Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IA 324



117 Ia 324

52. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 15. November 1991 i.S. E. gegen V. und G., Gerichtspräsident H.,
Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg und Kriminalgericht des Seebezirks
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Anspruch auf einen
unbefangenen Richter.

    Ein Richter, der bei der Beurteilung eines vom Angeschuldigten gegen
ein anderes Gericht eingereichten Ausstandsbegehrens mitgewirkt hat,
muss deswegen bei der materiellen Beurteilung der Strafsache nicht in
den Ausstand treten.

Sachverhalt

    A.- Vor dem Kriminalgericht des Sensebezirks begann am 17.  April 1990
der Strafprozess gegen E., dem strafbare Handlungen im Zusammenhang mit
der "Lucona-Sache" vorgeworfen wurden. Am 23. April 1990 begab sich
das Kriminalgericht, bestehend aus dem Gerichtspräsidenten und vier
Amtsrichtern, nach Wien, um verschiedene Zeugen einzuvernehmen. Der die
Verhandlungen in Wien leitende österreichische Untersuchungsrichter bat
am letzten Tag der Zeugeneinvernahmen die fünf Schweizer Richter, in
das seiner Sekretärin gehörende Exemplar des von einem österreichischen
Journalisten verfassten Buches "Der Fall Lucona" ihre Unterschrift
hineinzusetzen, welchem Wunsch die Richter entsprachen. An der Sitzung
vom 30. April 1990 vor dem Kriminalgericht des Sensebezirks wurden sie
deswegen von E. als befangen abgelehnt. Mit Urteil vom 30. April 1990 wies
das Kriminalgericht des Sensebezirks das Ausstandsbegehren ab. An diesem
Entscheid wirkte der Gerichtspräsident des Seebezirks als Vorsitzender
mit. Das Kriminalgericht des Sensebezirks verurteilte E. am 1. Juni
1990 wegen Urkundenfälschung und Gehilfenschaft zu versuchtem Betrug zu
drei Jahren Gefängnis. Das Kantonsgericht Freiburg hob dieses Urteil am
26. Februar 1991 in teilweiser Gutheissung einer Beschwerde des Angeklagten
auf, soweit dieser darin der Urkundenfälschung schuldig gesprochen
worden war, und wies die Sache zur neuen Beurteilung an ein anderes
Kriminalgericht, nämlich an dasjenige des Seebezirks, zurück. Dessen
Präsident teilte E. am 24. September 1991 die Zusammensetzung des Gerichts
mit, das die Neubeurteilung der Strafsache vornehmen werde. In der Folge
reichte E. gegen den Gerichtspräsidenten ein Ausstandsbegehren ein, das
vom Kriminalgericht des Seebezirks am 17. Oktober 1991 abgewiesen wurde.

    Gegen diesen Entscheid hat E. staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, das angefochtene Urteil, mit
dem sein Ausstandsbegehren gegen den Gerichtspräsidenten des Seebezirks
abgewiesen wurde, verletze den Anspruch auf einen unbefangenen und
unparteiischen Richter im Sinne der Art. 58 Abs. 1 BV und 6 Ziff. 1 EMRK.

    Diese beiden Vorschriften räumen dem Bürger einen Anspruch darauf
ein, dass seine Sache von einem unvoreingenommenen, unparteiischen
und unbefangenen Richter beurteilt wird. Befangenheit ist nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung dann anzunehmen, wenn Umstände
vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit
eines Richters zu erwecken. Solche Umstände können entweder in einem
bestimmten persönlichen Verhalten des betreffenden Richters oder in
gewissen funktionellen und organisatorischen Gegebenheiten begründet
sein. In beiden Fällen wird aber nicht verlangt, dass der Richter
deswegen tatsächlich befangen ist. Es genügt, wenn Umstände vorliegen,
die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit
zu begründen vermögen. Bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit
und der Gewichtung solcher Umstände kann nicht auf das subjektive Empfinden
einer Partei abgestellt werden; das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit
muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen (BGE 116 Ia 33
f. E. 2b mit Hinweisen).

    Das Bundesgericht hatte wiederholt zu prüfen, ob ein Richter deswegen
als befangen abgelehnt werden könne, weil er sich bereits in einem früheren
Zeitpunkt in amtlicher Funktion mit der konkreten Streitsache befasst
hatte. Es hat zu diesem Umstand der sogenannten Vorbefassung ausgeführt,
es könne nicht allgemein gesagt werden, in welchen Fällen die Tatsache,
dass ein Richter schon zu einem früheren Zeitpunkt in der betreffenden
Angelegenheit tätig war, unter dem Gesichtswinkel von Verfassung und
Konvention die Ausstandspflicht begründe, und in welchen Fällen das
nicht zutreffe. Als massgebendes Kriterium für die Beurteilung dieser
Frage im Einzelfall hielt es aber fest, es sei generell zu fordern, dass
das Verfahren in bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu
entscheidenden Rechtsfragen trotz der Vorbefassung als offen erscheine
und nicht der Anschein der Vorbestimmtheit erweckt werde (BGE 116 Ia 34
f. E. 3a mit Hinweisen).

    Der Beschwerdeführer lehnte Gerichtspräsident H. in dem vor
dem Kriminalgericht des Seebezirks hängigen Verfahren betreffend
Neubeurteilung der Strafsache deshalb als befangen ab, weil dieser
Richter als Vorsitzender am Urteil des Kriminalgerichts des Sensebezirks
vom 30. April 1990 mitgewirkt hatte, mit dem das Ausstandsbegehren des
Beschwerdeführers gegen fünf Richter des Kriminalgerichts des Sensebezirks
abgewiesen worden war. Der Gerichtspräsident des Seebezirks hatte in jenem
Ausstandsverfahren darüber zu befinden, ob die fünf Richter dadurch,
dass sie anlässlich der Zeugeneinvernahmen in Wien am 25. April 1990
ihre Unterschrift in ein Exemplar des Buches "Der Fall Lucona" setzten,
den Anschein erweckt hätten, sie könnten im Strafprozess gegen den
Beschwerdeführer nicht mehr unbefangen urteilen. Demgegenüber wird
er bei der Neubeurteilung der Strafsache zu entscheiden haben, ob
der Beschwerdeführer im Anklagepunkt der Urkundenfälschung schuldig
zu sprechen sei. Mit dieser Frage hatte sich der Gerichtspräsident
beim Ausstandsentscheid vom 30. April 1990 nicht zu befassen. Es kann
deshalb nicht gesagt werden, das Verfahren, in dem die Strafsache neu
beurteilt wird, sei wegen des Umstands, dass der Gerichtspräsident an
jenem Rekusationsentscheid mitwirkte, nicht mehr offen und es werde der
Anschein der Vorbestimmtheit erweckt. Der Beschwerdeführer beruft sich zu
Unrecht auf ein den Kanton Freiburg betreffendes Urteil des Bundesgerichts
(BGE 113 Ia 72), wonach die Personalunion von Untersuchungsrichter und
Gerichtspräsident vor Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht
standhält. Es geht hier nicht um diese Konstellation der Vorbefassung,
bei welcher der Gerichtspräsident in der gleichen Angelegenheit bereits
eine andere Funktion, nämlich jene des Untersuchungsrichters, ausgeübt
hatte. Im vorliegenden Fall war der Gerichtspräsident im früheren
Verfahrensabschnitt in der gleichen Funktion tätig, in der er auch bei
der Neubeurteilung der Strafsache tätig sein wird. Nicht stichhaltig
ist ferner der Einwand des Beschwerdeführers, er verliere das Vertrauen
in den Richter, wenn er am 18. November 1991 vor dem Kriminalgericht
des Seebezirks einem Gerichtspräsidenten gegenüberstehe, der in seiner
Angelegenheit bereits einmal ein für ihn ungünstiges Urteil gefällt
habe. Ein Richter verliert seine Unabhängigkeit und Unbefangenheit nicht
deswegen, weil er gegen eine bestimmte Partei entscheidet (BGE 114 Ia 279
E. 1; 113 Ia 409; 105 Ib 304 E. 1c). Wenn der Beschwerdeführer geltend
macht, er habe kein Vertrauen in den Gerichtspräsidenten des Seebezirks,
weil dieser im Ausstandsverfahren gegen ihn entschieden habe, so ist
das sein subjektives Empfinden, auf das nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit
nicht abgestellt werden kann. Bei objektiver Betrachtung kann, wie das
Kriminalgericht des Seebezirks mit Recht festhielt, nicht gesagt werden,
der Ausgang des Verfahrens betreffend Neubeurteilung der Strafsache sei
wegen des Umstands, dass der Gerichtspräsident des Seebezirks schon am
Ausstandsentscheid vom 30. April 1990 mitgewirkt hat, nicht mehr offen
und es werde der Anschein der Vorbestimmtheit erweckt. Die Rüge, der
angefochtene Entscheid verletze die Art. 58 Abs. 1 BV und 6 Ziff. 1 EMRK,
ist daher unbegründet.