Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IA 18



117 Ia 18

5. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 26. März 1991 i.S. N. gegen Kantonalbank Appenzell I.Rh.,
Feuerschaugemeinde Appenzell und Standeskommission des Kantons Appenzell
I.Rh. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 88 OG; Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde.

    Ein Nachbar ist legitimiert, geltend zu machen, eine Baubewilligung
verstosse gegen eine gesetzlich festgelegte Quartierplanpflicht, sofern
diese auch dem Schutz seiner privaten Interessen dient.

    Art. 4 BV, Art. 60 BauG AI. Willkürliche Anwendung einer Bestimmung
über Grossbauten.

    Aufgrund des Wortlautes und der historischen Auslegung sind unter
Grossbauten i.S. von Art. 60 BauG AI, die nur aufgrund eines Quartierplanes
bewilligt werden können, Grossverteilzentren des Detailhandels zu
verstehen.

Sachverhalt

    A.- Die Kantonalbank Appenzell I.Rh. beabsichtigte, ihr bestehendes
Bankgebäude in Appenzell abzubrechen und ein neues mit einer Tiefgarage
zu erstellen. N. erhob gegen dieses Bauprojekt Einsprache, die von
der Feuerschaugemeinde Appenzell am 2. November 1989 abgewiesen
wurde. Dagegen gelangte N. mit Rekurs vom 13. November 1989 an die
Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. und verlangte die Aufhebung
des Einspracheentscheides und die Verweigerung der Baubewilligung. Mit
Entscheid vom 19. Juni 1990 wies die Standeskommission den Rekurs, ausser
in einem Nebenpunkt, ab.

    N. führte staatsrechtliche Beschwerde, mit der sie u.a. rügte, die
Baubewilligung dürfe nur aufgrund eines rechtskräftigen Quartierplanes
bewilligt werden. Das Bauvorhaben sei eine Grossbaute und für
diese verlange Art. 60 Abs. 3 des Baugesetzes des Kantons Appenzell
I.Rh. vom 28. April 1985, dass sie "nur aufgrund eines rechtskräftigen
Quartierplanes bewilligt werden" könnten. Das Bundesgericht hielt diese
Rüge für unbegründet.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- b) Vorab ist zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin legitimiert
ist, sich auf das Fehlen eines Quartierplanes zu berufen. Nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtes sind im Rahmen von Art. 88 OG Eigentümer
benachbarter Grundstücke befugt, eine Baubewilligung mit staatsrechtlicher
Beschwerde anzufechten, soweit sie die Verletzung von Bauvorschriften
geltend machen, die ausser den Interessen der Allgemeinheit auch oder in
erster Linie dem Schutz der Nachbarn dienen. Zusätzlich müssen sie dartun,
dass sie sich im Schutzbereich der Vorschriften befinden und durch die
behaupteten widerrechtlichen Auswirkungen der Bauten betroffen werden. Die
Legitimation zur staatsrechtlichen Beschwerde bestimmt sich dabei
ausschliesslich nach Art. 88 OG. Der Umstand, dass ein Beschwerdeführer
im kantonalen Verfahren Parteistellung hatte, ist nicht entscheidend
(BGE 116 Ia 179 E. 3a, 113 Ia 470 E. 1a, 112 Ia 89 E. 1b mit Hinweisen).

    Gemäss Art. 32 BauG enthält ein Quartierplan Baulinien, Bestimmungen
über die Art und Weise der Überbauung, insbesondere bezüglich Grösse und
Anordnung der Baukörper, die Gestaltung der Baukörper und der Freiräume
sowie über die Bereinigung der beschränkten dinglichen Rechte. Sodann
kann unter bestimmten Voraussetzungen von den durch Zonenplan und
Reglement festgelegten Ausnützungsvorschriften abgewichen werden. Diese
Aufzählung zeigt, dass ein Quartierplan nicht nur öffentlichen, sondern
auch privaten Interessen dient. Indem er Vorschriften über die Ausnützung
enthalten kann, bezweckt er auch den Schutz benachbarter Eigentümer (BGE
112 Ia 89/90). Dies gilt auch hinsichtlich der durch einen Quartierplan
zu regelnden Bereinigung beschränkter dinglicher Rechte. Als Nachbarin
befindet sich die Beschwerdeführerin im Schutzbereich dieser Vorschriften
des Quartierplanes (vgl. BGE 109 Ia 171). Sie kann sich deshalb auf das
Fehlen eines Quartierplanes im Rahmen von Art. 60 BauG berufen.

    c) Die Beschwerdeführerin rügt, die Standeskommission habe Art. 60
Abs. 1 BauG willkürlich angewendet. Willkür und damit eine Verletzung von
Art. 4 BV liegt vor, wenn ein Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit
der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder
einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender
Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 115 Ia 332 E. 3a,
114 Ia 27 f. E. 3b mit Hinweisen).

    Art. 60 Abs. 1 BauG, der die Grossbauten regelt, lautet wie folgt:

    "Bauten, die wegen ihrer Grösse und Bedeutung erhebliche Auswirkungen
   auf die Siedlungs-, Verkehrs- und Versorgungsstruktur aufweisen,
   sind nur zulässig, wenn sie

    a) zur Bildung der gemäss Ortsplanung oder der kantonalen Richtplanung
   erwünschten Siedlungsschwerpunkte beitragen;

    b) den Anforderungen einer geordneten Verkehrsabwicklung genügen;

    c) die minimale Versorgung benachbarter Siedlungsgebiete nicht
   gefährden."

    Aufgrund dieses Wortlautes ist es keineswegs willkürlich, wenn die
Standeskommission in ihrem Entscheid davon ausgeht, die Voraussetzungen für
eine Grossbaute gemäss Art. 60 Abs. 1 lit. a-c müssten kumulativ erfüllt
sein. Die Begründung der Standeskommission dürfte vielmehr dem wahren Sinn
dieser Bestimmung entsprechen. Für die Auffassung der Beschwerdeführerin,
wonach die einzelnen Voraussetzungen für die Annahme einer Grossbaute nur
alternativ vorliegen müssen, gibt denn auch der Wortlaut - soweit dies im
Rahmen einer Willkürprüfung festgestellt werden kann - keine Anhaltspunkte,
wie dies etwa dann der Fall wäre, wenn die einzelnen Tatbestandselemente
bspw. durch das Wort "oder" verbunden wären. Die Auslegung von Art. 60
Abs. 1 BauG durch die Standeskommission hält in dieser Hinsicht vor dem
Willkürverbot stand.

    Unbegründet ist auch, was die Beschwerdeführerin gegen die historische
Auslegung des Art. 60 BauG durch die Standeskommission vorbringt. Sie
verletzt das Willkürverbot nicht, wenn sie mit Blick auf Art. 60
Abs. 1 lit. c BauG, der von der minimalen "Versorgung" benachbarter
Siedlungsgebiete spricht, ausführt, dass mit der Bestimmung über die
Grossbauten die Errichtung von Grossverteilzentren des Detailhandels
erfasst werden wollte. Für diese Auffassung spricht insbesondere
auch Art. 36 der Verordnung des Grossen Rates zum Baugesetz vom
17. März 1986 (BauV, GS 703), wird doch darin verschiedentlich von
"Verkaufsstellen" und "Nettoverkaufsfläche" gesprochen, was auf
Einkaufszentren hinweist. Inwiefern auch bei einem Bankgebäude von einer
Verkaufsstelle oder einer Nettoverkaufsfläche gesprochen werden könnte,
ist nicht ersichtlich.

    Die Beschwerdeführerin führt weiter an, der Titel von Art. 36 BauV
("Grossbauten und Verkaufsstellen") sowie der Wortlaut von Art. 36
Abs. 2 BauV, wonach "als Grossbauten (...) unter anderem Verkaufsstellen
mit gesamthaft mehr als 250 m2 Nettoverkaufsfläche" gelten, weise
darauf hin, dass nicht nur Grossverteilzentren des Detailhandels als
Grossbauten betrachtet werden dürften. Die Standeskommission hat zu
diesem Argument vorgebracht, dass sich eine Verordnungsbestimmung an
den Rahmen des höherrangigen Gesetzes, vorliegend an Art. 60 BauG halten
müsse. Den Ausführungen der Standeskommission zu dieser Frage ist weiter
zu entnehmen, dass ihrer Ansicht nach Art. 36 BauV insofern über Art. 60
BauG hinausgeht, als er für die Annahme einer Grossbaute weitere, im Gesetz
nicht vorgesehene Tatbestandselemente festlegt. Inwiefern diese Begründung
willkürlich sein soll, ist nicht einzusehen, ist doch der Grundsatz,
wonach höherrangiges Recht vorgeht, allgemein anerkannt (vgl. etwa BGE
103 IV 195 E. 2b). Die Beschwerdeführerin bringt schliesslich nichts vor,
was im Rahmen einer Willkürprüfung geeignet wäre, die Auffassung der
Standeskommission als verfassungswidrig zu betrachten.