Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IA 182



117 Ia 182

31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
21. August 1991 i.S. W. gegen Staatsanwaltschaft und Präsident des
Kassationsgerichts des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Anspruch auf einen
unbefangenen Richter.

    Es ist grundsätzlich mit Verfassung und Konvention vereinbar, wenn
derjenige Richter, der in einer Strafsache als Haftrichter tätig war,
später auch beim Sachentscheid mitwirkt.

Sachverhalt

    A.- Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte W. am 27.
Juni 1991 im Berufungsverfahren wegen wiederholter Widerhandlung gegen
Art. 23 Abs. 2 des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der
Ausländer zu 22 Monaten Gefängnis. Gegen dieses Urteil meldete W. am
30. Juni 1991 kantonale und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde
an. Die Staatsanwaltschaft nahm ihn am 10. Juli 1991 zuhanden des
Kassationsgerichts des Kantons Zürich in Sicherheitshaft und stellte
gleichzeitig beim Präsidenten des Kassationsgerichts Antrag auf Bestätigung
dieser Massnahme. Mit Verfügung vom 26. Juli 1991 bestätigte der Präsident
die Massnahme.

    Gegen diesen Entscheid reichte W. staatsrechtliche Beschwerde ein. Er
rügt unter anderem eine Verletzung des Anspruchs auf einen unbefangenen
Richter im Sinne der Art. 58 BV und 6 EMRK. Das Bundesgericht weist die
Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss § 429 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons
Zürich (StPO) hemmt die Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten die
Vollstreckung des Urteils, soweit er nicht seine Zustimmung dazu erklärt.
Vorbehalten bleibt - wie Abs. 2 des § 429 StPO bestimmt - die Verfügung,
dass die Sicherheitshaft fortzudauern habe. Diese Verfügung trifft der
Präsident des Gerichts, das geurteilt hat. Sind die Akten bereits der
Kassationsinstanz überwiesen, so verfügt ihr Präsident über Anordnung
oder Fortdauer der Sicherheitshaft. § 429 Abs. 3 StPO hat folgenden
Wortlaut: "Ausnahmsweise kann auch die Anklagebehörde vorsorglich den
Sicherheitsverhaft verfügen. Sie stellt gleichzeitig bei dem Präsidenten
der Kassationsinstanz schriftlich begründeten Antrag auf Bestätigung
dieser vorsorglichen Massnahme. Der Präsident der Kassationsinstanz
entscheidet endgültig."

    Im vorliegenden Fall verfügte die Staatsanwaltschaft, nachdem der
Beschwerdeführer gegen das Urteil des Obergerichts Nichtigkeitsbeschwerde
beim Kassationsgericht eingereicht hatte, gestützt auf § 429 Abs. 3 StPO
die Sicherheitshaft und stellte beim Präsidenten des Kassationsgerichts
Antrag auf Bestätigung dieser Massnahme. Mit der angefochtenen Verfügung
hat der Präsident des Kassationsgerichts die Massnahme bestätigt. Er war
der Auffassung, die Voraussetzung für die Anordnung der Sicherheitshaft
sei erfüllt, da der Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinne von § 49 Abs. 1
lit. b StPO gegeben sei.

Erwägung 3

    3.- In der staatsrechtlichen Beschwerde wird geltend gemacht, der
Präsident der Kassationsinstanz sei im Verfahren nach § 429 Abs. 3 StPO
als Haftrichter tätig; hernach wirke er als Vorsitzender beim Entscheid
über die Nichtigkeitsbeschwerde mit. Die genannte Bestimmung statuiere
somit eine Personalunion zwischen Haftrichter und Sachrichter. Eine solche
Ordnung sei ganz offensichtlich geeignet, beim Bürger starke Zweifel an
der Unvoreingenommenheit des Richters zu wecken. Die Vorschrift von §
429 Abs. 3 StPO verstosse daher gegen die Art. 58 BV und 6 EMRK, "weshalb
der Kassationsgerichtspräsident zum Erlass der angefochtenen Verfügung
nicht zuständig" gewesen und "diese aufzuheben bzw. deren Nichtigkeit
festzustellen" sei.

    a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann der Verstoss einer
kantonalen Vorschrift gegen eine Bestimmung der Bundesverfassung oder
der EMRK auch noch bei der Anfechtung eines aufgrund der betreffenden
Vorschrift ergangenen Anwendungsaktes gerügt werden. Die vorfrageweise
Feststellung der Verfassungs- oder Konventionswidrigkeit der Vorschrift
führt indessen nicht zu deren Aufhebung; sie hat nur zur Folge, dass die
Vorschrift auf den Beschwerdeführer nicht angewendet und der gestützt
auf sie ergangene Entscheid aufgehoben wird (BGE 114 Ia 52 E. 2a mit
Hinweisen).

    b) Sowohl aufgrund von Art. 58 Abs. 1 BV als auch gemäss Art. 6 Ziff. 1
EMRK hat der Einzelne einen Anspruch darauf, dass seine Sache von einem
unvoreingenommenen, unparteiischen und unbefangenen Richter beurteilt
wird. Befangenheit ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dann
anzunehmen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in
die Unparteilichkeit eines Richters zu erwecken. Solche Umstände können
entweder in einem bestimmten persönlichen Verhalten des betreffenden
Richters oder in gewissen funktionellen und organisatorischen Gegebenheiten
begründet sein. In beiden Fällen wird aber nicht verlangt, dass der Richter
deswegen tatsächlich befangen ist. Es genügt, wenn Umstände vorliegen,
die den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit
zu begründen vermögen. Bei der Beurteilung des Anscheins der Befangenheit
und der Gewichtung solcher Umstände kann nicht auf das subjektive Empfinden
einer Partei abgestellt werden; das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit
muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen (BGE 116 Ia 33
f. E. 2b mit Hinweisen).

    Das Bundesgericht hatte wiederholt zu prüfen, ob ein Richter deswegen
als befangen abgelehnt werden könne, weil er sich bereits in einem früheren
Zeitpunkt in amtlicher Funktion mit der konkreten Streitsache befasst
hatte. Es hat zu diesem Umstand der sogenannten Vorbefassung ausgeführt,
es könne nicht allgemein gesagt werden, in welchen Fällen die Tatsache,
dass ein Richter schon zu einem früheren Zeitpunkt in der betreffenden
Angelegenheit tätig war, unter dem Gesichtswinkel von Verfassung und
Konvention die Ausstandspflicht begründe, und in welchen Fällen das
nicht zutreffe. Als massgebendes Kriterium für die Beurteilung dieser
Frage im Einzelfall hielt es aber fest, es sei generell zu fordern, dass
das Verfahren in bezug auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu
entscheidenden Rechtsfragen trotz der Vorbefassung als offen erscheine
und nicht der Anschein der Vorbestimmtheit erweckt werde (BGE 116 Ia 34
f. E. 3a mit Hinweisen).

    Der Beschwerdeführer ist der Meinung, § 429 Abs. 3 StPO verstosse
deshalb gegen Verfassung und Konvention, weil bei Berücksichtigung der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung, wonach sich in einem demokratischen
Rechtsstaat eine einengende Auslegung der Art. 58 Abs. 1 BV und 6 Ziff. 1
EMRK nicht vertreten liesse, von der "generellen Unvereinbarkeit von
haft- und sachrichterlicher Tätigkeit auszugehen" sei. Dem kann nicht
beigepflichtet werden. Das Bundesgericht hat bisher bei personeller
Identität von Haftrichter und Sachrichter eine Ausstandspflicht nur in
einem Fall bejaht, in welchem aufgrund bestimmter Äusserungen, mit denen
der Sachrichter seinerzeit als Haftrichter die Untersuchungshaft mehrmals
verlängert hatte, der Eindruck der Voreingenommenheit erweckt worden war
(BGE 115 Ia 180 ff. = EuGRZ 1989, S. 330 f.). Es liess damals die Frage
offen, ob die Personalunion von Haftrichter und Sachrichter als solche mit
Verfassung und Konvention vereinbar sei. Im hier zu beurteilenden Fall
muss die Frage entschieden werden. Nach der dargelegten Rechtsprechung
des Bundesgerichts begründet eine Vorbefassung keine Ausstandspflicht,
sofern das Verfahren in bezug auf den konkreten Sachverhalt und die
konkret zu entscheidenden Rechtsfragen gleichwohl als offen erscheint.
Demnach steht einer Mitwirkung des Haftrichters im Verfahren, in welchem
das Sachurteil gefällt wird, dann nichts entgegen, wenn der Ausgang
dieses Verfahrens trotz dem Umstand, dass der erkennende Richter in der
betreffenden Angelegenheit schon als Haftrichter tätig war, als offen
erscheint und nicht der Anschein der Vorbestimmtheit erweckt wird. Ob dies
zutrifft, hängt davon ab, welche Fragen der Haftrichter zu entscheiden hat
und welche Fragen später beim Sachentscheid beurteilt werden müssen. Der
Haftrichter hat abzuklären, ob die Voraussetzungen für die Anordnung oder
Verlängerung der Haft erfüllt sind, d.h. ob ein dringender Tatverdacht
besteht und zudem einer der besonderen Haftgründe (Flucht-, Kollusions-
oder Fortsetzungsgefahr) gegeben ist. Demgegenüber geht es beim Entscheid
in der Sache selber um die Frage, ob sich der Angeklagte der ihm zur
Last gelegten Handlungen schuldig gemacht hat und, sofern dies bejaht
wird, welche Strafe auszufällen ist. Der Haftrichter hat somit nicht die
gleichen Fragen zu behandeln wie der in der Sache erkennende Richter,
insbesondere hat er sich nicht mit der für den Ausgang des Hauptverfahrens
entscheidenden Frage der Schuld des Angeklagten zu befassen. Es kann
deshalb nicht gesagt werden, das Verfahren, in dem der Sachentscheid
getroffen wird, sei wegen des Umstandes, dass der Sachrichter in der
betreffenden Angelegenheit bereits als Haftrichter tätig war, nicht mehr
offen und es werde der Anschein der Vorbestimmtheit erweckt. Daraus
ergibt sich, dass grundsätzlich die Personalunion von Haftrichter und
Sachrichter mit Verfassung und Konvention vereinbar ist (gleicher Ansicht
Robert Levi, Zum Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention auf
das kantonale Prozessrecht - Erwartungen und Ergebnisse, ZStrR 106/1989,
S. 233). Ebenso hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in
einem Urteil vom 24. Mai 1989 i.S. Hauschildt gegen Dänemark erklärt,
die Tatsache, dass der Sachrichter in der betreffenden Strafsache
bereits Verfügungen über die Verlängerung der Haft getroffen habe,
genüge für sich allein nicht, um ihn als befangen abzulehnen; vielmehr
müssten hiefür im Einzelfall bestimmte Umstände hinzukommen, die den
Schluss auf Voreingenommenheit zuliessen (Serie A, Band 154, Ziff. 50
und 51). Sodann ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesgericht in einem
Urteil vom 4. Juli 1990 (BGE 116 Ia 387 ff.) entschied, es verstosse
nicht gegen Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, wenn derjenige
Richter, der in einer Strafsache als Haftrichter tätig war, später auch
beim Entscheid über die Haftentschädigung mitwirke. Es führte in jenem
Urteil aus, bei objektiver Betrachtung lasse sich allein aus der Tatsache,
dass der Haftentschädigungsrichter in der betreffenden Angelegenheit
schon als Haftrichter geamtet habe, nicht ableiten, er könne deswegen das
Begehren um Haftentschädigung nicht mehr unvoreingenommen beurteilen. Es
müsste in einem solchen Fall ein bestimmtes, den Anschein der Befangenheit
erweckendes persönliches Verhalten des Richters hinzukommen, damit dessen
Ausstand verlangt werden könnte. Dementsprechend ist für die hier in
Frage stehende Konstellation der Vorbefassung festzuhalten, dass ein
Sachrichter nicht einzig deswegen als befangen abgelehnt werden kann,
weil er in der gleichen Strafsache schon als Haftrichter tätig war. Es
müssten hiefür im Einzelfall bestimmte Umstände hinzukommen, die bei
objektiver Betrachtung den Schluss auf Befangenheit zuliessen. Dass das
hier der Fall wäre, wird nicht behauptet und ist nicht zu ersehen.

    Ist nach dem Gesagten die Mitwirkung des Haftrichters beim
Sachurteil grundsätzlich zulässig, so verstösst § 429 Abs. 3
StPO, der die Personalunion von Haftrichter und Sachrichter für das
Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren vorsieht, nicht gegen Art. 58 Abs. 1 BV
und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Die Rüge des Beschwerdeführers, die angefochtene
Verfügung stütze sich auf eine verfassungs- und konventionswidrige
Bestimmung, erweist sich somit als unbegründet.