Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IA 387



117 Ia 387

60. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10.
Oktober 1991 i.S. W. gegen Bezirksgericht Zofingen und Obergericht des
Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Ausschluss der Öffentlichkeit von der Verhandlung.

    Eine sinngemässe Auslegung von Art. 6 Ziff. 1 Satz 2 EMRK ergibt,
dass es im Einzelfall zulässig sein kann, nur das allgemeine Publikum,
nicht aber die Presse von der Gerichtsverhandlung auszuschliessen.

Sachverhalt

    A.- Gegen W. ist beim Bezirksgericht Zofingen ein Strafverfahren
wegen wiederholter schändungsähnlicher Handlungen hängig. Es wird ihm zur
Last gelegt, er habe als Physiotherapeut in seiner Praxis an Patientinnen
während den therapeutischen Massagen unzüchtige Handlungen vorgenommen. Das
Bezirksgericht Zofingen lud W. auf den 20. Juni 1991 zur Hauptverhandlung
vor. Mit Eingabe vom 21. Mai 1991 beantragte er, es sei die Öffentlichkeit
von der Hauptverhandlung auszuschliessen. Das Bezirksgericht beschloss am
30. Mai 1991, die Öffentlichkeit werde, mit Ausnahme der Pressevertreter,
von der Hauptverhandlung ausgeschlossen. Eine dagegen erhobene Beschwerde
des Angeklagten wies das Obergericht des Kantons Aargau ab.

    W. reichte gegen den Entscheid des Obergerichts staatsrechtliche
Beschwerde ein. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es
darauf eintreten kann.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, das Obergericht habe mit
seinem Entscheid Art. 6 Ziff. 1 EMRK und damit gleichzeitig Art. 8
EMRK verletzt. Ausserdem habe es gegen Art. 4 BV verstossen, indem es
"willkürlich und entgegen dem klaren Wortlaut von Art. 6 Ziff. 1 EMRK"
angenommen habe, der Ausschluss der Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung
in dem gegen ihn hängigen Strafverfahren "impliziere nicht auch den
Ausschluss der Pressevertreter". Da das Bundesgericht die Auslegung und
Anwendung des Art. 6 Ziff. 1 EMRK frei prüft, kommt der Rüge der Verletzung
von Art. 4 BV hier keine selbständige Bedeutung zu.

    Art. 6 Ziff. 1 EMRK statuiert den Grundsatz der Öffentlichkeit der
Verhandlung und nennt die Fälle, in denen von diesem Grundsatz abgewichen
werden darf. Es fragt sich, ob diese Vorschrift der Prozesspartei einen
Anspruch auf Ausschluss der Öffentlichkeit einräumt. Wird die Frage
verneint, so ist der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Entscheid,
mit dem sein Begehren um Ausschluss der Öffentlichkeit hinsichtlich der
Pressevertreter abgelehnt wurde, nicht in rechtlich geschützten Interessen
betroffen und daher nicht zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert
(Art. 88 OG). In der Lehre wird die Ansicht vertreten, ein Recht auf
Nichtöffentlichkeit der Verhandlung lasse sich aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK
nicht ableiten (FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, 1985, N 87 zu Art. 6,
S. 150; MIEHSLER/VOGLER, Internationaler Kommentar zur EMRK, 1986, N 338
zu Art. 6, S. 119). Das Bundesgericht hat in einem unveröffentlichten
Urteil vom 6. Juni 1988 die Frage, ob diese Vorschrift ein solches Recht
gewährleiste, offengelassen. Sie muss auch im vorliegenden Fall nicht
entschieden werden, da die Beschwerde - wie sich im folgenden zeigen wird -
offensichtlich unbegründet ist.

Erwägung 3

    3.- Art. 6 Ziff. 1 EMRK lautet wie folgt:

    "Jedermann hat Anspruch darauf, dass seine Sache in billiger Weise
   öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und
   zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden
   Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder
   über die

    Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen Anklage zu entscheiden hat. Das

    Urteil muss öffentlich verkündet werden, jedoch kann die Presse und die
   Öffentlichkeit während des gesamten Verfahrens oder eines Teiles
   desselben im Interesse der Sittlichkeit, der öffentlichen Ordnung oder
   der nationalen Sicherheit in einem demokratischen Staat ausgeschlossen
   werden, oder wenn die Interessen von Jugendlichen oder der Schutz
   des Privatlebens der Prozessparteien es verlangen, oder, und zwar
   unter besonderen

    Umständen, wenn die öffentliche Verhandlung die Interessen der

    Rechtspflege beeinträchtigen würde, in diesem Fall jedoch nur in
dem nach

    Auffassung des Gerichts erforderlichen Umfang."

    Der in dieser Vorschrift enthaltene Grundsatz der Öffentlichkeit
der Gerichtsverhandlung bedeutet eine Absage an jede Form geheimer
Kabinettsjustiz. Er soll durch die Kontrolle der Öffentlichkeit dem
Angeschuldigten und allen übrigen am Prozess Beteiligten eine korrekte und
gesetzmässige Behandlung gewährleisten. Der Öffentlichkeit soll darüber
hinaus ermöglicht werden, Kenntnis davon zu erhalten, wie das Recht
verwaltet und wie die Rechtspflege ausgeübt wird. Durch die Öffentlichkeit
der Hauptverhandlung wird es der Allgemeinheit ermöglicht, den Strafprozess
unmittelbar zu verfolgen. Die rechtsstaatliche und demokratische
Bedeutung des Grundsatzes der Öffentlichkeit im Strafprozess lässt den
Ausschluss der Öffentlichkeit nur zu, wenn es Gründe der staatlichen
Sicherheit, öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit oder schützenswerte
Interessen Privater vordringlich gebieten (BGE 113 Ia 416 f. E. 2c mit
Hinweisen). In diesem Sinn sieht auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK Ausnahmen vom
Grundsatz der Öffentlichkeit vor. Die Vorschrift umschreibt in Ziff. 1 Satz
2 die Fälle, in denen "die Presse und die Öffentlichkeit" von dem ganzen
Verfahren oder einem Teil desselben ausgeschlossen werden können. Der
Beschwerdeführer macht geltend, aus dieser Formulierung ergebe sich klar,
dass die Presse und die Öffentlichkeit beim Vorliegen der in der Vorschrift
genannten Voraussetzungen nur kumulativ vom Verfahren ausgeschlossen
werden könnten. Er ist der Ansicht, wenn die Meinung bestanden hätte,
dass zwar die Öffentlichkeit, nicht zugleich aber auch die Presse vom
Verfahren ausgeschlossen werden könne, so wäre das in der Bestimmung zum
Ausdruck gebracht worden, und zwar mit der Wendung "die Presse und/oder
die Öffentlichkeit". Dieser Argumentation kann nicht beigepflichtet
werden. Aus der Formulierung, dass in bestimmten Fällen "die Presse und
die Öffentlichkeit" vom Verfahren ausgeschlossen werden können, ergibt
sich nicht zwingend der Schluss, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit in
allen Fällen auch jenen der Presse umfasse, ein allein auf das allgemeine
Publikum beschränkter Ausschluss mithin unzulässig sei. Der Passus, in dem
von "Presse und Öffentlichkeit" die Rede ist, scheint nicht sehr glücklich
redigiert zu sein, denn an sich gehören die Vertreter der Presse auch
zur Öffentlichkeit. Vermutlich wollten die Staaten, die die EMRK schufen,
zum Ausdruck bringen, dass die Presse nicht zu allen Gerichtsverhandlungen
Zutritt haben muss, sondern dass auch ihr wie dem allgemeinen Publikum bei
Bestehen eines Ausschlussgrundes der Zugang versagt werden kann. Über die
hier interessierende Frage, ob bei Ausschluss des allgemeinen Publikums
die Presse zugelassen werden kann, sagt bei dieser Auslegung der Text
nichts aus. Die Annahme des Beschwerdeführers, die von der kantonalen
Behörde im vorliegenden Fall gewählte Mittellösung sei unzulässig,
läuft dem Sinn und Zweck des Art. 6 Ziff. 1 EMRK eindeutig zuwider. Diese
Vorschrift umschreibt in Ziff. 1 Satz 2 die Voraussetzungen, unter denen
von dem in Ziff. 1 Satz 1 statuierten Grundsatz der Öffentlichkeit der
Gerichtsverhandlung abgewichen werden darf. Sie sieht vor, dass Gründe
der staatlichen Sicherheit, öffentlichen Ordnung und Sittlichkeit oder
schützenswerte Interessen der Prozessparteien den Ausschluss der Presse und
der Öffentlichkeit gebieten können. Bei der Frage, ob in einem bestimmten
Fall vom Prinzip der Öffentlichkeit der Verhandlung abgewichen werden
darf, geht es um die Abwägung der im Spiel liegenden Interessen. Es gibt
Fälle, in denen es mit Rücksicht auf das Privatleben der Prozesspartei
als geboten erscheint, das Publikum von der Verhandlung auszuschliessen,
während es sich im Blick auf das berechtigte öffentliche Interesse an
der Information der Allgemeinheit rechtfertigt, die Pressevertreter
zuzulassen. In einem solchen Fall würde den privaten Interessen des
Angeklagten nicht Rechnung getragen, wenn man im Blick auf das legitime
Informationsinteresse der Allgemeinheit die Öffentlichkeit unbeschränkt
zuliesse, und das berechtigte öffentliche Interesse an der Information
bliebe unberücksichtigt, wenn die Öffentlichkeit ganz ausgeschlossen
würde. Eine richtige Abwägung der Interessen, die nach Art. 6 Ziff. 1
EMRK massgebend sind, führt in solchen Fällen zu der von der kantonalen
Behörde gewählten Lösung, bei der das bedeutende Privatinteresse und das
erhebliche öffentliche Interesse angemessen berücksichtigt sind. Demnach
ergibt eine sinngemässe Auslegung des Art. 6 Ziff. 1 Satz 2 EMRK, dass
es auch zulässig ist, nur das allgemeine Publikum von der Verhandlung
auszuschliessen, die Presse dagegen zuzulassen.

    Im vorliegenden Fall wurde eine solche Mittellösung gewählt und die
Öffentlichkeit, mit Ausnahme der Pressevertreter, von der Hauptverhandlung
ausgeschlossen. Das Obergericht führte im angefochtenen Entscheid aus,
wenn Anhaltspunkte bestünden, dass ein Therapeut die Persönlichkeit und
insbesondere das Schamgefühl seiner Patientinnen nicht respektiert habe,
so liege es im Interesse der Öffentlichkeit, über den Ausgang der aus
solchen Gründen eingeleiteten Strafverfahren orientiert zu werden. Dass
der Beschwerdeführer durch eine Berichterstattung in der Presse gewisse
Nachteile erleiden könne, sei nicht zu bestreiten. Diese müssten jedoch
hingenommen werden. Wenn ein Beschuldigter der Begehung einer Straftat
angeklagt und dies in der Öffentlichkeit bekanntgemacht werde, sei damit
in der Regel eine Verminderung seines Ansehens verbunden. So verhalte
es sich bereits für den "gewöhnlichen" Bürger und zwangsläufig um so
mehr für denjenigen, welcher ein Geschäft betreibe und seine Dienste
der Öffentlichkeit anbiete. Der Umstand, dass sein Ansehen in der
Öffentlichkeit sich direkt auf seinen Umsatz niederschlage, dürfe jedoch
nicht bewirken, dass aus diesem Grunde für allfällige von ihm begangene
Straftaten der Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens eingeschränkt
werden müsse. Andernfalls dürften Strafverfahren gegen Treuhänder, Ärzte,
Anwälte, Unternehmer etc. stets nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit
durchgeführt werden. Es komme hinzu, dass sich Geschädigte, bevor sie
zur Anzeige schritten, in der Regel mit Dritten über das Vorgefallene
unterhalten und auf diese Weise Gerüchte in Umlauf gebracht würden. Werde
der Angeklagte dann, wie der Beschwerdeführer das in seinem Fall in
Anspruch nehme, freigesprochen, so werde er durch eine Pressenotiz bei
den bereits eingeweihten Kreisen entlastet. Der übrigen Öffentlichkeit
gegenüber werde sein Persönlichkeitsrecht geschützt, indem sich die Presse
an die diesbezüglichen Bestimmungen zu halten und alles zu unterlassen
habe, was direkte Rückschlüsse auf seine Person ermöglichen würde. Es
bestehe somit kein schutzwürdiges Interesse des Beschwerdeführers,
wonach die Presse von der Hauptverhandlung vor Bezirksgericht Zofingen
ausgeschlossen werden müsste.

    Diese vom Obergericht vorgenommene Abwägung der Interessen lässt
sich nicht beanstanden. Das Gericht hat in überzeugender Weise dargelegt,
dass im vorliegenden Fall das öffentliche Interesse an der Information der
Allgemeinheit über das Strafverfahren das Interesse des Beschwerdeführers
am Schutz seiner privaten und geschäftlichen Sphäre überwiege. Es kann ihm
daher keine unrichtige Auslegung des Art. 6 Ziff. 1 EMRK und somit auch
kein Verstoss gegen Art. 8 EMRK zur Last gelegt werden, wenn es zum Schluss
gelangte, es bestehe kein schutzwürdiges Interesse des Beschwerdeführers,
wonach die Presse von der Hauptverhandlung in dem gegen ihn hängigen
Strafverfahren ausgeschlossen werden müsste.