Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 117 IA 135



117 Ia 135

24. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
6. Juni 1991 i.S. T. gegen K. und neun Mitbeteiligte sowie Obergericht
des Kantons Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Begriff des Geschädigten im Strafprozess, willkürliche
Auslegung von kantonalem Recht.

    Es ist willkürlich, den Begriff des Geschädigten im Strafprozess
entgegen der allgemein herrschenden Lehre und Praxis auszulegen und dabei
auch von einer bestehenden kantonalen Praxis zum Geschädigtenbegriff ohne
sachliche Begründung abzuweichen.

Sachverhalt

    A.- Im Verlaufe des Frühjahrs 1988 verbreitete K. bzw. die von ihm
geleitete St. Michaelsvereinigung mehrere Botschaften mit religiösem
Hintergrund, welche mittels Schreiben an die Bevölkerung gelangten. Darin
wurden u.a. Katastrophen prophezeit, die über Europa hereinbrechen
sollten; nicht zuletzt eine angekündigte sogenannte "Kindsentrückung"
führte zu gewisser Besorgnis und Unruhe. Auf Muttertag, den 8. Mai 1988,
war im Zusammenhang mit den Prophezeiungen die Landung eines grossen
Raumschiffes vor dem Gebetshaus der St. Michaelsvereinigung in Dozwil
vorausgesagt. Nachdem die Stimmung durch reisserische Artikel in der
Boulevardpresse zusätzlich aufgeheizt worden war, kam es zwischen dem
6. und 8. Mai 1988 vor dem Versammlungsgebäude der St. Michaelsvereinigung
zu krawallähnlichen Ausschreitungen mit massiven Sachbeschädigungen. Der
damals achtzehnjährige Lehrling T. beteiligte sich an den Ausschreitungen,
indem er eine leere Bierflasche auf den Platz vor dem Gebetshaus der
St. Michaelsvereinigung warf. Die Flasche zerschellte auf dem Platz,
ohne weiteren Schaden anzurichten.

    Am 12. Februar 1990 sprach das Bezirksgericht Arbon
T. des Landfriedensbruches schuldig und verurteilte ihn zu einer
Busse. Ausserdem hiess es adhäsionsweise eine Schadenersatzforderung
der St. Michaelsvereinigung, von K. und von weiteren Geschädigten in der
Höhe von Fr. 20'926.95 gut. Die Forderung wurde T. mit der Begründung
auferlegt, jeder Teilnehmer einer gewalttätigen Zusammenrottung sei
für sämtlichen dabei angerichteten Schaden grundsätzlich solidarisch
haftbar, ungeachtet des Masses seiner eigenen Mitwirkung. T. erhob
gegen die adhäsionsweise Auferlegung von Schadenersatz Berufung an das
Obergericht des Kantons Thurgau. Dieses wies die Berufung mit Urteil vom
6. November 1990 ab. Das Bundesgericht heisst die dagegen von T. erhobene
Willkürbeschwerde gut

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss der Praxis der Anklagekammer des Kantons Thurgau ist als
Geschädigter im Sinne der thurgauischen Strafprozessordnung nur diejenige
Person anzusehen, welcher durch die inkriminierte Handlung unmittelbar
ein Nachteil zugefügt worden ist. Das Bundesgericht hat diese Auffassung
im Zusammenhang mit der Auslegung von § 205 Abs. 1 StPO/TG (betreffend
die Beschwerdelegitimation des Geschädigten) verschiedentlich gestützt
und festgehalten, sie entspreche sowohl dem Willen des historischen
Gesetzgebers wie auch der im schweizerischen Strafprozessrecht allgemein
geltenden Konzeption (unveröffentlichte Urteile vom 6. Januar 1988
i.S. W. J. und Mitb., E. 2 sowie vom 11. August 1987 i.S. W. J.,
E. 2; zur analogen Zürcher Praxis betreffend § 395 Abs. 1 StPO/ZH
vgl. auch unveröffentlichtes Urteil vom 8. Januar 1988 i.S. L. B.,
E. 2). Als Geschädigter ist nach vorherrschender Auffassung nur der
unmittelbar Geschädigte zu verstehen, d.h. der Träger des durch die
Strafdrohung geschützten Rechtsgutes, gegen das sich die Straftat ihrem
Begriff nach richtet (CLAUDE BAUMANN, Die Stellung des Geschädigten im
schweizerischen Strafprozess, Diss. ZH 1958, S. 21 f.; Peter Brunner,
Die Stellung des Geschädigten im zürcherischen Offizial- und subsidiären
Privatstrafklageverfahren, Diss. ZH 1976, S. 27; HERMANN BÜRGI, Die
Behördenorganisation und das ordentliche Verfahren nach der Revision des
thurgauischen Strafprozessrechts, Diss. ZH 1973, S. 72 ff.; A. HARTMANN,
Die Stellung des Geschädigten sowie von Dritten im zürcherischen
Strafprozess, Kriminalistik 1970, Sonderdruck, S. 4; ROBERT HAUSER,
Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl., S. 82 f.;
HAUSER/HAUSER, Kommentar zum zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetz
vom 29. Januar 1911, S. 293; PETER LITSCHGI, Die Rechtsmittel im
thurgauischen Strafprozess, Diss. ZH 1975, S. 19; NIKLAUS OBERHOLZER,
Grundzüge des st. gallischen Strafprozessrechts, St. Gallen 1988,
S. 112; GÉRARD PIQUEREZ, Précis de procédure pénale suisse, Lausanne
1987, S. 265 f.; JOLANTA SAMOCHOWIEC, Die Stellung des Verletzten im
Strafprozess aus rechtsvergleichender Sicht, ZStrR 104/1987, S. 416 ff.,
S. 432; NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, Zürich 1989, N 502, 508 f.;
vgl. für die deutsche Lehre auch LÖWE-ROSENBERG, StPO-Grosskommentar,
24. Aufl. 1989, § 172 N 51 f.; teilweise a. M. ZBJV 96/1960, S. 332).

    Bei Delikten, die nicht primär Individualrechtsgüter schützen,
wird angenommen, nur diejenigen Personen könnten als Geschädigte
betrachtet werden, die durch derartige Delikte tatsächlich in ihren
Rechten beeinträchtigt wurden, sofern diese Beeinträchtigung unmittelbare
Folge der tatbestandsmässigen Handlung ist (unveröffentlichte Urteile
vom 8. Januar 1988 i.S. L. B. E. 2a, vom 6. Januar 1988 i.S. W. J. und
Mitb. E. 2, S. 6 sowie vom 11. August 1987 i.S. W. J. E. 2, S. 7; vgl. SJZ
71/1975 S. 283; SJZ 60/1964 S. 72 Nr. 46; ROBERT HAUSER, aaO, S. 82 f.;
NIKLAUS SCHMID, aaO, N 509; auch der von den Beschwerdegegnern angerufene
ältere Entscheid ZBJV 96/1960, S. 332, verlangt, dass die Verletzung des
fraglichen privaten Rechtsgutes "durch dieselbe Handlung bewirkt" worden
sein müsse). Schliesslich ist auch Art. 28 StGB nach ständiger Praxis
des Bundesgerichtes dahingehend auszulegen, dass nur der unmittelbar
Verletzte strafantragsberechtigt ist (BGE 101 IV 407 mit Hinweisen;
98 IV 243; vgl. BGE 111 IV 67 E. 3; 108 IV 24 f.).

    b) Der Beschwerdeführer ist von den thurgauischen Gerichten wegen
Landfriedensbruch verurteilt worden, weil er an einer gewalttätigen
öffentlichen Zusammenrottung teilgenommen und dabei selber eine leere
Bierflasche geworfen hat, welche auf dem Platz vor dem Versammlungsgebäude
der St. Michaelsvereinigung zerbrochen ist und weiter keinen Schaden
angerichtet hat. Weder wegen Art. 145 Abs. 1 (Grundtatbestand der
Sachbeschädigung) noch wegen Art. 145 Abs. 1bis StGB (Sachbeschädigung aus
Anlass einer öffentlichen Zusammenrottung) ist gegen den Beschwerdeführer
Anklage vor Gericht erhoben worden. Es fragt sich, ob die privaten
Beschwerdegegner trotzdem als Geschädigte am Strafverfahren betreffend
Landfriedensbruch zugelassen werden konnten und ob ihnen in der Folge
adhäsionsweise ein Schadenersatzanspruch zugesprochen werden durfte.

    Vorab ist festzuhalten, dass nicht das Privatvermögen sondern die
öffentliche Friedensordnung das von Art. 260 StGB geschützte Rechtsgut
darstellt (BGE 108 IV 38). Dem Schutz des Privatvermögens im Falle von
Gewalttätigkeiten aus Anlass einer öffentlichen Zusammenrottung dient
dagegen Art. 145 Abs. 1bis StGB (vgl. STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches
Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Art. 145 N 7 mit Hinweisen). Es
kommt im vorliegenden Fall dazu, dass auch das dem Beschwerdeführer
konkret vorgeworfene Verhalten nicht unmittelbar zu dem von den privaten
Beschwerdegegnern geltend gemachten Vermögensschaden geführt hat. Es kann
somit nicht gesagt werden, dass die privaten Beschwerdegegner allein
durch die gemäss Art. 260 StGB inkriminierte Tat einen persönlichen
und unmittelbaren Nachteil erlitten haben. Für das Zustandekommen
des geltend gemachten Schadens war über die gemäss Art. 260 StGB
inkriminierte Tat hinaus ein Hinzutreten weiterer Elemente notwendig. Der
das Privatvermögen schädigende Eingriff war somit nicht unmittelbare
Folge der tatbestandsmässigen Handlung, vielmehr konnte der zur Anklage
gebrachte Sachverhalt höchstenfalls eine mittelbare Beeinträchtigung der
Vermögensinteressen der privaten Beschwerdegegner nach sich ziehen.

    Eine solche mittelbare Beeinträchtigung vermag aber nach der
dargelegten Lehre und Praxis noch keine Geschädigtenstellung zu begründen
(E. 2a). Anders wäre zu entscheiden, wenn gegen den Beschwerdeführer nicht
nur wegen Art. 260 sondern zusätzlich auch noch wegen Art. 145 StGB Anklage
erhoben worden wäre. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung besteht
zwischen Art. 145 und Art. 260 StGB Idealkonkurrenz (BGE 103 IV 247;
vgl. STEFAN TRECHSEL, aaO, Art. 260 N 10). Im vorliegenden Fall wurde zwar
am 9. Mai 1988 wegen Verletzung von Art. 145 StGB Strafantrag gestellt,
es erfolgte indessen weder bezüglich Art. 145 Abs. 1 (Antragsdelikt) noch
bezüglich Art. 145 Abs. 1bis StGB (Offizialdelikt) eine Anklageerhebung
vor Gericht. Gegen diesen Verzicht auf eine Anklageerhebung wegen
Sachbeschädigung oder anderen Vermögensdelikten wurde von den privaten
Beschwerdegegnern gemäss den kantonalen Akten nicht opponiert. Dass die
privaten Beschwerdegegner trotzdem als Geschädigte im Strafverfahren
formell zugelassen worden sind, steht nach dem Gesagten zumindest in
klarem Widerspruch zur herrschenden Lehre und Praxis. Es fragt sich,
ob die Anwendung des kantonalen Rechtes durch die kantonalen Instanzen
darüber hinaus sogar als willkürlich zu qualifizieren ist.

    c) Willkür liegt nach der Rechtsprechung nicht schon dann vor,
wenn eine andere Lösung in Betracht zu ziehen oder sogar vorzuziehen
wäre; das Bundesgericht weicht vom Entscheid der kantonalen
Instanz nur ab, wenn dieser offensichtlich unhaltbar ist, mit der
tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder
einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender
Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 114 Ia 27 f. E. 3b;
218 E. 2a). Dabei genügt es jedoch nicht, wenn sich nur die Begründung
des angefochtenen Entscheides als unhaltbar erweist. Die Aufhebung
eines Entscheids rechtfertigt sich nur, wenn dieser auch im Ergebnis
verfassungswidrig ist (BGE 113 Ib 311 f. E. 2a; 113 III 8 E. 1a; 84 E. 2a).

    Die Rechtsanwendung der kantonalen Instanzen ist deshalb qualifiziert
unrichtig und unhaltbar, weil die Auslegung des Begriffes des Geschädigten
nicht nur der herrschenden Lehre und Rechtsprechung widerspricht, sondern
darüber hinaus einer konstanten Praxis im Kanton Thurgau selbst. Wie
bereits dargestellt, legt die Anklagekammer des Kantons Thurgau (im
Zusammenhang mit der Anwendung von § 205 Abs. 1 StPO/TG) den Begriff des
Geschädigten nach Thurgauer Strafprozessordnung ebenfalls dahingehend aus,
dass darunter nur diejenige Person verstanden werden kann, welcher durch
die inkriminierte Handlung unmittelbar ein Nachteil zugefügt worden ist
(vgl. E. 2a). Es ist willkürlich, im vorliegenden Fall den Begriff
des Geschädigten entgegen der herrschenden Lehre und Rechtsprechung
auszulegen und dabei sogar von einer bestehenden thurgauischen Praxis
zum Geschädigtenbegriff ohne sachliche Begründung abzuweichen. Dies muss
umso mehr gelten, als die kantonalen Instanzen dem Beschwerdeführer für
den Vorwurf des Landfriedensbruches keinen Sachverhalt zur Last gelegt
haben, der für den Vermögensschaden bei den privaten Beschwerdegegnern
unmittelbar kausal gewesen sein kann. Obwohl der Beschwerdeführer auf die
betreffenden Widersprüche ausdrücklich hingewiesen hat, behaupten weder die
kantonalen Instanzen noch die privaten Beschwerdegegner, dass es zwingende
sachliche Gründe dafür gebe, im vorliegenden Fall von einem anderen
Geschädigtenbegriff auszugehen als bei der Anwendung von § 205 Abs. 1
StPO/TG. Solche Gründe sind auch nicht leichthin ersichtlich (für einen
einheitlichen Begriff des Geschädigten im thurgauischen Strafprozessrecht
im Interesse der Rechtssicherheit plädiert jedenfalls HERMANN BÜRGI, aaO,
S. 72). Im übrigen kann es grundsätzlich nicht Sache des Bundesgerichtes
sein, im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde selbständig nach
entsprechenden willkürfreien Motiven zu forschen und sie gegebenenfalls
im angefochtenen Entscheid zu substituieren (vgl. dazu BGE 112 Ia
354 f. E. bb). Die Anwendung des kantonalen Rechtes im angefochtenen
Entscheid verstösst daher im Ergebnis gegen Art. 4 BV. Der Entscheid
ist aufzuheben und die Beschwerdegegner sind für die Geltendmachung von
Schadenersatzansprüchen auf den Zivilweg zu verweisen.