Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IA 193



117 Ia 193

34. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
5. Juli 1991 i.S. D. gegen Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 5 Ziff. 4 EMRK; Anspruch auf einen unverzüglichen gerichtlichen
Entscheid über die Rechtmässigkeit der Haft; Anwendungsbereich der
Vorschrift.

    Die genannte Konventionsbestimmung gilt nur für solche Verfahren,
in denen ein Gericht als erste gerichtliche Haftprüfungsinstanz tätig
ist. Entscheidet ein Gericht als zweite gerichtliche Instanz über
die Frage der Rechtmässigkeit der Haft, kommt Art. 5 Ziff. 4 EMRK
nicht zur Anwendung. Die Frage, ob eine Rechtsverzögerung vorliegt,
beurteilt sich in diesem Fall ausschliesslich unter dem Gesichtswinkel
des Beschleunigungsgebotes gemäss Art. 4 BV.

Sachverhalt

    A.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt erhob am 19. April
1991 gegen D. Anklage wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz. D. befindet sich seit dem 22. Februar 1991 in
Haft. Ein erstes Begehren um Haftentlassung wies die Staatsanwältin am
22. April 1991 ab. Nachdem die Sache an das Strafgericht Basel-Stadt
überwiesen worden war, stellte D. mit Eingabe vom 25. April 1991 erneut
ein Gesuch um Entlassung aus der Haft. Die Strafgerichtspräsidentin
lehnte das Begehren am 27. April 1991 ab. Diesen Entscheid focht D. mit
einer Beschwerde beim Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt an. Mit
Urteil vom 5. Juni 1991 wies das Appellationsgericht die Beschwerde ab.

    D. reichte am 13. Juni 1991 staatsrechtliche Beschwerde ein, mit der
er beantragte, "es sei festzustellen, dass das Appellationsgericht des
Kantons Basel-Stadt durch die Dauer der Behandlung des Haftrekurses Art. 4
BV und Art. 5 Ziff. 4 EMRK verletzt" habe. Das Bundesgericht weist die
Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer wirft dem Appellationsgericht vor, es habe
erst nach 40 bzw. 39 Tagen über seine Haftbeschwerde entschieden und damit
Art. 5 Ziff. 4 EMRK verletzt, wonach über die Rechtmässigkeit der Haft
"raschmöglichst" zu befinden sei. Im weiteren macht er geltend, durch
die überlange Dauer des Verfahrens vor der Beschwerdeinstanz sei er auch
in seinem "Anspruch auf Entscheidung der Sache innert angemessener Frist
gemäss Art. 4 BV" verletzt worden.

    a) Das Appellationsgericht hat die Haftbeschwerde am 5. Juni 1991
behandelt. Demzufolge war bei Einreichung der staatsrechtlichen Beschwerde
vom 13. Juni 1991 ein aktuelles praktisches Interesse an der Überprüfung
der erhobenen Rügen nicht mehr gegeben. Nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung zu Art. 88 OG ist jedoch ausnahmsweise auf das Erfordernis
des aktuellen praktischen Interesses zu verzichten, wenn sich die
aufgeworfenen Fragen jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen
wieder stellen können und an ihrer Beantwortung wegen der grundsätzlichen
Bedeutung ein hinreichendes öffentliches Interesse besteht und sofern sie
im Einzelfall kaum je rechtzeitig verfassungsgerichtlich überprüft werden
könnten (BGE 114 Ia 90/91 E. 5b mit Hinweisen). Dies trifft auf die hier
in Frage stehenden Rügen zu. Auf die Beschwerde ist daher einzutreten.

    b) Gemäss Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jedermann, dem seine Freiheit
durch Festnahme oder Haft entzogen wird, das Recht, ein Verfahren
zu beantragen, in dem von einem Gericht raschmöglichst über die
Rechtmässigkeit der Haft entschieden und im Falle der Widerrechtlichkeit
seine Entlassung angeordnet wird. Der Beschwerdeführer macht geltend,
nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
und derjenigen des Bundesgerichts sei es mit dem in dieser Vorschrift
gewährleisteten Anspruch auf einen unverzüglichen gerichtlichen Entscheid
unvereinbar, wenn in einem nicht komplexen oder schwierigen Fall erst nach
31 bzw. 46 Tagen oder nach 41 Tagen über ein Haftentlassungsgesuch befunden
werde. Demgemäss sei durch das hier in Frage stehende Haftprüfungsverfahren
vor dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, das 40 bzw. 39 Tage
gedauert habe, die genannte Konventionsbestimmung verletzt worden.

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im folgenden abgekürzt:
EGMR) erachtete in dem die Schweiz betreffenden Fall Sanchez-Reisse
(Urteil vom 21. Oktober 1986, Serie A, Nr. 107, Ziff. 55-61 = EuGRZ 1988,
S. 526 ff.) eine Verletzung des Art. 5 Ziff. 4 EMRK deshalb für gegeben,
weil das Bundesgericht in einer Angelegenheit betreffend Entlassung aus der
Auslieferungshaft, in welcher es nicht um komplexe Probleme ging, erst nach
31 bzw. 46 Tagen über die Haftentlassungsbegehren entschieden hatte. Mit
Rücksicht auf diese Rechtsprechung des EGMR hat das Bundesgericht in der
Folge Verfahrensdauern von 41 Tagen (BGE 114 Ia 88 ff. = EuGRZ 1989,
S. 180 f.), 51 bzw. 53 Tagen (Urteil vom 28. September 1989 = EuGRZ
1989, S. 441 ff.) und über 80 Tagen (unveröffentlichtes Urteil vom
9. Januar 1991 i.S. S.) als mit dem Anspruch auf einen unverzüglichen
gerichtlichen Entscheid nicht vereinbar erklärt. Alle diese Fälle
betrafen Verfahren, in denen ein Gericht als erste richterliche Instanz
(sei es als Haftrichter, sei es als Rechtsmittelinstanz gegen den
Entscheid einer Verwaltungsbehörde) über die Rechtmässigkeit der Haft
entschieden hat. Das hier in Frage stehende Verfahren bezieht sich
dagegen auf die Haftprüfung durch die zweite gerichtliche Instanz, die
über den Rekurs gegen die Ablehnung des Haftentlassungsbegehrens durch
den erstinstanzlichen Richter zu befinden hatte. Der Beschwerdeführer
ist der Meinung, die Garantie von Art. 5 Ziff. 4 EMRK müsse auch für ein
solches "Rechtsmittelverfahren bei abgelehnter Haftentlassung gelten, da
vor der Rechtsmittelinstanz mindestens sinngemäss ebenfalls und erneut
die Haftentlassung verlangt" werde "nebst der Aufhebung des negativen
vorinstanzlichen Entscheids". Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet
werden. Nach dem Wortlaut von Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jeder Inhaftierte
das Recht, ein Verfahren zu beantragen, in dem "von einem Gericht"
raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der Haft entschieden wird. Die
Vorschrift will nur sicherstellen, dass jeder Freiheitsentzug so rasch
als möglich durch eine gerichtliche Instanz auf seine Rechtmässigkeit hin
überprüft wird. Der EGMR hat im Fall De Wilde, Ooms und Versyp (Urteil
vom 18. Juni 1971, Serie A, Nr. 12, S. 40/41, Ziff. 76) ausgeführt,
wenn man vom Wortlaut sowie von Sinn und Zweck des Art. 5 Ziff. 4 EMRK
ausgehe, so ergebe sich, dass die Vorschrift die Staaten verpflichte, dem
Inhaftierten immer dann ein Rechtsmittel an ein Gericht zu gewähren, wenn
der Freiheitsentzug von einer Verwaltungsbehörde angeordnet worden sei;
nichts weise aber darauf hin, dass dies auch gelte, wenn der Entscheid
betreffend Freiheitsentzug von einem Gericht gefällt worden sei, enthalte
doch in einem solchen Fall dieser Entscheid auch die von Art. 5 Ziff. 4
EMRK verlangte gerichtliche Prüfung der Rechtmässigkeit der Haft. Diese
vom EGMR wiederholt bestätigte Auslegung der Konventionsbestimmung (Urteil
vom 8. Juni 1976 i.S. Engel u.a., Serie A, Nr. 22, S. 32, Ziff. 77 =
EuGRZ 1976, S. 230; Urteil vom 24. Juni 1982 i.S. Van Droogenbroeck, Serie
A, Nr. 50, S. 23, Ziff. 44 = EuGRZ 1984, S. 8; Urteil vom 23. Februar
1984 i.S. Luberti, Serie A, Nr. 75, S. 15, Ziff. 31 = EuGRZ 1985,
S. 645) lässt erkennen, dass die Bestimmung nicht zur Anwendung kommt,
wenn bereits der erstinstanzliche Entscheid über den Freiheitsentzug von
einem Richter getroffen wurde. In gleicher Weise wie der EGMR hat auch
das Bundesgericht die Vorschrift von Art. 5 Ziff. 4 EMRK interpretiert. Es
hat entschieden, nach dem Sinn dieser Bestimmung müsse die Überprüfung der
Rechtmässigkeit der Haft durch ein Gericht immer dann gewährleistet sein,
wenn die Haft durch eine Verwaltungsbehörde angeordnet wurde; habe dagegen
ein Gericht die Haft angeordnet, erstreckt oder ein Haftentlassungsbegehren
abgelehnt, so enthalte die Entscheidung regelmässig auch die von Art. 5
Ziff. 4 EMRK geforderte gerichtliche Prüfung der Rechtmässigkeit der
Haft (unveröffentlichtes Urteil vom 2. Juni 1989 i.S. W.; BGE 115 Ia
298 E. 2a; KARL SPÜHLER, Die Europäische Menschenrechtskonvention in
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Straf- und Strafprozessrecht,
ZStrR 107/1990, S. 320 f.).

    Aus diesen Erwägungen folgt, dass die Vorschrift von Art. 5 Ziff. 4
EMRK, wonach ein Gericht raschmöglichst über die Rechtmässigkeit der
Haft zu befinden hat, nur für solche Verfahren gilt, in denen ein
Gericht als erste gerichtliche Haftprüfungsinstanz tätig ist. Wenn
diese Instanz raschmöglichst entschieden hat, ist dem Art. 5 Ziff. 4
EMRK Genüge getan. Hat ein Gericht - wie das hier geschah - als zweite
gerichtliche Instanz über die Frage der Rechtmässigkeit der Haft bzw. über
ein in der Rechtsmitteleingabe gestelltes Begehren um Haftentlassung
entschieden, kommt die Vorschrift nicht zur Anwendung. Die Frage, ob
eine Rechtsverzögerung begangen worden sei, beurteilt sich in diesem Fall
ausschliesslich unter dem Gesichtswinkel des Beschleunigungsgebotes gemäss
Art. 4 BV. Der Anspruch darauf, dass die Behörde die Behandlung einer
ihr unterbreiteten Zivil- oder Strafsache nicht über Gebühr verzögert,
folgt zwar nicht nur aus dieser Verfassungsvorschrift, sondern in gleicher
Weise auch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 113 Ia 420; 107 Ib 164 f. E. 3b;
103 V 193 E. 2b; LORENZ MEYER, Das Rechtsverzögerungsverbot nach Art. 4 BV,
Diss. Bern 1982, S. 7); doch ist nach der Rechtsprechung der Strassburger
Organe die Vorschrift von Art. 6 EMRK auf Haftprüfungsverfahren
nicht anwendbar (Urteile zitiert bei FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar,
Kehl/Strassburg/Arlington 1985, N. 36 zu Art. 6, S. 125, Fn. 90).

    Nach dem Gesagten erweist sich die Rüge des Beschwerdeführers, er sei
im Haftprüfungsverfahren vor dem Appellationsgericht in seinem Anspruch auf
einen unverzüglichen Entscheid nach Art. 5 Ziff. 4 EMRK verletzt worden,
als unbegründet.

    c) Es bleibt zu prüfen, ob das Appellationsgericht gegen das aus
Art. 4 BV abgeleitete Verbot der Rechtsverzögerung verstossen hat.

    Die Gerichte sind aufgrund des Rechtsverzögerungsverbotes gehalten,
ihre Arbeit so zu organisieren, dass das Verfahren in allen ihnen
vorgelegten Fällen innerhalb einer angemessenen Frist zum Abschluss
gebracht werden kann. Ob eine gegebene Prozessdauer als angemessen
zu betrachten ist, muss im Hinblick auf die Natur und den Umfang des
Rechtsstreites beurteilt werden (BGE 107 Ib 165 E. 3c mit Hinweisen). Im
weiteren bestimmt sich die zulässige Verfahrensdauer nach der Gesamtheit
der übrigen Umstände (LORENZ MEYER, aaO, S. 35 f.). Ein Verfahren
wird demnach dann über Gebühr verzögert, wenn der Entscheid nicht
binnen der Frist getroffen wird, welche nach der Natur und dem Umfang
(Kompliziertheit) der Sache sowie nach der Gesamtheit der übrigen Umstände
als angemessen erscheint.

    Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer gegen den sein
Haftentlassungsbegehren ablehnenden Entscheid der Strafgerichtspräsidentin
vom 27. April 1991 am 3. Mai 1991 eine an das Appellationsgericht
gerichtete Haftbeschwerde bei der Post aufgegeben. Das Appellationsgericht
entschied die Beschwerde am 5. Juni 1991. Der Beschwerdeführer macht
geltend, seit Einreichung der Haftbeschwerde beim Appellationsgericht bis
zum Erhalt des appellationsgerichtlichen Dispositivs am 12. Juni 1991
seien 40 Tage vergangen, wovon ein Tag zu seinen Lasten gehe, nämlich
der 21. Mai 1991, an welchem Tag er die Stellungnahme zur Vernehmlassung
der Strafgerichtspräsidentin verfasst habe. Er geht mithin von einer
gesamten Verfahrensdauer von 40 bzw. 39 Tagen aus. Dazu ist zu bemerken,
dass die für die Berechnung der Verfahrensdauer massgebende Frist mit der
Einreichung der Haftbeschwerde beginnt und mit der Fällung des Entscheids
des Appellationsgerichts (nicht mit dem Erhalt des Dispositivs) endet. Geht
man hievon aus, so ergibt sich eine gesamte Verfahrensdauer von 34 Tagen.
Hinsichtlich des formellen Ablaufs des Verfahrens ist den Akten folgendes
zu entnehmen: Die am 3. Mai 1991 (einem Freitag) bei der Post aufgegebene
Haftbeschwerde ging am 6. Mai 1991 beim Appellationsgericht ein. Die
Vernehmlassung der Strafgerichtspräsidentin zur Haftbeschwerde datiert
vom 8. Mai 1991. Sie traf am 13. Mai 1991 beim Appellationsgericht
ein. Die Vernehmlassung wurde dem Beschwerdeführer am 17. Mai 1991 zur
Replik zugestellt. Er erhielt sie am 21. Mai 1991, verfasste an diesem Tag
die Replik, welche am 23. Mai 1991 beim Appellationsgericht einging. Der
Beschwerdeführer macht geltend, es sei nicht ersichtlich, weshalb die vom
8. Mai 1991 datierte Stellungnahme der Strafgerichtspräsidentin erst am
13. Mai 1991 beim Appellationsgericht einging, und noch unverständlicher
sei, weshalb "es weitere vier Tage dauerte, bis nach Eingang der
Stellungnahme der instruierenden Strafgerichtspräsidentin am 13.5.1991
beim Appellationsgericht diese Stellungnahme am 17.5.1991" ihm - dem
Beschwerdeführer - zur Replik zugestellt wurde. Dass die Vernehmlassung
vom 8. Mai 1991 beim Appellationsgericht erst am 13. Mai 1991, die am
17. Mai 1991 an den Beschwerdeführer aufgegebene Sendung bei diesem erst
am 21. Mai 1991 eintrafen, ist wohl zum Teil darauf zurückzuführen, dass
zwischen den jeweiligen Zeitspannen Festtage waren, nämlich am 9. Mai 1991
Auffahrt und am 20. Mai 1991 Pfingstmontag. Was den Umstand anbelangt, dass
die am 13. Mai 1991 beim Appellationsgericht eingegangene Stellungnahme
der Strafgerichtspräsidentin erst am 17. Mai 1991 an den Beschwerdeführer
aufgegeben wurde, so weist dieser in der staatsrechtlichen Beschwerde
selber darauf hin, "dass das Appellationsgericht zwischen dem 13.
und 17.5.1991 aus dem Provisorium an der Binningerstrasse zurück ins
angestammte Gerichtsgebäude an der Bäumleingasse zog und allenfalls
deswegen Verzögerungen auftraten". Wohl mag es zutreffen, dass das
Appellationsgericht bei der Übermittlung der verschiedenen Sendungen nicht
sehr speditiv vorgegangen ist. Dass es das Verfahren über Gebühr verzögert
hätte, kann indes nicht gesagt werden. Berücksichtigt man die Natur und die
Schwierigkeit der Sache sowie die gesamten übrigen Umstände, so kann nicht
gesagt werden, das Haftbeschwerdeverfahren vor dem Appellationsgericht, das
34 Tage dauerte, sei nicht innert angemessener Frist beendet worden. Die
Rüge, die kantonale Instanz habe das Rechtsverzögerungsverbot nach Art. 4
BV verletzt, erweist sich somit ebenfalls als unbegründet.