Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 II 570



117 II 570

105. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Dezember 1991 i.S.
Christoph N. gegen W., G. und K. (Berufung) Regeste

    Aktienrechtliche Verantwortlichkeit; Organbegriff gemäss Art.
754 Abs. 1 OR.

    1. Allgemeine Voraussetzungen der materiellen Organstellung im Sinne
von Art. 754 Abs. 1 OR; insbesondere Abgrenzung zum Organ gemäss Art. 55
ZGB (E. 3).

    2. Umstände, die im konkreten Fall gegen eine Haftung als materielles
Organ sprechen (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Im August 1984 verkaufte die K. Holding AG zwei ihrer
Tochtergesellschaften. Der Verwaltungsrat der K. Holding AG bestand
damals aus dem Präsidenten Ernst B. und den Mitgliedern Max N. sowie Josef
S. Wegen Meinungsverschiedenheiten mit den beiden anderen Verwaltungsräten
wirkte Max N. nicht bei der Vorbereitung und dem Abschluss der Verträge
mit.

    Im Mai 1985 erhob Christoph N., Sohn von Max N., als Aktionär der
K. Holding AG beim Bezirksgericht Zürich gegen B. und S. sowie gegen
Rudolf W., Armin G. und Ronald K. Klage aus aktienrechtlicher
Verantwortlichkeit. W. und G. waren gemäss Handelsregister
zur Zeit der Vertragsschlüsse für die K. Holding AG kollektiv
zeichnungsberechtigt. Beide hatten zusammen mit Ronald K., der ebenfalls
zum Kader der K.-Unternehmensgruppe gehörte, an den Vorbereitungsarbeiten
zum Verkauf der Tochtergesellschaften teilgenommen.

    Der Kläger stellte im Hauptpunkt den Antrag, die Beklagten unter
solidarischer Haftung zu verpflichten, der K. Holding AG rund zwölf
Millionen Franken zu zahlen. Zur Begründung der Klage führte er im
wesentlichen aus, die Beklagten seien dafür verantwortlich, dass die beiden
Tochtergesellschaften zu weit unter ihrem wahren Wert liegenden Preisen
verkauft worden seien; dadurch sei die K. Holding AG in Millionenhöhe
geschädigt worden.

    Mit Teil- und Vorurteil vom 30. Juni 1988 wies das Bezirksgericht die
Klage gegenüber den Beklagten W., G. und K. mangels Passivlegitimation
ab. Dieser Entscheid wurde vom Obergericht des Kantons Zürich am 21. Juni
1990 bestätigt. Der Kläger hat das Urteil des Obergerichts mit Berufung
angefochten, die vom Bundesgericht abgewiesen wird, soweit es auf sie
eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Gemäss Art. 754 Abs. 1 OR sind alle mit der Verwaltung oder
Geschäftsführung betrauten Personen der Gesellschaft gegenüber für den
Schaden verantwortlich, den sie durch absichtliche oder fahrlässige
Verletzung der ihnen obliegenden Pflichten verursachen. Als mit der
Verwaltung oder Geschäftsführung betraut im Sinne dieser Bestimmung
gelten nach Lehre und Rechtsprechung nicht nur Entscheidungsorgane, die
ausdrücklich als solche ernannt worden sind, sondern auch Personen, die
tatsächlich Organen vorbehaltene Entscheide treffen oder die eigentliche
Geschäftsführung besorgen und so die Willensbildung der Gesellschaft
massgebend mitbestimmen (BGE 114 V 218 E. 4e, 112 II 185 E. 5a, 107 II 353
E. 5; FORSTMOSER, Die aktienrechtliche Verantwortlichkeit, 2. Aufl., S. 205
ff. Rz. 638 ff.; BÜRGI/NORDMANN, N. 119 zu Art. 753/4 OR). In der neueren
Literatur wird zudem darauf hingewiesen, dass die Organeigenschaft auch
dann anzunehmen sei, wenn nach dem Vertrauensgrundsatz aus den äusseren
Umständen auf eine solche Stellung geschlossen werden dürfe (FORSTMOSER,
aaO, S. 214/5 Rz. 676 ff.).

    Der Kläger beruft sich ausserdem auf Lehre und Rechtsprechung zum
Organbegriff von Art. 55 ZGB. Als Organe im Sinne dieser Vorschrift gelten
diejenigen Funktionäre einer juristischen Person, die nach Gesetz, Statuten
oder einem davon abgeleiteten Reglement zur Erfüllung gesellschaftlicher
Aufgaben berufen sind oder tatsächlich und erkennbar solche Aufgaben
selbständig besorgen (OFTINGER/STARK, Schweiz. Haftpflichtrecht,
Bd. II/1, S. 274 Rz. 15; GUTZWILLER, SPR Bd. II, S. 489 ff.; RIEMER,
N. 100 ff. zu Art. 69 ZGB). Organe sind nach der Rechtsprechung auch jene
Personen, die unter der Aufsicht des obersten Verwaltungsausschusses einer
juristischen Person deren eigentliche Geschäftsführung besorgen oder sich
sonst in leitender Stellung betätigen (BGE 104 II 197 mit Hinweisen).

    Im allgemeinen wird der Kreis der gemäss Art. 754 Abs. 1 OR
haftenden jenem der nach Art. 55 ZGB verantwortlichen Personen weitgehend
gleichzusetzen sein. Eine Übereinstimmung ist jedenfalls dann anzustreben,
wenn die für die Gesellschaft handelnde Person für Schaden verantwortlich
gemacht wird, den sie unmittelbar einem Dritten verursacht hat. Denn in
diesem Fall decken sich die Haftungsgrundlagen, sofern das beanstandete
Verhalten nicht nur gesellschaftsintern pflichtwidrig ist, sondern auch
eine unerlaubte Handlung darstellt (WATTER, Die Verpflichtung der AG aus
rechtsgeschäftlichem Handeln ihrer Stellvertreter, Prokuristen und Organe,
speziell bei sogenanntem "Missbrauch der Vertretungsmacht", Diss. Zürich
1985, S. 94 ff., Rz. 143 und 145). Nicht selbstverständlich ist dagegen
die Gleichsetzung, falls es um den Ersatz von Gesellschaftsschaden
und von mit diesem kongruentem mittelbarem Drittschaden geht (DRUEY,
Organ und Organisation - Zur Verantwortlichkeit aus aktienrechtlicher
Organschaft, SAG 53/1981, S. 77 ff.; WATTER, aaO, S. 91 Rz. 140). Die
allgemeine Organhaftung beruht auf dem Gedanken der Verkörperung der
juristischen Person nach aussen, der externen Vertretungsmacht. Sie dient
vorab der Zurechnung vertretungsgemässen Handelns sowie der Abgrenzung zur
Haftung für Hilfspersonen gemäss Art. 101 OR. Die Verantwortlichkeit für
Gesellschaftsschaden und mittelbaren Gläubigerschaden gründet demgegenüber
auf der Missachtung oder dem Missbrauch von Befugnissen und Pflichten
des Innenverhältnisses, auf der Verletzung der gesellschaftsinternen
Struktur- und Handlungsprinzipien, das heisst von Pflichten, die sich aus
der gesellschaftsrechtlichen Stellung ergeben (dazu DRUEY, aaO, S. 81;
WATTER, aaO, S. 98 Rz. 145).

    Diese allgemeinen Gesichtspunkte sind im Einzelfall zu beachten. Sie
müssen zu einer differenzierten Beurteilung führen und rechtfertigen es,
dem verantwortlichkeitsrechtlichen Organbegriff in Berücksichtigung der
konkreten Gesellschaftsstrukturen angemessene Grenzen zu setzen (DRUEY,
aaO, S. 79). Die materielle Organstellung im Sinne von Art. 754 Abs. 1
OR bedingt zwingend eine tatsächliche oder allenfalls auch nur gegen
aussen kundgegebene organisatorische Eingliederung in die Willensbildung
der Gesellschaft. Zudem setzt die aktienrechtliche Verantwortlichkeit
erst dort ein, wo die vertragliche, insbesondere arbeitsvertragliche
Haftung aufgrund der organisatorischen und hierarchischen Stellung des
Verantwortlichen nicht mehr als ausreichend oder sachgerecht erscheint
(WATTER, aaO, S. 96 Rz. 144). Das ist in der Regel nur dann der Fall,
wenn nicht eine blosse Führung der Geschäfte, sondern deren Leitung
aufgrund selbständiger Entschlüsse vorliegt (DRUEY, aaO, S. 79).

    Zu berücksichtigen ist zudem, dass die aktienrechtliche
Verantwortlichkeit an die Missachtung jener Pflichten anknüpft, welche
dem Organ durch seine gesellschaftsrechtliche Stellung, durch das dadurch
gegebene Sonderverhältnis auferlegt sind (DRUEY, aaO, S. 81). Deshalb
soll dieser Verantwortlichkeit nur unterstehen, wer sich nach der
internen oder nach aussen kundgegebenen Gesellschaftsorganisation in
einem solchen Sonderverhältnis befindet und die sich daraus ergebenden
Pflichten in eigener Entscheidungsbefugnis zu erfüllen hat. Eine
blosse Mithilfe bei der Entscheidfassung genügt nicht. An weitreichenden
gesellschaftsrechtlichen oder -politischen Entscheiden wirkt in grösseren
Gesellschaften oder Konzernen in der Regel ein breiter Kreis von auch
hierarchisch untergeordneten Angestellten mit. Zu denken ist etwa
an die Vorbereitung der Entschlussfassung durch die Bereitstellung
technischer, kaufmännischer oder juristischer Grundlagen. Werden dabei
Fehler im Sinne gesellschaftsrechtlicher Pflichtwidrigkeiten begangen, so
richten sich deren Folgen vorab nach dem konkreten Vertragsverhältnis zur
Gesellschaft. Die aktienrechtliche, organschaftliche Verantwortlichkeit
greift dagegen nur dann Platz, wenn die Kompetenzen der Beteiligten
wesentlich über die Vorbereitung und Grundlagenbeschaffung hinausgehen
und sich zu einer massgebenden Mitwirkung bei der Willensbildung
verdichten. Richtig ist daher, dass die aktienrechtliche Verantwortlichkeit
für die Geschäftsführung grundsätzlich nur die oberste Leitung einer
Gesellschaft, die oberste Schicht der Hierarchie trifft (DRUEY, aaO,
S. 79).

Erwägung 4

    4.- In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen ist die Vorinstanz
zu Recht zum Ergebnis gelangt, die Beklagten W., G. und K. seien
mangels Organeigenschaft im Sinne von Art. 754 Abs. 1 OR nicht
passivlegitimiert. Was der Kläger in rechtlicher Hinsicht dagegen
vorbringt, erweist sich als unbegründet.

    a) So kann aus dem Umstand allein, dass die Beklagten W. und G. gemäss
Handelsregister für die K. Holding AG zeichnungsberechtigt waren, nicht
ohne weiteres ihre Organeigenschaft abgeleitet werden, zumal der Eintrag
keinerlei Hinweis auf eine leitende Stellung enthielt (FORSTMOSER, aaO,
S. 209 Rz. 655 f.). Dass sodann alle drei Beklagten in den Tochter- und
Enkelgesellschaften der K. Holding AG Organstellungen eingenommen haben
sollen, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Es entspricht zwar
überwiegender Lehrmeinung, die herrschende Gesellschaft und ihre Organe
bei Einmischung in die Verwaltung und Geschäftsführung der konzernmässig
untergeordneten Gesellschaften ihnen gegenüber aus Art. 754 Abs. 1
OR verantwortlich zu machen (FORSTMOSER, aaO, S. 222/3 Rz. 708 ff.;
DRUEY, aaO, S. 78; BÜRGI/NORDMANN, N. 123/4 zu Art. 753/4 OR). Diese
Beurteilung lässt sich indessen nicht ohne weiteres auf den umgekehrten
Fall übertragen, denn das hierarchische Konzernprinzip mag zwar oft zu
einer Einmischung "von oben" führen, eine Einmischung "von unten" kennt
es dagegen im allgemeinen nicht. Im vorliegenden Fall ist denn auch nicht
erwiesen, dass die Organe der Tochter- und Enkelgesellschaften kraft
ihrer Stellung einen entscheidenden Einfluss auf die Willensbildung
der Holdinggesellschaft ausgeübt haben. Als gegenteiliges Indiz ist
vielmehr der Umstand anzusehen, dass die drei Beklagten - obschon als
Führungsgremium der untergeordneten Konzerngesellschaften amtierend - an
den Verwaltungsratssitzungen der Holdinggesellschaft nur mit beratender
Stimme oder als Gäste teilnahmen (FORSTMOSER, aaO, S. 211/2 Rz. 665/6). In
die gleiche Richtung deutet ausserdem, dass das Gremium selbst bei der
Führung der Tochter- und Enkelgesellschaften weisungsmässig stark an die
Konzernspitze gebunden war und selbständige Entscheidungen lediglich
innerhalb eines vorgegebenen Rahmens, insbesondere des konzernmässig
genehmigten Budgets treffen durfte.

    b) Zu Recht hat das Obergericht sodann darauf hingewiesen, dass die
von den Beklagten W., G. und K. für die Holdinggesellschaft allgemein
ausgeübten Tätigkeiten nicht Handlungen betrafen, die gemeinhin den
Gesellschaftsorganen vorbehalten sind. Im Vordergrund stand offensichtlich
die subordinierte Führung der Geschäfte und nicht deren Leitung.

    Die drei Beklagten sind zudem auch gesellschaftsintern nicht als Organe
der K. Holding AG betrachtet worden. Das lässt sich mit der Vorinstanz
daraus ableiten, dass sie am Déchargebeschluss vom 30. Oktober 1984
unangefochten mitgewirkt haben. Insbesondere ist nicht festgestellt,
der Kläger habe sich dieser Mitwirkung widersetzt.

    Dass die drei Beklagten bestimmte Grundlagen für die
Verkaufsverhandlungen erarbeitet haben, reicht nach dem Gesagten ebenfalls
nicht aus, um ihre Organeigenschaft zu begründen. Das gilt umso mehr,
als vom Obergericht verbindlich festgestellt worden ist, diese Unterlagen
seien im Hinblick auf die Beschlussfassung durch den Verwaltungsrat der
K. Holding AG erstellt worden. Gleich verhält es sich mit den vom Beklagten
G. vorgelegten Bilanzen, denn nichts deutet darauf hin, dass er diese
nicht bloss in arbeitsvertraglicher, sondern in gesellschaftsrechtlicher
Stellung angefertigt hat.

    Nicht einzusehen ist schliesslich, warum die Anwendung seiner
besonderen Kenntnisse bezüglich der elektronischen Datenverarbeitung die
Organeigenschaft des Beklagten K. begründen soll. Erstellt ist einzig,
dass alle drei Beklagten aufgrund ihrer Sachkenntnisse und wegen den
ihnen unterstellten Sachbereichen im Konzern für die Grundlagenerarbeitung
gesellschaftlicher Entscheide herangezogen worden sind, nicht aber auch,
dass sie daran in massgebend leitender Stellung mitgewirkt haben. Das gilt
nach den Feststellungen der Vorinstanz auch insoweit, als der Beklagte
W. zusammen mit den Verwaltungsräten B. und S. der Verhandlungs- und
Verkaufsdelegation angehört hat. Im angefochtenen Urteil wird festgehalten,
zwar seien die Fachkenntnisse von W. für die Delegation wichtig gewesen,
ausschlaggebend sei aber, dass die Verkaufsverträge lediglich von den
zwei Verwaltungsräten unterzeichnet worden seien, die aufgrund ihrer
eindeutigen Organstellung die Entscheide zu treffen und zu verantworten
hätten. Auch in diesem Zusammenhang fehlen somit Feststellungen, welche
auf eine Organstellung der Beklagten W., G. und K. schliessen liessen.