Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IA 465



117 Ia 465

72. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 6.
November 1991 i.S. K. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und Direktion der
Justiz des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Persönliche Freiheit, Meinungsäusserungsfreiheit, Art. 54 BV; Art. 8
und 12 EMRK (Briefverkehr zwischen Untersuchungsgefangenen).

    Das öffentliche Interesse an der Aufklärung von schweren
Gewaltverbrechen und an einem ungestörten Gang des betreffenden
Strafuntersuchungsverfahrens kann dem Wunsch des Angeschuldigten, einer
inhaftierten Mitverdächtigen während des Untersuchungsverfahrens einen
schriftlichen Heiratsantrag machen zu wollen, vorgehen. Die Zurückhaltung
des fraglichen Briefes durch die Behörden im Falle von Kollusions- und
Beeinflussungsgefahr verletzt weder die Bundesverfassung (persönliche
Freiheit, Meinungsäusserungsfreiheit, Ehefreiheit) noch die entsprechenden
Garantien der EMRK (E. 2-4).

Sachverhalt

    A.- Die Bezirksanwaltschaft Zürich führt gegen K. eine
Strafuntersuchung wegen verschiedenen schweren Gewaltverbrechen,
darunter wegen mehrfachen Mordes. K. soll am 18./19. Februar 1990
zusammen mit der Mitangeschuldigten L. die A. W. getötet, in mehrere
Teile zerstückelt und in einem Bach beseitigt haben. Ausserdem wird
K. vorgeworfen, am 26./27. September 1989 H. W. und am 28. März 1983
H. M. bewusstlos geschlagen und anschliessend mit Messerstichen in Hals,
Gesicht und Oberkörper getötet zu haben. Die weiteren Delikte betreffen
u.a. wiederholten Raub, versuchte Notzucht sowie Gewalt und Drohung
gegen Beamte.

    Am 21. Februar 1990 wurden K. und L. in Untersuchungshaft gesetzt. Am
23. April 1991 schrieb K. der im Tötungsfall A. W. Mitangeschuldigten
L. einen Brief, in dem er ihr Liebeserklärungen und einen
Heiratsantrag machte. Mit Verfügung vom 26. April 1991 verweigerte die
Bezirksanwaltschaft Zürich die Weiterleitung des Briefes gestützt auf §§
48 und 53 der zürcherischen Verordnung über die Bezirksgefängnisse vom
19. April 1972. Ein von K. gegen diese Verfügung gerichteter Rekurs wies
die Direktion der Justiz des Kantons Zürich mit Entscheidung vom 11. Juni
1991 ab. Gegen den ablehnenden Entscheid gelangte K. mit staatsrechtlicher
Beschwerde an das Bundesgericht. Er macht unter anderem eine Verletzung
von Art. 54 BV sowie von Art. 8 und Art. 12 EMRK geltend. Das Bundesgericht
weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist ein Eingriff in das Recht auf
freien Briefverkehr nur statthaft, soweit er gesetzlich vorgesehen
ist und eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen
Gesellschaft zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Verhinderung
von strafbaren Handlungen notwendig ist. Diesbezüglich räumt der vom
Beschwerdeführer ausdrücklich angerufene Art. 8 EMRK keine über die
ungeschriebenen Verfassungsrechte der persönlichen Freiheit und der
Meinungsäusserungsfreiheit hinausgehenden Rechte ein. Grundsätzlich
zulässig ist insbesondere die Überwachung von Gefangenenpost durch
die Behörden zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Gefängnisordnung,
und bei Untersuchungsgefangenen die Briefkontrolle zur Verhinderung
unangemessener Einflussnahmen auf das hängige Strafverfahren oder neuer
strafbarer Handlungen (unveröffentlichte Urteile des Bundesgerichtes
vom 19. Januar 1988 i.S. S. K., E. 4c, S. 9 f., vom 2. November
1988 i.S. V. M., E. 3-4a, sowie vom 7. Mai 1987 i.S. A. L., E. 3b,
S. 9). Indessen darf der Briefverkehr nur insoweit beschränkt werden,
als dies der Zweck der Untersuchung oder die Anstaltsordnung erfordern
(BGE 107 Ia 149 mit Hinweisen; vgl. auch GIORGIO MALINVERNI, Le droit
des personnes privées de liberté au respect de leur correspondance, in:
Etudes en l'honneur de Jean Pictet, Genève/La Haye 1984, S. 90, 94). Das
öffentliche Interesse am Eingriff ist dabei gegenüber dem Interesse
des Betroffenen an der Achtung des Privat- und Familienlebens abzuwägen
(vgl. BGE 115 Ib 6 E. 3b, 7 f. E. 4).

    In dem die Schweiz betreffenden Urteil vom 20. Juni 1988
i.S. Schönenberger und Durmaz hat der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte festgehalten, dass der Zweck der Aufrechterhaltung der
Ordnung und der Verhinderung von strafbaren Handlungen im Falle von
Untersuchungsgefangenen empfindlichere Eingriffe rechtfertigen könne
als bei Personen, die sich in Freiheit befinden (Publications de la
Cour européenne des droits de l'homme, Série A, vol. 137, Ziff. 25). Der
Gerichtshof kam indessen zur Auffassung, dass der nicht weitergeleitete
Brief eines Rechtsanwaltes an einen Untersuchungsgefangenen, in dem
dieser auf sein Recht zur Aussageverweigerung hätte aufmerksam gemacht
werden sollen, den Zweck der Untersuchung nicht gefährdete. Obwohl der
betreffende Anwalt nicht formell bevollmächtigt war, betrachtete der
Gerichtshof die Nichtweiterleitung des Briefes daher als nicht notwendigen
und somit im Lichte von Art. 8 EMRK unzulässigen Eingriff in das Recht
auf freien Briefverkehr (aaO, Ziff. 28 f.).

    b) Gemäss dem vom Beschwerdeführer ausdrücklich angerufenen Art. 12
EMRK hat mit Erreichung des heiratsfähigen Alters jedermann das Recht,
gemäss den einschlägigen nationalen Gesetzen eine Ehe einzugehen und
eine Familie zu gründen. Nach der Rechtsprechung der Strassburger
Organe, welche insofern nicht über die Garantien von Art. 54 BV
hinausgeht, wäre ein generelles Heiratsverbot für Strafgefangene
unzulässig (vgl. FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl 1985, Art. 12
N 2). Im vorliegenden Fall wurde dem Beschwerdeführer jedoch nicht die
Eingehung einer Ehe verweigert, sondern lediglich die Weiterleitung eines
schriftlichen Heiratsantrages im derzeitigen Stadium des Strafverfahrens.
Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, sein Brief hätte im Hinblick
auf die allfällige Vorbereitung einer Eheschliessung weitergeleitet werden
müssen, geht seine Rüge daher nicht über diejenige der Verletzung von
Art. 8 EMRK hinaus. Selbst wenn man die blosse Nichtweiterleitung eines
Briefes dem Schutzbereich der besonderen Ehefreiheitsgarantie der EMRK
unterstellen wollte, wäre nach der Rechtsprechung der Strassburger Organe
eine Einschränkung des Rechtes auf Ehe insoweit zulässig, als überwiegende
"anerkannte öffentliche Interessen" eine solche Massnahme notwendig
erscheinen lassen (Bericht der Europäischen Kommission für Menschenrechte
vom 10. Juli 1980 i.S. Draper c. GB, B 8186/78 = EuGRZ 1982, S. 532).

    c) Auch Art. 54 BV gewährleistet dem Beschwerdeführer im vorliegenden
Fall keine über das Gesagte hinausgehenden Rechte. In einem nicht
publizierten Entscheid aus dem Jahre 1981 hat das Bundesgericht zwar
festgehalten, dass es grundsätzlich nicht in der Zuständigkeit der
Verwaltungs- und Strafvollzugsbehörden liege, eine Eheschliessung
von Strafgefangenen im Strafvollzug zu bewilligen oder zu verweigern
(Urteil vom 18. November 1981 i.S. O. R. und E. S., E. 2, S. 7 f.). Im
Gegensatz zum zitierten Entscheid geht es im vorliegenden Fall aber
nicht um die Bewilligung einer Heirat von bereits verurteilten Häftlingen
im Strafvollzug, sondern um die Beschränkung des Briefverkehrs zwischen
Mitangeschuldigten während der laufenden Strafuntersuchung. Bei Kollusions-
und Beeinflussungsgefahr sind gegenüber Untersuchungsgefangenen stärkere
Eingriffe in die von der Bundesverfassung garantierte Ehefreiheit
zulässig als gegenüber Häftlingen im Strafvollzug (vgl. DETLEV DICKE in
Sammelkommentar BV, Bd. II, Art. 54 N 53). Zulässig ist insbesondere die
Beschränkung des Besuchsverkehrs und die Überwachung von Gesprächen unter
Ehegatten (unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 2. Februar
1988 i.S. R. P., E. 4).

    d) Die Rüge der Verletzung von Art. 4 BV hat im vorliegenden Fall
keine über das Dargelegte hinausgehende selbständige Bedeutung.

Erwägung 3

    3.- Gemäss § 53 der zürcherischen Verordnung über die
Bezirksgefängnisse vom 19. April 1972 (aGVO/ZH) unterliegen ein- und
ausgehende Briefe der Kontrolle. Abs. 3 der Bestimmung lautet wie folgt:

    "Der Briefverkehr mit Mitgefangenen und früheren Mitgefangenen (nahe

    Angehörige ausgenommen) ist untersagt. Briefe, die den Haftzweck
oder die

    Sicherheit des Gefängnisses gefährden, werden nicht, Briefe, die
sich auf
   ein hängiges Strafverfahren beziehen, nur in der Korrespondenz mit dem

    Verteidiger weitergeleitet. Der Gefangene ist zu informieren, wenn ein

    Brief nicht weitergeleitet wird."

    Am 1. Juni 1991 ist die revidierte Verordnung über die
Bezirksgefängnisse vom 24. April 1991 (nGVO/ZH) in Kraft getreten (§ 80
nGVO/ZH). Gemäss § 59 Abs. 4 nGVO/ZH werden Briefe, welche den Haftzweck
oder die Sicherheit des Gefängnisses gefährden oder sich auf ein hängiges
Strafverfahren beziehen, nicht weitergeleitet. Keiner Kontrolle unterliegt
der Briefverkehr mit dem Verteidiger (§ 60 Abs. 1 nGVO/ZH). Obwohl
der Entscheid der Bezirksanwaltschaft betreffend Nichtweiterleitung
des Briefes an L. vom 26. April 1991 datiert, hat die Justizdirektion
im vorliegenden Fall die revidierte Gefängnisverordnung zur Anwendung
gebracht, weil diese für den Beschwerdeführer "günstiger" sei und der
"künftige Briefverkehr (...) ohnehin nach der neuen Regelung zu beurteilen"
sein werde. Da beide Verordnungen eine genügende gesetzliche Grundlage
für die Beschränkung des Briefverkehrs im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK
darstellen, kann offengelassen werden, welche Regelung im vorliegenden
Fall massgeblich ist. Nach der Rechtsprechung der Strassburger Organe
sowie des Bundesgerichtes erfüllt auch ein materielles Gesetz, somit eine
Gefängnisverordnung, die Anforderungen an eine gesetzliche Grundlage
für die Einschränkung des Briefverkehrs (Urteil des Gerichtshofes vom
25. März 1983 i.S. Silver u.a., Série A, vol. 61, Ziff. 86, 89 = EuGRZ
1984, S. 150; Urteil des Gerichtshofes vom 21. Februar 1975 i.S. Golder,
Série A, vol. 18, Ziff. 45 = EuGRZ 1975, S. 100; betreffend aGVO/ZH
vgl. unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichtes vom 2. November 1988
i.S. V. M., E. 3, S. 5; Entscheidung der Europäischen Kommission für
Menschenrechte vom 9. Mai 1977 i.S. X. c. CH, B 7736/77 = EuGRZ 1977,
S. 298).

Erwägung 4

    4.- a) Die kantonalen Instanzen begründen den Rückbehalt des
Briefes vom 23. April 1991 damit, dass eine Weiterleitung den Haftzweck
gefährden würde. Zwischen dem Beschwerdeführer als Absender und der
Mitangeschuldigten L. als Adressatin bestehe Kollusionsgefahr. Der
Beschwerdeführer wendet dagegen im wesentlichen ein, die Interessen der
Verbrechensaufklärung müssten "hinter das Recht des Menschen auf freie
Entfaltung, insbesondere das Recht auf Eingehen einer Ehe, zurücktreten".
Ausserdem handle es sich um einen "gewöhnlichen Liebesbrief". Es sei
nicht einzusehen, inwiefern dessen Inhalt den Untersuchungszweck gefährden
könnte.

    b) Es werden dem Beschwerdeführer ausserordentlich schwere Verbrechen
vorgeworfen, darunter dreifacher Mord. Gemäss den Untersuchungsakten wird
der Beschwerdeführer von verschiedenen Personen als Haupttäter belastet. Er
selber bezeichnet sich als "Hauptverdächtiger". Die Adressatin des Briefes
ist in einem der drei Tötungsfälle der Mittäterschaft verdächtig und
befindet sich deswegen in Untersuchungshaft. Das Risiko einer Kollusion
zwischen den beiden mutmasslichen Tatbeteiligten liegt somit auf der Hand.

    Die Beeinflussungsgefahr erstreckt sich entgegen der Auffassung
des Beschwerdeführers auch auf den Inhalt des fraglichen Briefes, der
"lediglich" Liebeserklärungen und einen ausdrücklichen Heiratsantrag
an L. enthält. Insbesondere ist zu befürchten, dass sich die
Mitangeschuldigte unter dem Eindruck des Briefes zu Falschaussagen
zugunsten des Beschwerdeführers verleiten lassen könnte. Dies gilt um so
mehr, als aus den Akten eine hochgradige Beeinflussbarkeit und Labilität
der Mitangeschuldigten L. im Hinblick auf die Person des Beschwerdeführers
hervorgeht. In der untersuchungsrichterlichen Einvernahme hat sich
L. dahingehend geäussert, dass sie dem Beschwerdeführer gewissermassen
hörig und von ihm "abhängig" sei und "meistens" alles mache, was er
ihr sage. Da der Beschwerdeführer in den untersuchungsrichterlichen
Einvernahmen regelmässig keine oder nur unbrauchbare Aussagen gemacht hat,
ist die Strafverfolgungsbehörde noch in besonderem Mass auf unbeeinflusste
Aussagen von L. angewiesen. Liebesbeteuerungen und Heiratsanträge des
Beschwerdeführers im jetzigen Zeitpunkt könnten aber geeignet sein,
ihr Aussageverhalten zu beeinflussen. Aus den Untersuchungsakten
ist ersichtlich, dass sich schon die heute geschiedene Ehefrau des
Beschwerdeführers zu offenbar unrichtigen Aussagen, insbesondere zur Abgabe
eines später widerrufenen Alibis zu seinen Gunsten, hat bewegen lassen.

    Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Weiterleitung des
fraglichen Briefes den Haftzweck der Verhinderung von Kollusion, das
Ziel einer unverfälschten Verbrechensaufklärung und damit den Zweck der
Strafuntersuchung gefährden würde. Es kann offengelassen werden, ob der
schriftliche Heiratsantrag darüber hinaus in der rechtsmissbräuchlichen
Absicht verfasst worden sein könnte, der Mitangeschuldigten L. während des
laufenden Untersuchungsverfahrens ein allfälliges Zeugnisverweigerungsrecht
zu verschaffen.

    c) Das öffentliche Interesse an der Nichtgefährdung des
Untersuchungszweckes ist dem persönlichen Interesse des Beschwerdeführers
an der Weiterleitung des Briefes gegenüberzustellen. Bei der entsprechenden
Interessenabwägung ist insbesondere der Schwere der zu untersuchenden
Straftaten Rechnung zu tragen. Zu berücksichtigen ist aber auch die
Tatsache, dass dem Beschwerdeführer entgegen seiner Darstellung nicht
eine allfällige Eheschliessung mit L. zum vornherein verweigert wurde,
sondern allein die Weiterleitung eines schriftlichen Heiratsantrages im
jetzigen Stadium des Verfahrens. Es kann keine Rede davon sein, dass die
"Braut" dazu "missbraucht" würde, den Beschwerdeführer in der Weise
"unter Druck" zu setzen, dass er vor die Alternative gestellt wäre,
"eine Tat (zu)zugeben" oder "nicht heiraten" zu dürfen. Das Interesse der
Allgemeinheit an der Aufklärung der erwähnten schweren Verbrechen und an
einem ungestörten Gang des betreffenden Untersuchungsverfahrens geht aber
dem Wunsch des Beschwerdeführers, einer inhaftierten Mitangeschuldigten
während des Untersuchungsverfahrens einen schriftlichen Heiratsantrag
machen zu wollen, eindeutig vor. Ein Rückbehalt von Briefen entsprechenden
Inhalts hält vor der Verfassung allerdings nur so lange stand, als
weiterhin Kollusionsgefahr besteht. Ob und inwieweit die Weiterleitung
des Briefes vom 23. April 1991 in einem späteren Zeitpunkt geboten sein
könnte, hat das Bundesgericht im übrigen nicht zu prüfen.