Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 II 504



117 II 504

92. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 15. Oktober 1991
i.S. v. W. gegen M. (Berufung) Regeste

    Art. 48 Abs. 2 lit. a OG. Berufungsfähigkeit von Endentscheiden unterer
Gerichte, die als letzte, aber nicht einzige kantonale Instanz urteilen.

    Untere Gerichte im Sinne dieser Bestimmung können nur
Rechtsmittelinstanzen sein, welche die Urteile unterer Instanzen materiell
umfassend überprüfen. Hat nach kantonalem Recht ein unteres Gericht als
einzige Instanz über Mieterstreckungen zu befinden, wird sein Entscheid
nicht deswegen zum berufungsfähigen Rechtsmittelentscheid, weil er im
Anschluss an den Erstreckungsentscheid der Schlichtungsbehörde (Art. 273
Abs. 4 OR) ergangen ist.

Sachverhalt

    A.- Als Vermieter einer Einzimmerwohnung in Sarnen kündigte M. Ende
September 1990 seinem Mieter v. W. auf den 31. Januar 1991. Mit Gesuch vom
22. Oktober 1990 verlangte v. W. bei der Obwaldner Schlichtungsbehörde für
Miet- und Pachtverhältnisse die Erstreckung bis zum 30. April 1993. Nach
erfolglosen Vergleichsverhandlungen wies die Schlichtungsbehörde das
Gesuch am 6. Dezember 1990 ab, worauf v. W. mit Erstreckungsklage vom
4. Januar 1991 den Gerichtsausschuss des Kantons Obwalden anrief, der am
20. Februar 1991 die Klage abwies.

    B.- Mit Berufung an das Bundesgericht beantragt der Kläger u.a.,
das Urteil vom 20. Februar 1991 aufzuheben und das Mietverhältnis bis
Ende April 1993 zu erstrecken. Das Bundesgericht tritt auf die Berufung
nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Berufung ist in der Regel erst gegen Endentscheide von oberen
kantonalen Gerichten zulässig, die nicht durch ein ordentliches kantonales
Rechtsmittel angefochten werden können (Art. 48 Abs. 1 OG). Gegen
Endentscheide unterer Gerichte steht die Berufung abgesehen von Art. 48
Abs. 2 lit. b OG nur dann offen, wenn ein solches Gericht als letzte,
aber nicht einzige kantonale Instanz entschieden hat (Art. 48 Abs. 2
lit. a OG). Dieses Erfordernis beschränkt die Möglichkeit der Berufung
gegen Urteile unterer Gerichte auf Fälle, in denen ein Gericht von der
Gerichtsorganisation her zwar unteres Gericht ist (BGE 115 II 368), jedoch
als Rechtsmittelinstanz geurteilt hat. Diese Ordnung bedeutet eine bewusste
Abkehr von der früheren, welche die Berufung auch gegen Urteile unterer
Gerichte zuliess, die als einzige Instanzen entschieden hatten (BIRCHMEIER,
N. 4 zu Art. 48 OG, S. 171; POUDRET, N. 3 zu Art. 48 OG, S. 318). Die
revidierte Regelung soll sicherstellen, dass ein bundeszivilrechtlicher
Anspruch vorgängig durch mindestens zwei kantonale Instanzen materiell
umfassend geprüft worden ist, bevor eine Überprüfung von Entscheiden
unterer Gerichte im Berufungsverfahren stattfindet. Trotz beschränkter
Überprüfung im Rahmen eines ausserordentlichen Rechtsmittels bleibt daher
ein Erstreckungsurteil eines Einzelrichters, der nach kantonalem Recht
im übrigen endgültig entschieden hat, ein Urteil einer einzigen Instanz
im Sinne von Art. 48 Abs. 2 lit. a OG (BGE 110 II 251 f. E. 1a).

    a) Als Abteilung des Kantonsgerichts, das im Kanton Obwalden
"unteres" Gericht im Sinne von Art. 48 Abs. 2 lit. a OG ist, hat auch
der Gerichtsausschuss als unteres Gericht entschieden. Die Zulässigkeit
der Berufung gegen sein Urteil setzt deshalb voraus, dass er im
Erstreckungsverfahren letzte, aber nicht einzige kantonale Instanz war.

    Gemäss Art. 23 Abs. 1 der obwaldnerischen Ausführungsbestimmungen vom
26. Juni 1990 zum neuen Miet- und Pachtrecht unterstehen mietrechtliche
Entscheide des Gerichtsausschusses keinem ordentlichen kantonalen
Rechtsmittel. Mit dem angefochtenen Urteil ist daher die Erstreckungsklage
von einer letzten Instanz abgewiesen worden (POUDRET, aaO). Als nicht
einzige Instanz kann der Gerichtsausschuss nach dem Gesagten jedoch nur
gelten, wenn er als Rechtsmittelinstanz über der Schlichtungsbehörde zu
betrachten ist und ausserdem Gewähr dafür besteht, dass der Berufung
eine umfassende Überprüfung durch mindestens zwei kantonale Instanzen
vorausging.

    b) Dass es an der ersten Voraussetzung fehlt, ergibt sich
aus der neuen, auf den vorliegenden Fall unstreitig anwendbaren
bundesrechtlichen Regelung (Art. 5 SchlB zu den Tit. VIII und VIIIbis)
für das Erstreckungsverfahren:

    Die innert 30 Tagen nach Kündigungsempfang vom Mieter um Erstreckung
angegangene Schlichtungsbehörde (Art. 273 Abs. 2 lit. a OR) hat nach
erfolglosem Schlichtungsversuch über die Erstreckung zu entscheiden
(Art. 273 Abs. 4 OR). Verweigert sie die Erstreckung, hat der unterlegene
Mieter innert 30 Tagen den Richter anzurufen, ansonsten der Entscheid
der Schlichtungsbehörde in Rechtskraft erwächst (Art. 273 Abs. 5 OR).

    Wie bereits aus dem Wortlaut von Art. 273 Abs. 5 OR hervorgeht,
nach dem die vor der Schlichtungsbehörde unterlegene Partei den Richter
anzurufen hat ("saisir le juge", "ricorrere al giudice"), ist die
Anrufung des Richters kein Weiterzug eines Verfahrens an die nächsthöhere
Instanz, das Gerichtsverfahren keine Fortsetzung des Verfahrens vor der
Schlichtungsbehörde und der Richter nicht Rechtsmittelinstanz. Vielmehr
tritt der Erstreckungsstreit mit der Anrufung des Richters erstmals in
die gerichtliche Phase (GMÜR, Kündigungsschutz - Prozessuales rund um
den "Entscheid" der Schlichtungsbehörde, in: Mietrechtspraxis 1990,
S. 132). Der erfolglose Schlichtungsversuch und der Entscheid der
Schlichtungsbehörde in den gesetzlich vorgesehenen Fällen (Art. 274e
Abs. 1 und 2 OR) sind lediglich prozessuale Voraussetzungen dafür, dass
beim Richter Klage erhoben werden kann. Entscheidet die unabhängige und dem
Richter in keiner Weise untergeordnete Schlichtungsbehörde nach erfolglosem
Schlichtungsversuch über Mietzinsreduktionen im Falle von Art. 259i OR,
über die Anfechtung einer Kündigung und über Mieterstreckungen (Art. 273
Abs. 4 OR), kommt dieser Entscheid nur zum Tragen, wenn die Anrufung des
Richters unterbleibt. Gelangt dagegen die unterlegene Partei innert 30
Tagen an den Richter, so fällt der Entscheid der Schlichtungsbehörde
ohne weiteres dahin (SVIT-KOMMENTAR MIETRECHT, N. 3 zu Art. 274f OR,
S. 833) mit der Folge, dass der Richter erstinstanzlich urteilt und
diesen Entscheid nicht wie eine Rechtsmittelinstanz aufhebt, abändert
oder bestätigt. Der Entscheid der Schlichtungsbehörde wirkt sich in
diesen Fällen nur als "prima facie-Vorentscheid" auf das richterliche
Verfahren aus, der die Rollenverteilung im Prozess festlegt; dadurch
soll nach dem Willen des Gesetzgebers insbesondere verhindert werden,
dass der Mieter vor dem Richter allzu häufig als Kläger aufzutreten habe
(so Votum Bundesrat Koller in Amtl.Bull. NR 1989 S. 545; bundesrätliche
Botschaft in BBl 1985 I S. 1467; GMÜR, aaO, S. 133; LACHAT/MICHELI,
Le nouveau droit du bail, S. 65).

    c) Hätte sodann das Bundesgericht auf Berufungen gegen
Erstreckungsurteile unterer Gerichte einzutreten, denen bloss
der Entscheid einer Schlichtungsbehörde vorausging, wäre die
umfassende Beurteilung durch mindestens zwei kantonale Instanzen
nicht gewährleistet. Denn für Entscheide von Schlichtungsbehörden
sehen die Kantone ein summarisches Verfahren vor. Es ist insbesondere
durch Beweismittelbeschränkungen gekennzeichnet (so auch Art. 13 der
obwaldnerischen Ausführungsbestimmungen), ähnlich wie das Verfahren,
in dem über vorläufigen Rechtsschutz aufgrund glaubhaft zu machender
Ansprüche befunden wird (vgl. BBl und Amtl.Bull. je aaO; ausführlich
GMÜR, aaO, insbesondere S. 122, 125 f., 130 ff.). Entscheidet der
ordentliche Richter im Anschluss an ein solches Verfahren endgültig,
so wird sein Urteil auch nicht als zweitinstanzlicher Entscheid im Sinne
von Art. 48 Abs. 2 lit. a OG betrachtet. Dementsprechend behandelt auch
der Kassationshof richterliche Entscheide, denen ein Strafbefehl oder
ein Entscheid einer Verwaltungsbehörde vorausgegangen ist, als Entscheide
einziger kantonaler Instanzen und tritt nach Art. 268 Ziff. 1 Satz 2 BStP
auf Nichtigkeitsbeschwerden nicht ein (BGE 116 IV 78 mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- Hat der Gerichtsausschuss somit als einzige kantonale Instanz
entschieden, erweist sich die Berufung als unzulässig. Dass an sich
berufungsfähige Zivilstreitsachen durch kantonale Verfahrensbestimmungen
von der Berufung ausgeschlossen werden, ist wie in anderen Fällen
unbefriedigend (vgl. BGE 115 II 368, 110 II 251 E. 1a, 109 II 48 E. 2). Ob
solche Vorschriften angefochten werden können und in welchem Verfahren,
ist nicht zu prüfen, da der Kläger die kantonale Ordnung nicht in Frage
stellt (dazu POUDRET, N. 1.2.4 zu Art. 48 OG, S. 300 f. mit Hinweisen).