Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 II 519



117 II 519

95. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. September
1991 i.S. W. gegen W. (Berufung) Regeste

    Rente der geschiedenen Ehefrau; Art. 151 Abs. 1 ZGB.

    Bei der Festsetzung einer Entschädigungs- und Unterhaltsersatzrente
für die geschiedene Ehefrau ist nach neuem Recht auch zu berücksichtigen,
dass die Frau dereinst eine AHV-Rente beziehen wird, soweit diese
Zusatzeinkommen darstellt und nicht dazu bestimmt ist, wegfallendes
Erwerbseinkommen zu ersetzen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Die wichtigste Frage, die im vorliegenden Fall zu beurteilen
ist, besteht darin, ob und in welchem Masse die der geschiedenen Frau
dereinst zustehende AHV-Rente bei Festsetzung der Entschädigungs- oder
Bedürftigkeitsrente zu berücksichtigen sei. In der Rechtsprechung und in
der Lehre finden sich zu dieser Frage keine abschliessenden Stellungnahmen.

    a) Das Bundesgericht hat sich mit dieser Frage bisher hauptsächlich in
unveröffentlichten Urteilen befasst. So hat es in einem Entscheid vom 11.
Februar 1966 i.S. P. c. P. der Herabsetzung einer Bedürftigkeitsrente auf
Beginn der AHV-Rentenberechtigung gegenüber ihrer zeitlichen Befristung den
Vorzug gegeben mit der Begründung, diese sei den Bedarfsverhältnissen der
Frau besser angemessen und trage auch der beschränkten Leistungsfähigkeit
des Mannes Rechnung. In einem weiteren Urteil vom 2. Juli 1970
i.S. S. c. T. schloss das Bundesgericht eine zeitliche Beschränkung
der Rente im Hinblick auf den Beginn der AHV-Rentenberechtigung mit
der Bemerkung aus, die Leistungen der AHV kämen beiden Ehegatten in
gleicher Weise zugut und verbesserten somit auch die Lage des Mannes;
sie seien in diesem Zusammenhang auch deshalb nicht von Bedeutung, weil
sie dazu bestimmt seien, das im Alter wegfallende oder sich vermindernde
Erwerbseinkommen zu ersetzen. Nach den Erwägungen eines Entscheids
vom 30. Oktober 1970 i.S. G. c. G., der in der Literatur gelegentlich
angeführt wird, wäre die Kürzung einer Entschädigungsrente sachlich nur
begründet, wenn damit ein dem Anspruchsberechtigten als Folge der Scheidung
zufallender Vorteil auszugleichen oder einer mit Sicherheit eintretenden
Verminderung der Leistungsfähigkeit des Rentenschuldners Rechnung zu tragen
wäre. Beides treffe in bezug auf die Altersrente der AHV nicht zu, weshalb
kein Anlass zu einer Vorteilsausgleichung bestehe. Diese Betrachtungsweise
beruhte indessen nicht auf grundsätzlichen Überlegungen gegen einen solchen
Vorteilsausgleich, wie das Bundesgericht in BGE 114 II 121/22 festhielt;
dieser wurde lediglich deshalb verworfen, weil die AHV-Rente im konkreten
Fall dazu diente, das bis anhin für den Unterhalt der geschiedenen
Ehefrau erforderliche eigene Erwerbseinkommen wenigstens teilweise zu
ersetzen. Schliesslich bezeichnete das Bundesgericht im Urteil vom 1.
Dezember 1988 i.S. C. c. M. die Herabsetzung des Unterhaltsbeitrages
auf den Zeitpunkt der Ausrichtung einer AHV-Rente an die geschiedene
Ehefrau als durchaus gerechtfertigt, weil dieser Beitrag ihr erlauben
sollte, die Substanz ihres Vermögens einstweilen unangetastet zu lassen,
es ihr aber nach Erreichen der AHV-Rentenberechtigung zumutbar sei, auch
ihr Vermögen anzugreifen. Demgegenüber erklärte es das Bundesgericht
in BGE 109 II 91 E. 3 grundsätzlich für richtig, dass der Beginn der
AHV-Rentenberechtigung keinen Grund zur zeitlichen Beschränkung der Rente
nach Art. 151 Abs. 1 ZGB darstelle.

    b) In der Literatur ist die hier zu beurteilende Frage auch schon
zur Sprache gekommen. Nach BÜHLER/SPÜHLER, N 38 zu Art. 151 ZGB, kann bei
der Bemessung einer Entschädigungsrente je nach den konkreten Umständen
(Alter, Erwerbsfähigkeit, wirtschaftliche und soziale Stellung) eine in
Aussicht stehende AHV-Rente berücksichtigt werden. NEF (Der Einfluss
des Sozialversicherungsrechts auf das Privatrecht, SJZ 77/1981,
S. 17 ff.) betrachtet die Unterstützungspflicht des geschiedenen
Ehegatten gegenüber seinem früheren Ehepartner im Verhältnis zum
Sozialversicherungsrecht als subsidiär. Der Scheidungsrichter habe deshalb
bei der Bemessung der Unterhaltsbeiträge laufende oder zu erwartende
Sozialversicherungsleistungen mitzuberücksichtigen (S. 23). KOLLER
(AHV und Eherecht - Standortbestimmung und Ausblick, ZBJV 121/1985,
S. 305 ff.) weist darauf hin, dass das Verhältnis zwischen eherechtlichen
Unterhaltsansprüchen und AHV-Renten äusserst komplex sei und einfache
Problemlösungen nicht zu finden seien (S. 320). Die richtige Lösung kann
nach diesem Autor nur darin liegen, dass die von einem Ehegatten - in den
meisten Fällen der Ehefrau - bezogene AHV-Rente grundsätzlich auf den
Unterhaltsanspruch nach Eherecht angerechnet werde (S. 318); ob dieser
Grundsatz auch für die Bemessung der vom Scheidungsrichter zuerkannten
Unterhaltsersatz- oder Bedürftigkeitsrente gelte, dazu äussert er sich
nicht. GEISER (Die Auswirkungen der AHV und der beruflichen Vorsorge
auf die Scheidung, de lege lata et ferenda, in "recht" 1991, S. 6)
vertritt die Auffassung, dass für einen Anspruchsberechtigten, der nach
der Scheidung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen werde, die Leistungen
der Sozialversicherung zu einer Verminderung des Unterhaltsbedarfes
führen. Es rechtfertige sich deshalb, auch die Scheidungsrente
im entsprechenden Umfang zu kürzen. Wenn hingegen dem geschiedenen
Ehegatten nur eine reduzierte Scheidungsrente zugesprochen worden sei,
weil davon auszugehen war, dass er ein Erwerbseinkommen erzielen werde,
so würden die Alters- und Invalidenleistungen der Sozialversicherung in
erster Linie den Wegfall dieses Einkommens ausgleichen. Eine Reduktion der
Scheidungsrente rechtfertige sich deshalb mit Eintritt des Rentenalters
oder der Invalidität nicht.

    c) Art. 151 Abs. 1 ZGB hat den Zweck, grundsätzlich jenen Schaden
zu decken, der bei der Scheidung dadurch entsteht, dass die Versorgung
der Ehegatten nicht mehr durch deren einträchtiges Zusammenwirken im
gemeinsamen Haushalt gesichert ist (BGE 115 II 8 E. 3 mit Hinweis). Bei
der Bemessung der Unterhaltsersatzrente ist deshalb beim ansprechenden
Gatten in erster Linie auf die Bedürfnislage Rücksicht zu nehmen (HAUSHEER,
Neuere Tendenzen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Bereiche der
Ehescheidung, ZBJV 122/1986, S. 62; GROSSEN, Une révolution tranquille, in
Festschrift zum Schweizerischen Juristentag 1987, S. 65; vgl. auch BGE
117 II 215 ff.). Soweit die geschiedene Ehefrau aber in den Genuss
von Zusatzeinkommen gelangt, wodurch ihre eigene Leistungsfähigkeit
gesteigert und ihr Bedarf verringert wird, muss dieses grundsätzlich
in Betracht gezogen werden. Nach neuem Eherecht hätte der Richter schon
während bestehender Ehe sämtliche Einkünfte der Ehefrau, also nicht mehr
bloss einen Teil derselben, aufrechnen müssen, falls er den beidseitigen
Unterhaltsbeitrag mangels Einigung der Gatten zu bestimmen hätte (BGE 115
II 13 E. 5). Diese Verhältnisse während der Ehe wirken sich aber auch
auf die wirtschaftliche Stellung der Ehegatten nach der Scheidung aus
und bleiben daher für die Anwendung von Art. 151 Abs. 1 ZGB massgebend
(BGE 115 II 13 E. 5).

    Im vorliegenden Fall hat das Obergericht in tatsächlicher Hinsicht
festgestellt, dass die Beklagte Fr. 200.-- im Monat verdiene. Im Hinblick
auf ihr Alter und ihren Gesundheitszustand sei nicht damit zu rechnen,
dass sie nach der Scheidung ein höheres Erwerbseinkommen erzielen werde, so
dass ihr dieser Betrag anzurechnen sei. Im weitern sei davon auszugehen,
dass sie nach Vollendung des 62. Altersjahres, d.h. mit Eintritt der
AHV-Rentenberechtigung, diesen Verdienst aufgeben werde. Der monatliche
Notbedarf der Beklagten beläuft sich auf Fr. 2'400.-- und wird durch
die zugesprochene Unterhaltsersatzrente von Fr. 2'400.-- gedeckt. Wie
das Obergericht feststellt, entspricht dieser Betrag auch ungefähr dem
Verlust an ehelichem Unterhalt, den die Beklagte durch die Scheidung
erleidet. Die AHV-Rente stellt demnach Zusatzeinkommen der Beklagten
dar, soweit sie nicht dazu bestimmt ist, wegfallendes Erwerbseinkommen
zu ersetzen. Angesichts der konkreten Umstände hat das Obergericht daher
nicht gegen Bundesrecht verstossen, wenn es die der Beklagten zustehende
Unterhaltsersatzrente ab 1. Januar 1991 um den Betrag der um Fr. 200.--
pro Monat verminderten AHV-Rente herabgesetzt hat. Die Berufung erweist
sich demnach als unbegründet, soweit auf sie eingetreten werden kann.