Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IB 367



117 Ib 367

45. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 15. November 1991 i.S. Eidg. Steuerverwaltung gegen Erben X. und
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste

    Art. 114bis Abs. 3 BV, Art. 130 Abs. 1 BdBSt, Art. 6 Ziff. 2 EMRK;
Steuerstrafrecht; Erbenhaftung; Unschuldsvermutung; Überprüfung von
Bundesgesetzen.

    1. Die Überprüfung von Bestimmungen des BdBSt auf ihre
Verfassungsmässigkeit ist nach Art. 114bis Abs. 3 BV ausgeschlossen (E. 1).

    2. Können Bestimmungen des BdBSt daraufhin geprüft werden, ob sie
mit der EMRK übereinstimmen? (E. 2).

    3. Die in Art. 130 Abs. 1 BdBSt verankerte Haftung der Erben für die
vom Erblasser verwirkten Nachsteuern und Bussen verstösst nicht gegen
die Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK (E. 3-5).

Sachverhalt

    A.- X. ist am 18. Oktober 1988 gestorben. Er hinterliess als
gesetzliche Erben seine Ehefrau sowie vier Kinder. Nach dem Tod des
Erblassers entdeckten die Erben, dass er Vermögen und Vermögensertrag
nicht vollständig versteuert hatte. Sie machten deshalb Anzeige bei der
kantonalen Steuerverwaltung.

    Die Kantonale Verwaltung für die direkte Bundessteuer Luzern führte in
der Folge ein Hinterziehungsverfahren durch. Am 9. März 1990 verfügte sie
für die rechtskräftig veranlagten Steuerjahre 1983 bis 1988 eine Nachsteuer
von Fr. ... und eine Busse von Fr. ... . Nachsteuer und Busse auferlegte
sie den Erben des Steuerpflichtigen zur Zahlung (Art. 130 Abs. 1 BdBSt).

    Gegen diese Verfügung erhoben die Erben beim Verwaltungsgericht
des Kantons Luzern Beschwerde mit dem Antrag, die Busse, nicht
aber die Nachsteuer sei aufzuheben. Sie vertraten den Standpunkt,
die Busse verstosse gegen Art. 4 BV und gegen Art. 6 Ziff. 2 EMRK
(Unschuldsvermutung). Sie treffe an der unrichtigen Versteuerung kein
Verschulden.

    Mit Urteil vom 18. März 1991 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern die Beschwerde gut und hob die Busse auf, im wesentlichen mit
folgender Begründung:

    Soweit Art. 130 Abs. 1 BdBSt die Erben ohne Rücksicht auf ein eigenes
Verschulden für die vom Erblasser verwirkten Bussen haftbar erkläre,
verstosse er gegen Art. 4 BV. Das Verwaltungsgericht müsse allerdings die
Bestimmungen des BdBSt anwenden, auch wenn sie verfassungswidrig seien
(gemäss Art. 113 Abs. 3 bzw. Art. 114bis Abs. 3 BV). Diese Bindungswirkung
bestehe jedoch nicht, soweit die Vereinbarkeit von Bestimmungen des BdBSt
mit jenen der EMRK in Frage stünden, weil das Völkerrecht dem Landesrecht
vorgehe.

    Das Verwaltungsgericht erwog sodann, Art. 6 Ziff. 2 EMRK verpflichte
als Beweisregel die Strafverfolgungsbehörden, die Schuld des Angeklagten zu
beweisen. Daneben komme der Bestimmung auch für den Gesetzgeber Bedeutung
zu. Dieser dürfe keine Normen erlassen, die eine Umkehrung der Beweislast
zur Folge hätten oder gar den Entlastungsbeweis ausschlössen. Das sei aber
bei Art. 130 Abs. 1 BdBSt der Fall, soweit die Erben "ohne Rücksicht auf
ein eigenes Verschulden" für die vom Erblasser verwirkten Steuerbussen
haftbar seien. Art. 130 Abs. 1 BdBSt sei insoweit nicht anwendbar,
und die gestützt auf diese Bestimmung gegenüber den Erben ausgesprochene
Busse sei aufzuheben.

    Hiegegen führt die Eidg. Steuerverwaltung
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Sie beantragt, den angefochtenen Entscheid
aufzuheben und die Nachsteuer- und Bussenverfügung der Kantonalen
Verwaltung für die direkte Bundessteuer zu bestätigen.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat auf eine Stellungnahme
zur Beschwerde verzichtet. Die Erben schliessen auf Abweisung der
Beschwerde.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und bestätigt die
Nachsteuer- und Bussenverfügung der Kantonalen Verwaltung für die direkte
Bundessteuer.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdegegner haben im bundesgerichtlichen Verfahren wie
schon im kantonalen Verfahren die vom Erblasser begangene Hinterziehung
wie auch ihre Nachsteuerpflicht als Rechtsnachfolger nicht bestritten. Sie
wenden sich einzig gegen die ihnen auferlegte Steuerbusse. Nach ihrer
Ansicht verstösst Art. 130 Abs. 1 BdBSt gegen Art. 4 BV, weil sie für
eine Tat bestraft würden, die vom Erblasser begangen worden sei.

    a) Ob dieser Standpunkt zutrifft, ist im vorliegenden Verfahren
nicht zu prüfen. Das Bundesgericht ist an die Bundesgesetzgebung und die
von der Bundesversammlung genehmigten Staatsverträge gebunden (Art. 113
Abs. 3, Art. 114bis Abs. 3 BV). Das gilt nach ständiger Rechtsprechung
auch in bezug auf den Bundesratsbeschluss über die Erhebung einer
direkten Bundessteuer, der seit 1950 durch sukzessive Annahme befristeter
Verfassungszusätze über die Finanzordnung des Bundes von Volk und Ständen
periodisch bestätigt bzw. abgeändert worden ist und zur Bundesgesetzgebung
zählt, die nach Art. 114bis Abs. 3 BV für das Bundesgericht massgebend ist
(Urteil vom 10. März 1989, in ASA 59 S. 486 E. 1, mit Hinweisen).

    b) Es besteht auch kein Anlass, vom klaren Wortlaut des Art. 130 Abs. 1
BdBSt abzuweichen. Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist eindeutig. Danach
haften die Erben für die vom Erblasser hinterzogenen Steuerbeträge und
die von ihm verwirkte Busse "ohne Rücksicht auf ein eigenes Verschulden",
"même si aucune faute ne leur est imputable". Auch die teleologische,
die systematische oder die historische Auslegung führt zu keinem anderen
Ergebnis. Die Frage, ob eine andere Auslegung "verfassungskonform" sei
(s. BGE 105 Ib 62 E. 5b), stellt sich daher nicht.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdegegner berufen sich auch darauf, dass die
Strafsukzession der Erben gemäss Art. 130 Abs. 1 BdBSt gegen die
in Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerte Unschuldsvermutung verstosse. Das
Verwaltungsgericht fand diesen Standpunkt begründet und wendete Art. 130
Abs. 1 BdBSt im vorliegenden Fall nicht an. Das wirft vorab die Frage nach
dem Verhältnis zwischen dem internationalen Recht und dem Landesrecht auf.

    a) Die Europäische Menschenrechtskonvention ist als ein von der
Bundesversammlung genehmigter Staatsvertrag für die rechtsanwendenden
Behörden nicht weniger verbindlich als ein Bundesgesetz (oder eine der
Bundesgesetzgebung gleichgestellte Rechtsverordnung des Bundesrates,
Art. 113 Abs. 3, Art. 114bis Abs. 3 BV). Allein damit ist die Frage nicht
entschieden, welche Bestimmung vorzugehen hat, wenn eine Vorschrift eines
Bundesgesetzes mit einer Norm der Konvention im Widerspruch steht. Diese
Frage hat auch in der Doktrin zu zahlreichen Kontroversen geführt.

    b) Verschiedene Autoren vertreten die Meinung, dass das
Bundesgericht im Falle eines Konfliktes zwischen einem Bundesgesetz
und einem Staatsvertrag nach allgemeinen Auslegungsregeln vorzugehen,
beispielsweise die lex specialis oder die lex posterior anzuwenden habe
(vgl. die Nachweise bei WALTER KÄLIN, Der Geltungsgrund des Grundsatzes
"Völkerrecht bricht Landesrecht", in Die schweizerische Rechtsordnung in
ihren internationalen Bezügen, Festgabe Schweizerischer Juristentag 1988,
ZBJV 124bis/1988 S. 49). Andere Autoren sind der Ansicht, dass Art. 113
Abs. 3 bzw. Art. 114bis Abs. 3 BV den Konflikt nicht löst, wenn ein
Staatsvertrag einem Bundesgesetz widerspricht, und in diesem Fall nach dem
Grundsatz des Primats des Völkerrechts die staatsvertragliche Regel Vorrang
hat, und zwar unabhängig davon, ob der Staatsvertrag oder das Gesetz früher
zustande gekommen ist (ARTHUR HAEFLIGER, Das Erfordernis einer nationalen
Beschwerde bei Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention, in Die
schweizerische Rechtsordnung in ihren internationalen Bezügen [aaO], S. 37,
sowie PETER SALADIN, Völkerrechtliches ius cogens und schweizerisches
Landesrecht, ebenda, S. 81 f., beide mit weiteren Nachweisen). Zahlreiche
Urteile räumen dem Staatsvertrag den Vorrang vor dem Bundesgesetz ein (BGE
113 II 362; 111 V 202; 110 V 76; 109 Ib 173; 106 Ib 402; 105 Ib 296). Zwar
betreffen viele von ihnen Auslieferungsfälle, bei denen schon das Gesetz
(vgl. Art. 1 Abs. 1 Rechtshilfegesetz, SR 351.1) die internationalen
Vereinbarungen vorbehält; doch hat das Bundesgericht betont, das Prinzip
gelte für alle Rechtsgebiete. Der einzige Vorbehalt geht dahin, dass der
Gesetzgeber die Verletzung internationalen Rechts bewusst in Kauf genommen
haben könnte und dass in einem solchen Fall auch das Bundesgericht an
das völkerrechtswidrige Gesetz gebunden sei (BGE 99 Ib 43 ff., bestätigt
in 112 II 13 E. 8; ferner 111 V 203 E. 2b; s. dazu auch ANDRÉ GRISEL,
A propos de la hiérarchie des normes juridiques, ZBl 88/1987 S. 390/91).

    c) Bei der Europäischen Menschenrechtskonvention handelt es
sich allerdings um einen besonderen Staatsvertrag, da die in ihr
enthaltenen Garantien, soweit sie Grundrechte verbürgen, ihrer Natur
nach verfassungsrechtlichen Inhalt haben. Die Konvention garantiert
einen Mindeststandard an Grundrechten, welche die Verfassungen
zahlreicher Staaten enthalten oder welche die Mitgliedstaaten als
ungeschriebene Verfassungsrechte anerkennen. Das Bundesgericht hat aus
dieser inhaltlichen Beziehung der durch die Konvention geschützten
Rechte mit den verfassungsmässigen Rechten im Urteil Diskont- und
Handelsbank AG vom 19. März 1975 (BGE 101 Ia 67) - nur wenige Monate
nach dem Inkrafttreten der Europäischen Menschenrechtskonvention für die
Schweiz - den Verfahrensgrundsatz hergeleitet, dass die Verletzung der in
der Konvention enthaltenen Rechte verfahrensmässig gleich zu rügen sei
wie die Verletzung verfassungsmässiger Rechte. Das bedeutet namentlich,
dass staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung solcher Rechte die
Erschöpfung des Instanzenzuges und gegebenenfalls das Vorliegen eines
Endentscheides voraussetzen (Art. 86 Abs. 2, 87 OG; BGE 101 Ia 69; im
gleichen Sinn BGE 102 Ia 199 E. 3).

    Diese verfahrensmässige Gleichstellung der durch die Konvention
geschützten mit den verfassungsmässigen Rechten ist durchaus berechtigt
und folgerichtig. Es kann indessen nicht übersehen werden, dass das
Bundesgericht sich im erwähnten Urteil nur mit dieser verfahrensrechtlichen
Frage auseinandergesetzt hat. Es rechtfertigt sich unter diesen Umständen
nicht, aus jenem Entscheid zu schliessen, dass es den rechtsanwendenden
Behörden verwehrt wäre, Bundesgesetze und allgemeinverbindliche
Bundesbeschlüsse daraufhin zu überprüfen, ob sie sich mit der Konvention
im Einklang befinden.

    d) Die besondere Natur der durch die Konvention geschützten Rechte
spricht zwar dafür, sie bei der Grundrechtskonkretisierung zu beachten,
was in der Praxis nicht nur durch entsprechende Auslegung der Bundesgesetze
(z.B. BGE 114 Ia 180 ff., 106 Ia 406), sondern auch in Weiterentwicklung
der in der Bundesverfassung enthaltenen Rechte geschieht. Sie wirft
jedoch die Frage auf, ob die Überprüfung von Bundesgesetzen unter dem
Gesichtspunkt der durch die Konvention geschützten Rechte nicht ebenso
ausgeschlossen ist wie unter dem Gesichtspunkt der verfassungsmässigen
Rechte. Den rechtsanwendenden Behörden ist es nach Art. 113 Abs. 3
BV und Art. 114bis Abs. 3 BV untersagt, Bundesgesetze auf ihre
Verfassungsmässigkeit zu überprüfen, und es stellt sich die Frage, ob
die Menschenrechtskonvention nicht auch in dieser Hinsicht der Verfassung
gleichzustellen sei (Urteil vom 10. März 1989, ASA 59 S. 489 E. 3c). Diese
Frage hat auch in der Literatur zu zahlreichen Kontroversen Anlass gegeben
(für die Überprüfung der Konventionsmässigkeit der Bundesgesetze:
WALTER KÄLIN, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, S.
45; vgl. auch LUZIUS WILDHABER, Erfahrungen mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention, ZSR NF 120/1979 II 342 f.; JÖRG PAUL MÜLLER, Die
Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Schweiz, ZSR NF
94/1975 I 379 f.; PETER SALADIN, Grundrechte im Wandel, 3. Auflage 1982,
S. XII f. Gegen eine Überprüfung: HAEFLIGER, aaO, S. 39/40; ferner ANDREAS
AUER, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 99 ff., N 168 ff.,
171. Vgl. jetzt auch J. P. MÜLLER, in Kommentar zur Bundesverfassung,
Einleitung zu den Grundrechten, N 211).

    e) Art. 113 Abs. 3 BV und Art. 114bis Abs. 3 BV binden das
Bundesgericht und die übrigen rechtsanwendenden Organe nicht nur an die
Bundesgesetze und allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüsse, sondern auch
an die genehmigten Staatsverträge. Aus den Materialien zu Art. 113
Abs. 3 BV ergibt sich klar, dass der Verfassungsgeber seinerzeit
ausschliesslich die Gewaltenteilung zwischen der Bundesversammlung -
der u.a. die Konkretisierung der Verfassung in der Gesetzgebung obliegt
- und dem Bundesgericht regeln wollte. Völkerrechtliche Überlegungen
spielten offenbar bei der Aufnahme der Staatsverträge in Art. 113 Abs. 3
BV keine Rolle (W. HALLER, in Kommentar zur Bundesverfassung, Art. 113
N 142 ff., besonders N 144). Aus dieser Bestimmung kann daher für die
Rangordnung der beiden Rechtsquellen gerade nichts abgeleitet werden (im
gleichen Sinn GRISEL, aaO, S. 390; KÄLIN, aaO [ZBJV 124bis/1988], S. 62;
AUER, aaO, S. 104 N 174; OLIVIER JACOT-GUILLARMOD, La primauté du droit
international face à quelques principes directeurs de l'Etat fédéral
suisse, ZSR NF 104/1985 I S. 403 ff.; IMBODEN/RHINOW, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, 5. Auflage 1976, Band I, S. 81).

    Art. 114bis Abs. 3 BV verbietet demnach nicht, allgemein anerkannte
Prinzipien anzuwenden, die das Verfassungsrecht und Völkerrecht in
Einklang bringen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang namentlich das
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, das für die Schweiz am
6. Juni 1990 in Kraft getreten ist (SR 0.111) und das in Art. 26 und 27
nun ausdrücklich den Grundsatz des Vorrangs des vertraglichen Völkerrechts
enthält. Dieser Grundsatz verlangt von allen rechtsanwendenden Organen
in der Schweiz eine völkerrechtskonforme Auslegung des Landesrechts und
mithin auch von Art. 114bis Abs. 3 BV.

    Auch wenn die Wahrnehmung der völkerrechtlichen Beziehungen
ausschliesslich den politischen Behörden, vorab dem Bundesrat (Art. 102
Ziff. 8 BV), obliegt, rechtfertigt es sich nicht, die Harmonisierung von
Landesrecht und durch die Schweiz abgeschlossenen Völkerrechtsverträgen nur
den politischen Instanzen zu überlassen. Das bedeutet keinen Einbruch in
den Grundsatz der Gewaltenteilung, da aus rechtlicher Sicht alle Behörden
verpflichtet sind, im Rahmen ihrer Kompetenzen das die Schweiz bindende
Völkerrecht zu respektieren und anzuwenden (in diesem Sinne auch die
gemeinsame Stellungnahme des Bundesamtes für Justiz und der Direktion
für Völkerrecht, Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht im
Rahmen der schweizerischen Rechtsordnung, vom 26. April 1989, VPB 53/1989
S. 393 ff., besonders Ziff. 14 ff. [französischer Text: S. 437 ff.]). Es
spricht daher auch nichts dagegen, dass der Richter die Bundesgesetze auf
ihre Übereinstimmung mit der Konvention prüft. Natürlich kann er nicht
eine Gesetzesbestimmung aufheben, weil sie dem Völkerrecht widerspricht;
er könnte höchstens im konkreten Einzelfall die betreffende Norm nicht
anwenden, wenn sie sich als völkerrechtswidrig erweist und zu einer
Verurteilung der Schweiz führen könnte.

    f) Dabei ist der - unbestrittene - Grundsatz von Bedeutung,
dass Bundesgesetze nicht nur verfassungskonform, sondern auch der
Konvention entsprechend auszulegen sind, d.h. so, dass im Zweifelsfalle
ein Konflikt zwischen beiden Rechtsordnungen möglichst vermieden wird
(BGE 106 Ia 34 ff. und zitiertes Urteil in ASA 59 S. 489 E. 3c). Ergibt
schon die Auslegung - wie nachfolgend zu zeigen ist -, dass kein Konflikt
zwischen der Erbenhaftung nach dem Recht der direkten Bundessteuer und
der Europäischen Menschenrechtskonvention besteht, kann die Frage nach
der Rangordnung der beiden Rechtsquellen offenbleiben.

    Art. 114bis Abs. 3 BV statuiert im übrigen nur ein Anwendungsgebot,
kein Prüfungsverbot. Dem Bundesgericht ist es nicht verwehrt, eine
Norm daraufhin zu prüfen, ob sie der Verfassung oder der Konvention
widerspricht, wie es auch den Gesetzgeber einladen kann, eine verfassungs-
oder konventionswidrige Norm zu ändern (vgl. auch BGE 103 Ia 55 Nr. 11,
105 Ib 168; s. dazu KÄLIN, aaO [E. 2d], S. 36 ff.). Schon aus diesem
Grund rechtfertigt es sich, die Erbenhaftung auf ihre Vereinbarkeit mit
der Konvention zu prüfen. Dabei ist zunächst das System der Erbenhaftung
gemäss der Regelung im Beschluss über die direkte Bundessteuer darzulegen.

Erwägung 3

    3.- Bei der einfachen Steuerhinterziehung, wie sie hier in Frage steht,
ist nach Art. 129 Abs. 1 BdBSt eine Busse bis zum Vierfachen des entzogenen
Steuerbetrages auszusprechen. Innerhalb dieses Rahmens ist die Busse nach
pflichtgemässem Ermessen festzusetzen, wobei die Praxis in erster Linie
von der objektiven Schwere der Tat, d.h. vom hinterzogenen Steuerbetrag
im Verhältnis zum geschuldeten Steuerbetrag, ausgeht und den subjektiven
Momenten strafschärfend oder strafmildernd Rechnung trägt (BGE 114 Ib 30
ff.). Ausser der Busse ist der hinterzogene Steuerbetrag zu bezahlen.

    Sind die hinterzogene Steuer oder die Busse beim Tode des
Steuerpflichtigen noch nicht bezahlt, so gehen die daraus erwachsenden
Verpflichtungen auf die Erben über, und diese haften dafür solidarisch
bis zur Höhe ihrer Erbteile (Steuersukzession; Art. 130 Abs. 1 Satz
1 BdBSt). In ein hängiges Verfahren treten die Erben an Stelle des
Erblassers ein (Verfahrenssukzession; Art. 130 Abs. 1 Satz 2 BdBSt). Wird
die Hinterziehung erst nach dem Tode des Steuerpflichtigen entdeckt, so
wird das Verfahren gegenüber seinen Erben angehoben und durchgeführt,
und "diese haften bis zur Höhe ihrer Erbteile solidarisch für die vom
Erblasser hinterzogene Steuer und die von ihm verwirkten Bussen ohne
Rücksicht auf ein eigenes Verschulden" (ebenda Satz 3). Die Erben des
verstorbenen Steuerpflichtigen treten somit, entsprechend dem allgemeinen
Grundsatz der Steuernachfolge (Art. 10 BdBSt), steuerrechtlich und auch
strafsteuerrechtlich seine Nachfolge an.

Erwägung 4

    4.- Die in Art. 130 Abs. 1 BdBSt getroffene Regelung, dass die Erben
für die vom Erblasser hinterzogenen Steuern und verwirkten Bussen haften,
ist im schweizerischen Steuerrecht keine Einzelerscheinung. Sie ist auch in
den kantonalen Steuergesetzen anzutreffen und wurde während Jahrzehnten im
Bund und in den Kantonen in Hinterziehungsfällen zur Anwendung gebracht.
Dies ist heute noch der Fall, wenn auch in der Steuerrechtslehre die
Erbenhaftung vermehrt in Zweifel gezogen wird (WALTER ROBERT PFUND,
Das Steuerstrafrecht, S. 115 ff.; PETER BÖCKLI, Harmonisierung des
Steuerstrafrechts, ASA 51 S. 123 ff.; URS R. BEHNISCH, Das Steuerstrafrecht
im Recht der direkten Bundessteuer, S. 122 f.; URS-VIKTOR INEICHEN,
Deliktsfähigkeit der juristischen Personen und Erbenhaftung, Nach-
und Strafsteuerrecht im Wandel, Luzerner Rechtsseminar 1990, S. 10
ff. Demgegenüber wird die Strafsteuerhaftung der Erben befürwortet etwa
von: ERNST HÖHN, Tendenzen im schweizerischen Steuerstrafrecht, ASA 41
S. 286; FERDINAND ZUPPINGER, Verschuldensprinzip und Steuerstrafrecht,
Steuerrecht im Rechtsstaat, Festschrift für Francis Cagianut, S. 218 f.;
KÄNZIG, Wehrsteuer, 1. Auflage, N 3 zu Art. 130).

    a) Die Notwendigkeit der Erbenhaftung wird vor allem damit begründet,
dass sich die Hinterziehung durch den Erblasser auf das den Erben
hinterlassene Vermögen auswirke. Die vom Erblasser hinterzogenen Steuern
würden das Nachlassvermögen erhöhen, was den Erben zugute komme. Wenn
die Erben lediglich die Nachsteuer schuldeten, so sei dies geradezu ein
Anreiz für den Steuerpflichtigen, zu Lebzeiten Einkommen und Vermögen
zu hinterziehen. Wegen der zeitlichen Begrenzung der Nachsteuerpflicht
(Befristung des Rechts, das Nachsteuerverfahren einzuleiten) liessen
sich dabei echte Vorteile erzielen. Hingegen vermindere die zu Lebzeiten
entdeckte und geahndete Steuerhinterziehung das Nachlassvermögen direkt
oder indirekt. Es dürfe deshalb keine Rolle spielen, ob der Erblasser die
Strafsteuer noch selbst bezahlt habe oder ob die Hinterziehung erst nach
seinem Tode entdeckt und verfolgt werde (vgl. etwa HÖHN, aaO, S. 286).

    b) In der Tat entspricht es der zivilrechtlichen Ordnung, dass die
Erben des verstorbenen Steuerpflichtigen bis zum Betrage ihres Erbteils
für alle Steuerschulden haften, soweit diese nicht schon vor dem Tode
des Erblassers bezahlt worden sind. Die zivilrechtliche Erbfolge ist die
Universalsukzession. Mit dem Tode des Erblassers erwerben die Erben von
Gesetzes wegen die Erbschaft als Ganzes (Art. 560 ZGB). Dieser Ordnung
entspricht im Steuerrecht, dass die Erben auf dem Wege der Steuersukzession
für alle Steuerschulden des Erblassers und somit auch für die dem
Erblasser wegen Steuerhinterziehung auferlegten Strafsteuern und Bussen
haften. Mit der Regelung des Art. 130 Abs. 1 BdBSt, dass in ein hängiges
Hinterziehungsverfahren die Erben an Stelle des Erblassers eintreten und
dass das Verfahren gegenüber den Erben anzuheben und durchzuführen ist,
wenn die Hinterziehung erst nach dem Tode des Erblassers entdeckt wird,
werden nur im Ergebnis alle Fälle unabhängig ihrer zeitlichen Komponente
gleich behandelt; d.h. unabhängig davon, ob die Steuerforderungen und
Bussen schon zu Lebzeiten des Erblassers rechtskräftig festgesetzt worden
sind oder ob sie erst nach seinem Tode veranlagt werden.

    c) Es trifft auch nicht zu, wie Kritiker der Erbenhaftung geltend
machen, dass die Erben für eine Tat bestraft werden, die nicht von
ihnen, sondern vom Erblasser begangen worden ist. Die Steuerbusse wird
grundsätzlich nach dem Verschulden des Erblassers festgesetzt und trifft
den fehlbaren Steuerpflichtigen bzw. seinen Nachlass. Die Erben sind als
Rechtsnachfolger lediglich dafür haftbar, beschränkt auf ihren Erbteil,
dass die Busse bezahlt wird. Dass die Strafe nicht die Erben trifft,
geht mit aller Deutlichkeit daraus hervor, dass die Erben sich ihrer
Verpflichtungen aus der Erbschaft entledigen können, indem sie die
Erbschaft ausschlagen (Art. 566 ZGB).

    Dass die Erben aufgrund der Steuersukzession richtigerweise für
alle Steuerforderungen und somit auch für Steuerbussen haften, soweit
sie schon vor dem Tode des Erblassers festgesetzt worden sind, anerkennen
übrigens auch Gegner der Erbenhaftung (BÖCKLI, aaO, ASA 51 S. 124; s. auch
W. R. PFUND, Das neue Verwaltungsstrafrecht des Bundes, unter besonderer
Berücksichtigung des Steuerstrafrechts, ASA 42 S. 170; BEHNISCH, aaO,
S. 124 bei Fn. 607; anderer Ansicht INEICHEN, aaO, S. 14). Dann ist es
aber folgerichtig, wenn nach Art. 130 Abs. 1 BdBSt die Erben auch für die
im Zeitpunkt des Todes des Erblassers noch nicht rechtskräftig veranlagten
Strafsteuern haften.

    d) Richtig ist, dass die Hinterziehungsbusse nach Art. 129 BdBSt
eine echte Strafe darstellt (BGE 116 IV 266; s. auch WALTER KÄLIN/LISBETH
SIDLER, Verschuldensgrundsatz und Öffentlichkeitsprinzip: Die Strafsteuer
im Lichte von Verfassung und EMRK, ASA 60 S. 169 ff.). Das hat zur
Folge, dass die allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Strafrechts
(Art. 1-110 StGB) Anwendung finden, soweit nicht der Beschluss über die
direkte Bundessteuer selbst Bestimmungen aufstellt (Art. 333 Abs. 1 StGB;
BGE 114 Ib 30 f.). Indem Art. 130 Abs. 1 BdBSt eine Haftung der Erben nicht
nur für Nachsteuern, sondern auch für Steuerbussen vorsieht, weicht er vom
bürgerlichen Strafrecht ab, bei dem eine Bussenschuld nicht vererbt wird
(Art. 48 StGB). Die Abweichung ist aber durch die besonderen Bedürfnisse
des Fiskalrechts begründet.

    Dabei ist zu berücksichtigen, dass es im Fiskalrecht nicht nur um
die Nach- und Strafsteuersukzession der Erben geht, sondern auch um die -
nach allgemeinem Strafrecht nicht deliktsfähigen - juristischen Personen,
die gemäss Art. 130 Abs. 4 BdBSt für die im Geschäftsbetrieb oder bei der
Liquidation von ihren Organen begangenen Hinterziehungen strafbar sind. In
beiden Fällen liegt der steuerrechtlichen Ordnung die Überlegung zugrunde,
dass es in hohem Masse unbefriedigend und der Wirksamkeit der fiskalischen
Ordnung abträglich wäre, wenn die Erben in den Genuss der Früchte einer vom
Erblasser begangenen Steuerhinterziehung kämen (was bei einem Verzicht auf
die Erbenhaftung für Bussen jedenfalls teilweise der Fall wäre) bzw. wenn
die juristische Person vom Ergebnis eines schuldhaften Verhaltens ihres
Organs, wodurch sie unrechtmässig bereichert würde, profitieren könnte.

    e) Gegen die Erbenhaftung wird in der Literatur eingewendet, dass die
Erben angesichts der drohenden Bussen und Nachsteuern dazu gezwungen und
verführt würden, ihre bisherige Steuerehrlichkeit aufzugeben und das vom
Erblasser verheimlichte Einkommen weiterhin nicht zu versteuern. Dieser
Einwand ist durchaus beachtlich (vgl. dazu namentlich die von WALTER
ROBERT PFUND, Das Steuerstrafrecht, S. 115 ff. und besonders S. 119,
geübte Kritik). Die neuen Bundesgesetze über die direkte Bundessteuer
(DBG, AS 1991 1184) und über die Harmonisierung der direkten Steuern
der Kantone und Gemeinden (StHG, AS 1991 1256) vom 14. Dezember 1990
sehen denn auch vor, dass keine Busse zu erheben sei, wenn "die Erben an
der unrichtigen Versteuerung kein Verschulden trifft und sie das ihnen
Zumutbare zur Feststellung der Steuerhinterziehung getan haben" (Art. 179
Abs. 2 DBG, Art. 57 Abs. 3 StHG); damit werden Ziele verwirklicht, die
schon vor geraumer Zeit als erstrebenswert bezeichnet wurden (s. auch
ZUPPINGER/BÖCKLI/LOCHER/REICH, Steuerharmonisierung, S. 301; BÖCKLI,
aaO, ASA 51 S. 125 f.). Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass
die Erben nicht persönlich bestraft werden, auch wenn das von ihnen -
verständlicherweise - manchmal so empfunden werden mag.

Erwägung 5

    5.- Zu prüfen bleibt, ob die Erbenhaftung gemäss Art. 130 Abs. 1
BdBSt gegen die Unschuldsvermutung des Art. 6 Ziff. 2 EMRK verstösst,
wie die Beschwerdegegner geltend machen.

    a) Die Vermutung der Schuldlosigkeit gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK
ist zunächst eine Regel der Beweiswürdigung. Nach der Praxis der
Europäischen Kommission für Menschenrechte findet sie ihre Ausprägung
vor allem im Grundsatz in dubio pro reo. Danach ist es Sache der
Strafverfolgungsbehörde, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, und
ist im Zweifelsfall zugunsten des Angeklagten zu entscheiden (vgl. BGE
106 IV 88/89; VOGLER, in Internationaler Kommentar zur Europäischen
Menschenrechtskonvention, N 405 ff. und 418 zu Art. 6; STEFAN TRECHSEL,
Struktur und Funktion der Vermutung der Schuldlosigkeit, SJZ 77/1981
S. 321 f.). Sodann schützt Art. 6 Ziff. 2 EMRK als Beweislastregel auch
vor Umkehrungen der Beweislast. Nicht der Angeklagte hat somit seine
Unschuld zu beweisen, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine Schuld;
das Gericht muss ihn aber zum Gegenbeweis antreten lassen (VOGLER, aaO,
N 414 ff. zu Art. 6; TRECHSEL, aaO, S. 320 f.).

    Diese Regeln haben indes mit dem Problem der Haftung für Steuerbussen,
die wegen schuldhafter Steuerhinterziehung dem Erblasser bzw. seinem
Nachlass auferlegt werden, nichts zu tun. Die Busse ist nicht die Folge
eines die Beschwerdegegner treffenden Verschuldens. Sie ist vielmehr unter
Berücksichtigung des Verschuldens des Verstorbenen festgesetzt worden,
wobei dem Umstand, dass die Erben die Steuerhinterziehung des Erblassers
freiwillig angezeigt haben, strafmindernd - durch Reduktion der Busse
auf einen Viertel des normalen Masses - berücksichtigt worden ist. Diese
Tatsache ändert jedoch nichts daran, dass die Steuerbusse primär den
fehlbaren Steuerpflichtigen bzw. seinen Nachlass trifft. Würde den Erben
trotz freiwilliger Meldung die Strafminderung verweigert, so wären sie
insoweit schlechtergestellt als der Erblasser, der die von ihm begangene
Hinterziehung jederzeit hätte anzeigen können und damit eine erhebliche
Herabsetzung der Busse erwirkt hätte (BGE 89 I 45 ff., besonders S. 47/48).

    c) Bedenklich scheint unter dem Gesichtswinkel der Unschuldsvermutung
etwa Art. 130 Abs. 3 BdBSt, der die vom vertraglichen Vertreter begangene
Steuerhinterziehung der vertretenen Person zurechnet, "sofern diese nicht
nachweist, dass sie nicht imstande gewesen wäre, die Handlung zu verhindern
oder deren Auswirkungen rückgängig zu machen". Das Bundesgericht hat
in älteren Entscheiden angenommen, nach dieser Bestimmung müsse der
Steuerpflichtige den Beweis antreten, dass ihn kein Verschulden an
der unrichtigen Versteuerung treffe (vgl. etwa BGE 89 I 406 E. 2). In
neueren Entscheiden wurde dagegen jeweils geprüft, ob der Steuerpflichtige
schuldhaft gehandelt hat. Damit wird der Unschuldsvermutung des Art. 6
Ziff. 2 EMRK Rechnung getragen (Urteile vom 6. Februar 1970, in ASA
39 S. 263 E. 3 und S. 433 E. 3b, sowie vom 29. September 1986, in Der
Steuerentscheid 1988, B 101.2, Nr. 6).

    Diese Bedenken sind bei der Erbenhaftung jedoch nicht
angebracht. Art. 130 Abs. 1 BdBSt bewirkt keine solche Umkehrung
der Beweislast. Die Beschwerdegegner haben nicht zu beweisen, dass
sie unschuldig sind. Vielmehr haben die Behörden das Verschulden des
verstorbenen Steuerpflichtigen nachzuweisen. Dass im vorliegenden Fall
der Erblasser schuldhaft Steuern hinterzogen hat, wird im übrigen mit
Recht von keiner Seite bestritten. Das Verschuldensprinzip ist gewahrt.