Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IA 69



117 Ia 69

12. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 14.
Februar 1991 i.S. M. gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons
Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Persönliche Freiheit; Art. 5 Ziff. 1 EMRK. Haftentlassung.
Fluchtgefahr.

    Die Höhe der zu erwartenden Strafe vermag für sich allein den
besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr nicht zu rechtfertigen. Im
vorliegenden Fall genügen die psychische Labilität der Angeklagten und die
zu erwartende Strafe für die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft nicht.

Sachverhalt

    A.- Frau M. wurde im Oktober 1989 unter dem dringenden Tatverdacht,
ein Tötungsdelikt begangen zu haben, in Untersuchungshaft gesetzt.
Nachdem sie im November 1990 ein Haftentlassungsgesuch gestellt hatte,
erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Anklage wegen vorsätzlicher
Tötung. Die Anklage wurde zusammen mit dem Haftentlassungsbegehren der
Anklagekammer des Obergerichtes überwiesen. Die Anklagekammer liess Frau
M. in Sicherheitshaft versetzen, wogegen Frau M. an die II. Zivilkammer
des Obergerichtes rekurrierte.

    Gegen den ablehnenden Rekursentscheid hat Frau M. staatsrechtliche
Beschwerde erhoben. Sie rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit
und von Art. 5 Ziff. 1 EMRK und macht geltend, die kantonale Instanz habe
zu Unrecht das Bestehen von Fluchtgefahr angenommen. Das Bundesgericht
heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Gemäss § 49 in Verbindung mit § 52 der zürcherischen
Strafprozessordnung darf Sicherheitshaft angeordnet oder aufrechterhalten
werden, wenn der Angeklagte eines Verbrechens oder Vergehens dringend
verdächtig ist und überdies entweder Kollusions- oder Fluchtgefahr
vorliegt. Die Beschwerdeführerin beanstandet nicht, dass die kantonale
Instanz den dringenden Tatverdacht bejaht hat. Hingegen macht sie
geltend, das Obergericht habe in verfassungs- und konventionswidriger
Weise angenommen, es bestehe Fluchtgefahr.

    a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes, die mit jener des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte übereinstimmt, braucht es
für die Annahme der Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass
sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung
und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der
drohenden Strafe darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie
genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr
müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die
gesamten Verhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden
(BGE 108 Ia 67 E. 3; 107 Ia 6 E. 5; 106 Ia 407 E. 4c; 102 Ia 381; 95
I 242). Die Erwägung des Obergerichtes, wonach die vorliegend mögliche
Zuchthausstrafe von nicht unter fünf Jahren (Art. 111 StGB) "an sich schon"
die Annahme der Fluchtgefahr rechtfertige, widerspricht krass der erwähnten
Bundesgerichtspraxis und ist als verfassungswidrig zu beurteilen.

    b) Es fragt sich, ob ausser der Höhe der drohenden Strafe
konkrete Umstände vorliegen, welche die Annahme der Fluchtgefahr
rechtfertigen. Das Gutachten der Kantonalen Psychiatrischen Klinik
Rheinau vom 24. Oktober 1990 attestiert der Beschwerdeführerin eine
erhebliche Neigung zu Affekt- und Impulsdurchbrüchen aggressiver und
autoaggressiver Art. Mit Recht kann daher von einer zumindest latenten
psychischen Labilität der Beschwerdeführerin gesprochen werden. - Das
psychiatrische Gutachten lässt demgegenüber den Schluss nicht zu, die
festgestellte psychische Konstitution wirke sich im vorliegenden Fall in
einer erhöhten Fluchtbereitschaft aus: Der Experte weist besonders darauf
hin, dass sich die Neigung zu affektiven und impulsiven Handlungen dann
manifestiere, wenn eine soziale Bindung zerreisst oder zu zerreissen
droht. Die Beschwerdeführerin engagiere sich in ihren familiären
Beziehungen mit derartiger Hilfs- und Aufopferungsbereitschaft, dass
Trennungs- und Verlassungserlebnisse zwangsweise eine Flut von Emotionen,
Affekten und Triebstrebungen nach sich zögen. Gerade mit ihren beiden
(zehn- bzw. dreizehnjährigen) Kindern verbindet die Beschwerdeführerin
auf Grund der aktenkundigen Untersuchungsergebnisse eine innige Beziehung,
welche von grossem Einsatz und von Fürsorge, nicht zuletzt gegenüber
der POS-kranken Tochter X., zeugt. Besonders die Zuwendung zu ihren
Kindern hilft der Beschwerdeführerin gemäss Expertise, im seelischen
Gleichgewicht zu bleiben. Damit erscheint der psychiatrische Befund
aber gerade nicht geeignet, zusätzliche konkrete Anzeichen für eine
Fluchtgefahr zu begründen. - Es weist gerade nichts darauf hin, dass
die Beschwerdeführerin, einmal aus der Sicherheitshaft entlassen, sich
ausgerechnet die Möglichkeit verbauen sollte, den Kontakt mit ihren bei
ihrer Schwester untergebrachten Kindern pflegen zu können; genau dies wäre
aber die Konsequenz einer Flucht der Beschwerdeführerin ins Ausland oder
auch nur eines "Untertauchens", wie es die kantonale Instanz befürchtet.

    Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die angeordnete Sicherheitshaft
allein gestützt auf die Höhe der in Frage kommenden Freiheitsstrafe
nicht aufrechterhalten werden kann. Wie die kantonale Instanz ausdrücklich
festgehalten hat, liegt nach Abschluss der Untersuchung und Anklageerhebung
sowie angesichts der Geständigkeit der Beschwerdeführerin ebensowenig
Kollusionsgefahr vor. Diese Auffassung muss zwar angesichts des im
Verfahren vor Geschworenengericht geltenden Unmittelbarkeitsprinzips und
der damit verbundenen Gefahr einer Einflussnahme auf die Geschworenen
auf gewisse Bedenken stossen, das Bundesgericht hat indessen keine
Veranlassung, vorliegend entgegen der Auffassung beider Parteien von sich
aus auf Kollusionsgefahr zu schliessen (vgl. zur bundesgerichtlichen
Zurückhaltung bei der Substitution von Motiven etwa BGE 106 Ia 315
E. 1b). In der Konsequenz gebietet das Verfassungsrecht in diesem
speziellen Haftfall, der durchaus als Grenzfall zu betrachten ist,
die Beschwerdeführerin aus der Sicherheitshaft zu entlassen und dem
Fluchtrisiko mit weniger einschneidenden Massnahmen (Meldepflicht, Pass-
und Schriftensperre) zu begegnen.