Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 II 421



117 II 421

78. Urteil der I. Zivilabteilung vom 26. November 1991 i.S. Fritz und
Renate S. gegen Helena M. (zivilrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 274d Abs. 2 und Art. 274f Abs. 1 OR. Entscheid über Kostenauflage
und Parteientschädigung bei mutwilliger Prozessführung vor der
Schlichtungsbehörde in Mietsachen.

    Über die Kosten- und Entschädigungsfolgen des Schlichtungsverfahrens
entscheidet zunächst die Schlichtungsbehörde selbst. Die unterliegende
Partei kann daraufhin jedoch gestützt auf Art. 274f Abs. 1 OR innert
dreissig Tagen den Richter anrufen (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Fritz und Renate S. sind Mieter einer Wohnung in Winterthur. Mit
Formular vom 18. Dezember 1990 zeigte ihnen die Vermieterin, Helena M.,
eine Mietzinserhöhung an, welche die Mieter mit Eingabe vom 10. Januar
1991 bei der Schlichtungsbehörde in Mietsachen des Bezirks Winterthur
anfochten. An der Verhandlung vom 19. März 1991 akzeptierten die Mieter
zwar eine Mietzinserhöhung von Fr. 47.-- monatlich, doch wurden sich die
Parteien hinsichtlich der Kosten- und Entschädigungsfolgen des Verfahrens
nicht einig. Die Schlichtungsbehörde stellte deshalb fest, dass keine
Einigung habe erzielt werden können. Den Antrag der Mieter, Helena
M. sei wegen mutwilliger Prozessführung zur Bezahlung einer angemessenen
Prozessentschädigung zu verpflichten, wies die Schlichtungsbehörde ab.

    Helena M. gelangte in der Folge nicht ans Mietgericht, weshalb
die Mietzinserhöhung nicht wirksam wurde. Dagegen riefen Fritz
und Renate S. das Mietgericht des Bezirks Winterthur an mit dem
Begehren, die Kosten des Schlichtungsverfahrens seien der Beklagten
aufzuerlegen und diese sei zu verpflichten, den Klägern eine angemessene
Prozessentschädigung zu bezahlen. Das Mietgericht behandelte die Eingabe
als Nichtigkeitsbeschwerde und trat darauf mit Beschluss vom 7. Juni 1991
mangels Einhaltung der zehntägigen Beschwerdefrist nicht ein.

    Auf die von Fritz und Renate S. gegen diesen Entscheid ergriffene
Nichtigkeitsbeschwerde trat das Obergericht des Kantons Zürich am 19. Juli
1991 wiederum nicht ein, weil gegen den Entscheid einer Kassationsinstanz
keine kantonale Nichtigkeitsbeschwerde mehr möglich sei.

    B.- Fritz und Renate S. haben gegen den Beschluss des Mietgerichts
ebenfalls eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde erhoben, mit welcher
sie die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und die Rückweisung der
Streitsache an die Vorinstanz verlangen.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Auf die Beschwerde ist einzutreten. Der angefochtene Entscheid ist
letztinstanzlich im Sinne von Art. 68 Abs. 1 OG, da er keinem ordentlichen
kantonalen Rechtsmittel unterliegt. Die eidgenössische Berufung wäre
ebenfalls nicht offengestanden, da einerseits der Entscheid von einem
unteren kantonalen Gericht gefällt worden ist (Art. 48 Abs. 1 OG)
und anderseits der Streitwert unter Fr. 8'000.-- liegen dürfte (Art. 46
OG). Einem Eintreten auf die Nichtigkeitsbeschwerde steht daher auch deren
Subsidiarität nicht entgegen (Art. 68 Abs. 1 OG). Die Beschwerdeführer
machen geltend, das Mietgericht habe statt des massgebenden eidgenössischen
Rechts kantonales Recht angewendet. Damit rufen sie einen zulässigen
Nichtigkeitsgrund an (Art. 68 Abs. 1 lit. a OG).

Erwägung 2

    2.- Das Mietgericht führt im angefochtenen Beschluss aus, da die
Schlichtungsbehörde in der Sache selbst keinen Entscheid gefällt habe
und es nur noch um die Frage der Kosten- und Entschädigungsfolgen gehe,
sei gemäss ständiger Gerichtspraxis lediglich das Rechtsmittel der
Nichtigkeitsbeschwerde gegeben, wobei die Beschwerdefrist nach den
massgebenden kantonalrechtlichen Bestimmungen zehn Tage betrage. Die
Beschwerdeführer rügen, das Mietgericht habe, statt Art. 274f Abs. 1 OR
anzuwenden, zu Unrecht auf kantonales Prozessrecht abgestellt.

    a) Art. 27 des inzwischen durch die Mietrechtsrevision vom
15. Dezember 1989 aufgehobenen Bundesbeschlusses über Massnahmen gegen
Missbräuche im Mietwesen (BMM) ermächtigte die Kantone, für den Fall
mutwilliger Beanspruchung der Schlichtungsbehörde Parteientschädigungen
vorzusehen. Das neue Recht beschränkt sich demgegenüber nicht auf eine
blosse Ermächtigung an die Kantone. Art. 274d Abs. 2 OR enthält vielmehr
eine abschliessende bundesrechtliche Regelung dahin, dass bei mutwilliger
Prozessführung die fehlbare Partei zur gänzlichen oder teilweisen Übernahme
der Verfahrenskosten und zur Leistung einer Parteientschädigung an die
andere Partei verpflichtet werden kann.

    Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergibt sich, dass nach
dem Willen des Gesetzgebers über die Kosten- und Entschädigungsfolgen
des Schlichtungsverfahrens zunächst die Schlichtungsbehörde selbst
entscheidet. Art. 274d Abs. 3 des bundesrätlichen Entwurfs vom
27. März 1985 sah ausdrücklich vor, dass die Schlichtungsbehörde bei
mutwilliger Prozessführung der fehlbaren Partei eine Busse und die
Verfahrenskosten ganz oder teilweise auferlegen sowie der andern Partei
eine Parteientschädigung zusprechen könne (BBl 1985 I S. 1516). In der
von den eidgenössischen Räten verabschiedeten Fassung des Gesetzestextes
erscheint diese Bestimmung in passiver Formulierung (Art. 274d Abs. 2 OR);
dafür, dass damit ihr Inhalt geändert werden sollte, ergeben sich aus
den Materialien keine Anhaltspunkte (vgl. Amtl.Bull. SR 1988 S. 179 f.;
Amtl.Bull. NR 1989 S. 542 ff.).

    Zu beachten ist jedoch, dass die Schlichtungsbehörde - wie
das Bundesgericht im Urteil vom 15. Oktober 1991 i.S. v. W. gegen
M. (BGE 117 II 506 E. b) erkannt hat - keine Entscheidungsinstanz
ist, die einem ordentlichen Gericht vergleichbar wäre. Die primäre
Aufgabe der Schlichtungsbehörde besteht darin, die Parteien zu einer
einvernehmlichen Beilegung ihrer Streitigkeit zu bewegen. Wo das
Gesetz der Schlichtungsbehörde Entscheidungsbefugnisse einräumt (Art.
259i Abs. 1 und Art. 273 Abs. 4 OR), kommt ihr Entscheid nur zum Tragen,
wenn eine Anrufung des Richters unterbleibt (Art. 259i Abs. 2, Art. 273
Abs. 5 OR). Gelangt dagegen die unterliegende Partei innert dreissig
Tagen an den Richter (Art. 274f Abs. 1 OR), so überprüft dieser nicht das
Erkenntnis der Schlichtungsbehörde, sondern beurteilt die Streitsache von
Grund auf. Der Entscheid der Schlichtungsbehörde stellt lediglich einen
"prima facie-Vorentscheid" dar, dem für das richterliche Verfahren bloss
insofern Bedeutung zukommt, als er die Verteilung der Parteirollen festlegt
(Votum Bundesrat Koller in Amtl.Bull. NR 1989 S. 545; bundesrätliche
Botschaft in BBl 1985 I S. 1467; GMÜR, Kündigungsschutz - Prozessuales
rund um den "Entscheid" der Schlichtungsbehörde, MP 1990, S. 132). Dem
entspricht, dass die Kantone für die Entscheide der Schlichtungsbehörde ein
summarisches Verfahren vorsehen (so auch § 10 der zürcherischen Verordnung
über die Paritätischen Schlichtungsbehörden in Miet- und Pachtsachen
vom 27. Juni 1990), das durch Beweismittelbeschränkungen gekennzeichnet
ist und dem Verfahren gleicht, in welchem über vorläufigen Rechtsschutz
aufgrund glaubhaft zu machender Ansprüche befunden wird (GMÜR, aaO,
S. 121 ff., insbesondere 125 f.). Der Schlichtungsbehörde steht mithin,
soweit sie nicht ohnehin bloss Beratungs- und Schlichtungsfunktion
hat, in der Sache nirgends eine umfassende Prüfung zu. Damit aber
erscheint es ebenfalls als ausgeschlossen, dass sie abschliessend
über die Kosten- und Entschädigungsfolgen des Verfahrens entscheidet,
hängt doch die Frage, ob einer Partei Mutwilligkeit vorzuwerfen
ist, massgeblich von der Begründetheit dessen ab, was sie in der
Sache geltend macht. Auch der Entscheid der Schlichtungsbehörde über
Verfahrenskosten und Parteientschädigung ist daher zwangsläufig nur
ein "prima facie-Vorentscheid", welcher der unterliegenden Partei die
Möglichkeit eröffnet, gemäss Art. 274f Abs. 1 OR den Richter anzurufen. Die
gegenteilige Auffassung der Vorinstanz geht fehl. Könnte der Entscheid
der Schlichtungsbehörde lediglich mit einem ausserordentlichen kantonalen
Rechtsmittel angefochten werden, so würde dies bedeuten, dass keine
Instanz mit voller Kognition über den bundesrechtlichen Anspruch
auf Parteientschädigung entscheiden könnte, den Art. 274d Abs. 2 OR
den Parteien eines Schlichtungsverfahrens für den Fall mutwilliger
Prozessführung der Gegenpartei verleiht.

    b) Indem das Mietgericht nur eine Nichtigkeitsbeschwerde mit
beschränkter Prüfung zugelassen hat und statt von der dreissigtägigen
Frist gemäss Art. 274f Abs. 1 OR von einer zehntägigen kantonalrechtlichen
Beschwerdefrist ausgegangen ist, hat es im Sinne von Art. 68 Abs. 1
lit. a OG statt des massgebenden eidgenössischen Rechts kantonales
Recht angewendet. Der angefochtene Entscheid ist deshalb aufzuheben und
die Streitsache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen
(Art. 73 Abs. 2 OG).