Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 II 379



117 II 379

70. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. September
1991 i.S. O. gegen Regierung des Kantons Graubünden (Berufung) Regeste

    Aufhebung der Vormundschaft, Anhörung (Art. 434 ff., Art. 374 ZGB).

    Im Verfahren der Aufhebung der Vormundschaft ist der Entmündigte von
Bundesrechts wegen anzuhören.

Auszug aus den Erwägungen:

                         Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Bundesverfahrensrecht
macht der Berufungskläger geltend, dass er in analoger Anwendung von
Art. 374 ZGB hätte angehört werden müssen, was indessen nicht geschehen
sei.

    Nach Art. 374 Abs. 1 ZGB darf eine Person wegen Verschwendung,
Trunksucht, lasterhaften Lebenswandels oder der Art und Weise ihrer
Vermögensverwaltung nicht entmündigt werden, ohne dass sie vorher
angehört worden ist. Wie sich indirekt aus Abs. 2 dieser Bestimmung
schliessen lässt, gilt die Anhörungspflicht auch bei der Entmündigung
wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche gemäss Art. 369 Abs. 1
ZGB, es sei denn, die Anhörung sei aus medizinischen Gründen nicht
geboten (BGE 117 II 134 E. 1, 109 II 296 E. 2, mit Hinweisen). Dass der
Entmündigte auch bei der Aufhebung der Vormundschaft angehört werden
müsse, schreibt das Gesetz nicht ausdrücklich vor. Nach Art. 434 Abs. 1
ZGB ist die Ordnung des Aufhebungsverfahrens grundsätzlich den Kantonen
überlassen. Von Bundesrechts wegen sind diese einzig verpflichtet, im
Falle der Aufhebung einer wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche
angeordneten Vormundschaft ein Gutachten einzuholen (Art. 436 ZGB). Dieser
Verpflichtung ist der Regierungsrat im vorliegenden Fall nachgekommen,
wobei der Gutachter zum Ergebnis gelangte, die Voraussetzungen für eine
Aufhebung der Vormundschaft seien nicht gegeben.

    Bereits EGGER hatte indessen die Auffassung vertreten, dass
die Anhörung des Entmündigten trotz des Fehlens einer Art. 374 ZGB
entsprechenden Regelung unerlässlich sei, wenn das Begehren um Aufhebung
der Vormundschaft abgelehnt werden soll (N. 4 zu Art. 436 ZGB). Ob
sich dieser Gehörsanspruch aus dem Bundesprivatrecht oder unmittelbar
aus Art. 4 BV ergebe, ist freilich nicht klar. Das Bundesgericht hat in
einem in ZVW 34/1979 S. 156 ff. publizierten Urteil vom 24. August 1977
offengelassen, ob bei der Aufhebung der Vormundschaft eine bundesrechtliche
Anhörungspflicht bestehe. Diese Frage ist deswegen von Bedeutung, weil
die Verletzung des sich aus Art. 4 BV ergebenden Gehörsanspruchs beim
Bundesgericht nicht mit Berufung, sondern nur mit staatsrechtlicher
Beschwerde gerügt werden kann (Art. 43 Abs. 1 Satz 2 OG). In der neueren
Lehre wird die analoge Anwendung von Art. 374 ZGB im Aufhebungsverfahren
befürwortet (RIEMER, Grundriss des Vormundschaftsrechts, S. 102 N. 200;
DESCHENAUX/STEINAUER, Personnes physiques et tutelle, 2. Aufl., S.
273 N. 1012; STRUB, Die Aufhebung der Entmündigung, Diss. Freiburg 1983, S.
150/151; vgl. auch REGOTZ, Das Ende der Bevormundung, Diss. Zürich 1981, S.
154). In der Tat wäre es nicht verständlich, wenn das Bundesrecht für
das Aufhebungsverfahren geringere Garantien aufstellen würde als für
das Entmündigungsverfahren, obwohl es im wesentlichen um den gleichen
Sachverhalt geht. Ob einer Person die Handlungsfähigkeit entzogen oder
ob ihr die Wiederherstellung der bereits entzogenen Handlungsfähigkeit
verweigert wird, läuft unter dem Gesichtspunkt des Gehörsanspruchs auf
dasselbe hinaus. In beiden Fällen dient die Anhörung nicht nur der Wahrung
der Verteidigungsrechte der betroffenen Person, sondern sie bildet auch
ein Mittel der von Amtes wegen erfolgenden Erforschungen des Tatbestandes,
das der Behörde ein eigenes Urteil über die geistige Verfassung dieser
Person und über die Notwendigkeit der Anordnung bzw. der Weiterführung
einer vormundschaftlichen Massnahme ermöglichen soll (BGE 117 II 138
E. 4a, 113 II 229 E. 6a, 109 II 296 E. 2; EGGER, aaO). Die Anhörung
des Entmündigten erscheint daher auch im Verfahren der Aufhebung der
Vormundschaft von Bundesrechts wegen als geboten. Es handelt sich dabei
um eine bundesrechtliche Verfahrensvorschrift, die das Bundesgericht
im Berufungsverfahren von Amtes wegen zu prüfen hat, unabhängig davon,
ob im kantonalen Verfahren eine entsprechende Rüge erhoben worden ist
(BGE 96 II 16, 87 II 131/132).