Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IA 199



117 Ia 199

35. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10.
September 1991 i.S. S. gegen Sch., Staatsanwaltschaft und Direktion der
Justiz des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 5 Ziff. 3 EMRK; Trennung von Haftrichter und Anklagevertreter.

    Es liegt ein Verstoss gegen Art. 5 Ziff. 3 EMRK vor, wenn ein
Haftrichter, der eine Verhaftung verfügt hat, in der Folge im gleichen
Fall die Anklage vertritt.

Sachverhalt

    A.- Die Bezirksanwaltschaft Zürich führte gegen S. eine
Strafuntersuchung wegen wiederholten und fortgesetzten gewerbsmässigen
Betruges sowie weiterer Delikte. Die Untersuchung wurde zuerst durch
Bezirksanwalt R. und hernach durch Bezirksanwalt Sch. geführt. S. wurde
zunächst am 18. Juni 1984 durch Bezirksanwalt R. und am 31. August 1987 ein
zweites Mal durch Bezirksanwalt Sch. in Untersuchungshaft gesetzt. In der
Folge wurde Bezirksanwalt Sch. zum ausserordentlichen Staatsanwalt gewählt,
um die Anklage gegen S. erstinstanzlich vor Obergericht zu vertreten.

    Nachdem Anklage erhoben worden war, stellte S. beim Obergericht des
Kantons Zürich den Antrag, die Anklage sei wegen verschiedener Mängel
zur Verbesserung zurückzuweisen. Das Obergericht lehnte, soweit es auf
die Sache eintrat, am 20. Februar 1991 den Antrag auf Rückweisung der
Anklage ab. Gleichzeitig überwies es eine Kopie der an das Obergericht
gerichteten Eingabe von S. im Sinne der Erwägungen an die Direktion
der Justiz des Kantons Zürich. In den betreffenden Erwägungen hielt es
fest, die von S. erhobenen Einwendungen könnten sinngemäss als Rüge des
Vorliegens eines Ausstandsgrundes gegen den Anklagevertreter im Sinne
von § 95 Abs. 1 Ziff. 3 Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich
vom 13. Juni 1976 (GVG) verstanden werden. Dies zu entscheiden sei
jedoch Sache der kantonalen Justizdirektion als Aufsichtsbehörde über
die Staatsanwaltschaft.

    Die kantonale Justizdirektion wies das Ausstandsbegehren von S. gegen
den ausserordentlichen Staatsanwalt und Anklagevertreter Sch. mit Verfügung
vom 3. Mai 1991 ab. Zur Begründung führte sie im wesentlichen aus, die
Frage, ob die Anordnung der Untersuchungshaft durch Sch., der seither zum
ausserordentlichen Staatsanwalt für die Anklagevertretung bestellt worden
sei, rückblickend einen Verstoss gegen Art. 5 Ziff. 3 EMRK darstelle,
brauche nicht abschliessend geprüft zu werden. Für die Rechtmässigkeit
spräche der Umstand, dass Sch. als Bezirksanwalt die Untersuchung eines
Verfahrens geführt habe, von welchem zum vornherein festgestanden sei,
dass es in geschworenengerichtliche bzw. obergerichtliche Zuständigkeit
fallen würde. Sch. habe demnach davon ausgehen dürfen, gemäss § 72
GVG werde die Anklage nicht von ihm, sondern von einem Staatsanwalt
vertreten. Wenn auch für die Vertretung der Anklage ein gewisses Mass
an Unabhängigkeit und Unbefangenheit erwartet werden müsse, könne dies
nicht soweit reichen, wie dies für eine richterliche Tätigkeit geboten
sei. Ein Justizbeamter, der früher die Haft verfügt habe, dürfe im gleichen
Verfahren ohne weiteres Anklagefunktionen übernehmen. Vorliegend werde
die Stellung des Angeklagten dadurch nicht beeinträchtigt, dass der in
der Zwischenzeit zum ausserordentlichen Staatsanwalt ernannte und die
Anklage vertretende frühere Bezirksanwalt Sch. die Untersuchung teilweise
geführt und in einem frühern Zeitpunkt die Untersuchungshaft verfügt
habe. Auch sei eine Befangenheit nach § 96 Ziff. 4 GVG zu verneinen,
da die Einwendungen, welche eine solche Befangenheit zu dokumentieren
vermöchten, schon im Entscheid des Obergerichtes vom 20. Februar 1991
als unbegründet bezeichnet worden seien.

    Hiegegen gelangte S. mit staatsrechtlicher Beschwerde ans
Bundesgericht. Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde
gut, soweit auf sie eingetreten werden kann.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Der Beschwerdeführer rügt weiter eine Verletzung von Art. 5
Ziff. 3 EMRK. Er beruft sich dabei auf den Fall Jutta Huber, den der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 23. Oktober 1990 entschieden
hat (Série A Nr. 188, in EuGRZ 1990, 502 ff.). Die angefochtene Verfügung
der Justizdirektion und die Vernehmlassungen der Beschwerdegegner wollen
diesen Entscheid nicht auf den vorliegenden Fall angewendet haben.

    b) Im Fall Huber kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
in Ziffer 43 zum Schluss, die EMRK schliesse zwar nicht aus, dass ein
Gerichtsbeamter, der über die Haft befindet, auch andere Funktionen
ausübe. Aber seine Unbefangenheit sei in Frage gestellt, wenn er im
Verlaufe des späteren Strafverfahrens als Anklagevertreter auftreten
könne. Der Fall betraf einen zürcherischen Bezirksanwalt, wobei von
Anfang an weitgehend feststand, dass eine allfällige Anklage in die
bezirksgerichtliche Zuständigkeit fallen würde.

    c) Im vorliegenden Fall stand demgegenüber anhand der Deliktsumme
von Anfang an fest, dass erstinstanzlich, im Gegensatz zum Fall
Jutta Huber, gegebenenfalls Anklage beim Obergericht bzw. dem
Geschworenengericht erhoben und als Anklagebehörde in diesem Fall
nicht die Bezirksanwaltschaft, sondern die Staatsanwaltschaft amten
würde (vgl. § 44 i.V.m. § 72 GVG). In der Tat erhob in der Folge dann
auch die Staatsanwaltschaft gegen den Beschwerdeführer Anklage beim
Obergericht. Anklagevertreter war aber der in der Zwischenzeit zum
ausserordentlichen Staatsanwalt ernannte Bezirksanwalt, der teilweise
die Untersuchung geführt und den Beschwerdeführer, nachdem dieser am
20. Juni 1984 nach zweitägiger Untersuchungshaft entlassen worden war, am
31. August 1987 erneut in Untersuchungshaft versetzt hatte. Allein dieser
Umstand zeigt, dass hier grundsätzlich ein Fall vorliegt, in welchem der
die Untersuchung führende Bezirksanwalt später, zwar in anderer Funktion,
die Anklageschrift ausarbeitete und formell Anklage beim Obergericht
erhob. Nicht entscheidend kann dabei sein, ob Bezirksanwalt Sch. gewusst
hat oder damit rechnen musste, dass er in die Lage kommen könnte, einmal
die Anklage zu vertreten. Richtig ist, dass im zürcherischen Strafverfahren
die hier eingetretene Konstellation zumindest nicht häufig vorkommt. In den
letzten Jahren wurden jedoch, wie dem Bundesgericht bekannt ist, wiederholt
Bezirksanwälte wegen der grossen Geschäftslast der Staatsanwaltschaft
zu ausserordentlichen Staatsanwälten auf Zeit oder ad hoc für einzelne
Fälle ernannt. Ganz ausschliessen konnte Bezirksanwalt Sch. im Sommer
1987 dies nicht, obwohl damals der Gang der Dinge noch nicht sehr
wahrscheinlich war. Es liegt somit ein Fall vor, wie ihn die Erwägungen
Ziffer 43 des Strassburger Urteils vom 23. Oktober 1990 i.S. Jutta Huber
durchaus im Auge hatten. Die entsprechende Rüge erscheint deshalb als
begründet. Zur Präzisierung sei hier jedoch angeführt, dass die Verletzung
von Art. 5 Ziff. 3 EMRK nicht unmittelbar in der Tätigkeit von Sch. als
ausserordentlicher Staatsanwalt liegt, sondern in seiner Tätigkeit als
Bezirksanwalt im Zeitpunkt der Verhaftung des Beschwerdeführers. Diese
Haftverfügung ist indessen nicht mehr anfechtbar. Um die von Art. 5 Ziff. 3
EMRK geforderte Trennung von Haftrichter und Anklagevertreter überhaupt
durchsetzen zu können, muss der Beschwerdeführer diese Rüge auch in einem
späteren Verfahrensstadium, wenn er vom entsprechenden Mangel Kenntnis
erhält, noch vorbringen und verlangen können, dass diejenige Person,
die die Haft verfügte, nicht als Anklagevertreter tätig werde.