesetzesrecht obliegen, erweitert oder beschränkt werden (REHBINDER,
N. 2 zu Art. 321a OR; STAEHELIN, N. 9 zu Art. 321a OR).

    Nach den verbindlichen Feststellungen des Appellationshofes
war J. bis zu seiner fristlosen Entlassung am 25. November 1988
während der Arbeitsstunden voll für die Beklagte tätig. Im kantonalen
Verfahren war unbestritten, dass die private Tätigkeit von J. nicht zu
einer Beeinträchtigung seiner Arbeitsleistungen geführt hatte. Seiner
Arbeitspflicht ist J. somit nachgekommen. Der von der Beklagten erhobene
Vorwurf der Konkurrenzierung scheitert an der verbindlichen Feststellung
der Vorinstanz, dass das Angebot der Einzelfirma von J. für einen anderen
Kundenkreis bestimmt war als das Angebot der Beklagten. Schliesslich
bestand zwischen den Parteien auch keine besondere Vereinbarung, welche
die Pflichten von J. erweitert und diesem ohne vorgängige Bewilligung
der Arbeitgeberin die Gründung einer Einzelfirma verboten hätte, wie
die Beklagte unter Hinweis auf ihr Mitarbeiterhandbuch meint. Gegen
dieses verstiess das Verhalten von J. weder dem Wortlaut noch dem
Sinn nach. Im Handbuch wird einzig die Tätigkeit für Dritte und die
Übernahme von Mandaten in einer juristischen Person oder von öffentlichen
Ämtern von einer Bewilligung der Arbeitgeberin abhängig gemacht. Die am
14. November 1988 erfolgte Gründung der Einzelfirma von J. war aber weder
eine Tätigkeit für Dritte noch eine Mandatsübernahme in einer juristischen
Person, sondern eine Handlung, welche die selbständige Erwerbstätigkeit
vorbereiten sollte, die J. nach dem Ausscheiden aus dem Betrieb der
Beklagten aufzunehmen beabsichtigte. Auf die Vorbereitung eines erst
nach Beendigung des Arbeitsvertrags aktuell werdenden Engagements bezog
sich die Bewilligungspflicht für "ausserbetriebliche Tätigkeit" gemäss
Mitarbeiterhandbuch selbstverständlich nicht.

    b) Zu prüfen bleibt der Einwand der Beklagten, es sei trotzdem
eine Treuepflichtverletzung anzunehmen, weil J. seine Einzelfirma in
ungekündigter Stellung gegründet habe. Zwar befassen sich Literatur
und Judikatur mit den zulässigen Vorbereitungshandlungen während
laufender Kündigungsfrist und räumen dem Arbeitnehmer in diesem Zeitraum
weitgehende Befugnisse ein wie namentlich die Gründung und Eintragung
einer Konkurrenzfirma, solange diese nicht vor Ablauf der Kündigungsfrist
ihre Tätigkeit aufnimmt (REHBINDER, N. 9 zu Art. 321a OR; STAEHELIN,
N. 34 zu Art. 321a OR; BRÜHWILER, N. 2c zu Art. 321a OR; STREIFF,
Leitfaden zum Arbeitsvertragsrecht, 4. A. 1986, N. 5e zu Art. 337 OR;
zitiertes Urteil der I. Zivilabteilung vom 26. Mai 1988). Auch gewährt
Art. 329 Abs. 3 OR dem Arbeitnehmer erst nach erfolgter Kündigung die
für das Aufsuchen einer anderen Arbeitsstelle erforderliche Freizeit.

    Daraus darf indessen nicht geschlossen werden, dass vor der
Kündigung jede Vorbereitungshandlung des Arbeitnehmers im Hinblick auf
seinen Austritt als Treuepflichtverletzung zu qualifizieren wäre mit
der unhaltbaren Folge, dass der Arbeitnehmer eine neue Tätigkeit erst
vorbereiten dürfte, nachdem er gekündigt hat. Das faktische Interesse des
Arbeitgebers, dass ein Arbeitnehmer nicht kündigt, ist kein berechtigtes
Interesse im Sinne von Art. 321a Abs. 1 OR, hat doch jede Partei das
Recht, den Arbeitsvertrag unter Einhaltung der Kündigungsfristen einseitig
aufzulösen. Auch Vorbereitungen, die der Arbeitnehmer für die Zeit nach
Beendigung des Arbeitsverhältnisses trifft und von deren Ausgang es
regelmässig abhängt, ob er überhaupt kündigt, können nicht schon deshalb
treuwidrig sein, weil der Arbeitnehmer damit die Absicht bekundet, sein
Recht zur Auflösung des Arbeitsvertrags auszuüben und sich vom bisherigen
Arbeitgeber zu trennen. Immer unter Wahrung seiner Treuepflichten muss
es dem Arbeitnehmer bereits vor der Kündigung freistehen, eine neue
Beschäftigung vorzubereiten. Auch im ungekündigten Vertragsverhältnis
setzt eine Verletzung der Treuepflicht aber voraus, dass das Verhalten
des Arbeitnehmers geeignet ist, die berechtigten wirtschaftlichen
Interessen des Arbeitgebers zu beeinträchtigen. Davon kann vorliegend
keine Rede sein. Indem sich nämlich J. bei voller Erbringung seiner
Arbeitsleistungen damit begnügte, eine Einzelfirma zu gründen, die erst
nach Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist ihre Tätigkeit aufnehmen und
die Beklagte dabei nicht konkurrenzieren sollte, wurden die berechtigten
wirtschaftlichen Interessen der Beklagten in keiner Weise berührt.
Daher kann vorliegend offenbleiben, inwieweit sich die Treuepflicht vor
der Kündigung von der abgeschwächten Treuepflicht nach der Kündigung
unterscheidet (STAEHELIN, N. 34 zu Art. 329a OR; THOMAS GEISER, Die
Treuepflicht des Arbeitnehmers und ihre Schranken, Diss. Basel 1982,
S. 101).

    c) Stellte die Firmengründung kein pflichtwidriges Verhalten dar,
konnte die Beklagte daraus nicht einen wichtigen Grund für die fristlose
Entlassung von J. ableiten. Da es bereits an der Voraussetzung der
Verfehlung fehlt, braucht die Auswirkung der Firmengründung auf das
Vertrauensverhältnis nicht geprüft zu werden.