Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 V 80



116 V 80

15. Auszug aus dem Urteil vom 17. April 1990 i.S. B. gegen Ausgleichskasse
des Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Art. 8 Abs. 1 und Art. 18 Abs. 1 IVG: Arbeitsvermittlung.

    - Wann liegt eine anspruchsbegründende Invalidität vor (Erw. 6)?

    - Wann ist die IV-Regionalstelle, wann das Arbeitsamt für die
Arbeitsvermittlung zuständig? Soweit Rz. 64.3 des Kreisschreibens des BSV
über die Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art die Arbeitsvermittlung
invalider arbeitsloser Versicherter in die Zuständigkeit der Arbeitsämter
verweist, ist die Regelung gesetzeswidrig (Erw. 7).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 6

    6.- Zu prüfen ist, ob Ausgleichskasse und Vorinstanz den Anspruch
auf Arbeitsvermittlung richtigerweise verneint haben.

    a) Gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG haben invalide oder von einer Invalidität
unmittelbar bedrohte Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen,
soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit wieder
herzustellen, zu verbessern, zu erhalten oder ihre Verwertung zu
fördern. Art. 18 Abs. 1 Satz 1 IVG bestimmt, dass eingliederungsfähigen
invaliden Versicherten nach Möglichkeit geeignete Arbeit vermittelt
wird. Die Durchführung der Arbeitsvermittlung ist Aufgabe der
Regionalstellen für berufliche Eingliederung (Art. 63 Abs. 1 lit. b
IVG). Die im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Arbeitsvermittlung
relevante Invalidität besteht darin, dass der Versicherte bei der
Suche nach einer geeigneten Arbeitsstelle aus gesundheitlichen Gründen
Schwierigkeiten hat (MEYER-BLASER, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im
staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 190 f.). Eine drohende
Invalidität bezüglich des Anspruchs auf Arbeitsvermittlung liegt vor,
wenn in absehbarer Zeit mit dem Verlust der bisherigen Arbeitsstelle
und mit nachfolgenden behinderungsbedingten Schwierigkeiten bei der
Suche einer neuen Erwerbsmöglichkeit zu rechnen ist. Anders als im
Rentenrecht (Art. 28 Abs. 1 IVG) nennt das Gesetz keinen Mindestgrad der
Invalidität, damit Eingliederungsmassnahmen gewährt werden können. Aus
dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz ergibt sich aber, dass das Mass der
für den Leistungsanspruch erforderlichen erwerblichen Beeinträchtigung
in Relation zu dem mit einer bestimmten Eingliederungsmassnahme
verbundenen finanziellen Aufwand stehen muss (MEYER-BLASER, aaO, S. 86
und S. 124 f.). Da die Arbeitsvermittlung keine besonders kostspielige
Eingliederungsmassnahme darstellt, genügt zur Anspruchsbegründung bereits
ein relativ geringes Mass an gesundheitlich bedingten Schwierigkeiten
bei der Suche einer neuen Arbeitsstelle.

    b) Die Regionalstelle für berufliche Eingliederung ist davon
ausgegangen, dass der Beschwerdeführer selber eine seiner Behinderung
angepasste Arbeit suchen könne (Bericht vom 22. April 1988). Gestützt auf
diese Beurteilung haben Ausgleichskasse und Vorinstanz den Anspruch auf
Arbeitsvermittlung verneint, da sich der Beschwerdeführer aufgrund der
allgemeinen Schadenminderungspflicht "primär" selbst um eine geeignete
Arbeitsstelle zu bemühen habe. Damit haben sie sinngemäss das Vorliegen
einer anspruchsbegründenden Invalidität in Abrede gestellt, weil der
Beschwerdeführer zumutbarerweise in der Lage sei, die erwerbliche
Beeinträchtigung selbst zu überwinden (vgl. BGE 113 V 28 Erw. 4 mit
Hinweisen).

    Dieser Beurteilung kann vorliegend nicht beigepflichtet werden. Aus
dem Gutachten der MEDAS vom 11. März 1988 ergibt sich, dass der
Beschwerdeführer sowohl im angestammten Beruf als Schlosser als auch bei
leichteren Tätigkeiten auf Rücksichtnahme des Arbeitgebers angewiesen
ist, da er weder schwere Gewichte heben noch dauernd in stereotyper
Körperhaltung arbeiten kann. Die körperlich bedingten Einschränkungen in
der Leistungsfähigkeit wirken sich bei den in Frage kommenden Tätigkeiten
zweifellos negativ auf das Finden einer Arbeitsstelle aus. Als weiteres
Erschwernis treten die von der MEDAS festgestellten Auffälligkeiten in
der Persönlichkeit hinzu. Im Gegensatz zu Verwaltung und Vorinstanz kann
daher nicht gesagt werden, der Beschwerdeführer sei in der Lage, die
behinderungsbedingten Schwierigkeiten im Rahmen der Selbsteingliederung
ohne weiteres selbst zu überwinden. Dies erschien auch den Gutachtern der
MEDAS unwahrscheinlich, so dass sie die Mithilfe der Regionalstelle bei
der Wiedereingliederung als notwendig erachteten. Die Richtigkeit dieser
Einschätzung zeigt sich denn auch in der Erfolglosigkeit der getätigten
Arbeitsbemühungen. Seit der Meldung bei der Arbeitslosenversicherung
am 16. August 1988 bewarb sich der Beschwerdeführer bis am 31. Januar
1989 insgesamt 35mal um eine Ganztagesarbeit, wobei er erst im
Dezember 1988 eine Teilzeitanstellung fand. Diese Entwicklung der
tatsächlichen Verhältnisse nach Verfügungserlass am 11. August 1988,
welche im vorliegenden Fall mitzuberücksichtigen ist, weil sie für die
zurückliegende Zeit aussagekräftig ist (BGE 99 V 102 mit Hinweisen),
weist um so mehr auf behinderungsbedingte Schwierigkeiten bei der
Stellensuche, als die vom Beschwerdeführer getätigten Arbeitsbemühungen in
eine Zeit der Hochkonjunktur fielen. Die schwierige Vermittelbarkeit des
Beschwerdeführers beruht somit wesentlich auch auf invaliditätsbedingten
Gründen.

Erwägung 7

    7.- a) Es stellt sich allerdings die Frage, ob und inwieweit
die Arbeitsvermittlung für einen bei der Arbeitslosenversicherung
gemeldeten, vermittlungsfähigen Versicherten in die Zuständigkeit
des Arbeitsamtes statt der Regionalstelle der Invalidenversicherung
fällt. Weder das IVG noch das AVIG enthalten diesbezügliche Bestimmungen;
die im Arbeitslosenversicherungsrecht enthaltenen Koordinationsregelungen
(Art. 15 Abs. 2 AVIG; Art. 15 AVIV) beziehen sich nur auf die Feststellung
der Vermittlungsfähigkeit eines Versicherten, nicht aber auf die
Zusammenarbeit der Verwaltungsorgane bei der Arbeitsvermittlung. Hingegen
hat das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) im Kreisschreiben über
die Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art, gültig ab 1. Januar 1983,
entsprechende Weisungen erlassen. Danach fällt die Arbeitsvermittlung in
den Zuständigkeitsbereich der Regionalstelle bei Versicherten (Rz. 64.2):

    "- deren Invalidität entweder besondere Einrichtungen am Arbeitsplatz
   erfordert oder denen voraussichtlich während der Einarbeitszeit

    IV-Taggelder gemäss Art. 20 IVV auszurichten sind;

    - die wegen eines

    Gesundheitsschadens bei der Vermittlung und der Einführung am neuen

    Arbeitsort einer besonderen Betreuung bedürfen, wie dies insbesondere
für

    Geistesschwache und Psychischkranke der Fall sein kann;

    - die mit Hilfe
   der IV ausgebildet oder umgeschult werden, sofern sie nach den

    Vorschriften der Arbeitslosenversicherung nicht als vermittlungsfähig
   gelten. Dies ist insbesondere der Fall bei Behinderten, die
   ausschliesslich eine Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte ausüben
   können".

    Hingegen ist die Arbeitsvermittlung gemäss Rz. 64.3 des erwähnten
Kreisschreibens Sache der öffentlichen Arbeitsämter, an welche die
betreffenden Versicherten durch die Regionalstelle zu weisen sind, bei:

    "- Arbeitslose(n) mit einem Gesundheitsschaden, bei denen die

    Vermittlungsfähigkeit ohne weiteres als gegeben erscheint und die
(noch)
   keine Leistungen der IV beziehen;

    - Personen mit einem Gesundheitsschaden, die von Arbeitslosigkeit
   bedroht sind;

    - arbeitslos gewordene(n) Invalide(n), die mit Hilfe der IV
   ausgebildet oder umgeschult wurden, sofern sie nach dieser Ausbildung
   nach den Vorschriften der

    Arbeitslosenversicherung vermittlungsfähig sind;

    - Personen, die zwar
   zum Teil arbeitsunfähig sind, jedoch nach den Vorschriften der IV keinen

    Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen haben oder hatten und denen
   offensichtlich auch noch keine IV-Rente zusteht, beispielsweise weil
   eine langdauernde Krankheit noch nicht ausgewiesen ist (Wartezeit
   nicht abgelaufen);

    - Personen, die neben einer Leistung der IV (insbesondere
   halbe IV-Rente) eine Arbeitsvermittlung durch das Arbeitsamt benötigen".

    Sodann enthält die Wegleitung des BSV über Invalidität und
Hilflosigkeit (WIH), gültig ab 1. Januar 1985, folgende, mit
den vorstehenden weitgehend übereinstimmende Weisungen über die
Zusammenarbeit der Invalidenversicherungs-Kommission mit Organen der
Arbeitslosenversicherung (Rz. 23.5):

    "Die IV-Kommissionen sorgen für die erforderliche Koordination mit der

    ALV. Sie weisen folgende Versicherten sofort an die Arbeitsämter:

    - Personen, die offensichtlich nicht invalid, jedoch arbeitslos sind;

    - Personen, die zwar teilweise arbeitsunfähig sind, jedoch keinen

    Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen haben und denen offensichtlich
auch
   noch keine Rente zusteht, beispielsweise weil die Wartezeit noch nicht
   abgelaufen ist (soweit sie nicht offensichtlich vermittlungsunfähig
   sind);

    - Personen, die neben einer Leistung der IV (insbesondere halbe Rente)
   eine Arbeitsvermittlung durch das Arbeitsamt benötigen."

    b) Diese von der Aufsichtsbehörde erlassenen Weisungen sind keine
Rechtsnormen. Sie sind wohl für die Durchführungsorgane, nicht aber
für den Richter verbindlich. Die Weisungen sind eine im Interesse der
gleichmässigen Gesetzesanwendung abgegebene Meinungsäusserung der sachlich
zuständigen Aufsichtsbehörde. Der Richter soll sie bei seiner Entscheidung
mitberücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht
werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Er
weicht anderseits insoweit von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren
gesetzlichen Bestimmungen nicht vereinbar sind (BGE 115 V 6 Erw. 1b,
112 V 233 Erw. 2a mit Hinweisen).

    c) Die zitierten Weisungen des BSV beruhen auf dem Grundgedanken,
dass die Arbeitsvermittlung in erster Linie Aufgabe der öffentlichen
Arbeitsämter ist. Die Regionalstellen der Invalidenversicherung sollen
nur bei zwei Kategorien von Versicherten zuständig sein, bei denen
die Arbeitsvermittlung besondere Schwierigkeiten bietet; nämlich bei
Versicherten,

    - deren Invalidität besondere Einrichtungen oder eine besondere
Betreuung am Arbeitsplatz erfordert;

    - die trotz Ausbildung bzw. Umschulung zu Lasten der
Invalidenversicherung arbeitslosenversicherungsrechtlich als
vermittlungsunfähig gelten (Rz. 64.2 des Kreisschreibens über die
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art).

    Die Vermittlung aller andern Versicherten hingegen soll durch das
Arbeitsamt erfolgen. Diese Zuständigkeitsordnung ist richtig, soweit es
sich um Versicherte handelt, die nicht oder nicht in anspruchsbegründendem
Ausmass invalid bzw. von Invalidität bedroht sind. Diese Versicherten
hat denn auch Rz. 23.5 Abs. 1 WIH im Auge; bei ihnen fällt nur eine
Arbeitsvermittlung durch die kommunalen oder regionalen Arbeitsämter in
Betracht. Hingegen erscheint es fragwürdig, die Vermittlung auch jener
Versicherten ausschliesslich den Arbeitsämtern zuzuweisen, die sowohl
invalid im Sinne von Art. 18 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1
IVG als auch arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Die
Arbeitsvermittlung ist in der Invalidenversicherung eine versicherte
Leistung, auf deren Gewährung bei erfüllten Voraussetzungen ein
durchsetzbarer Anspruch besteht. Demgegenüber ist die Arbeitsvermittlung
in der Arbeitslosenversicherung keine versicherte Leistungsart
(vgl. Art. 7 AVIG); der Arbeitslose hat keinen durchsetzbaren Anspruch
auf Arbeitsvermittlung. Diese ist arbeitslosenversicherungsrechtlich
lediglich eine Verwaltungsaufgabe der kantonalen Durchführungsorgane
(Art. 85 Abs. 1 lit. a AVIG), und sie wird vom Bund als Präventivmassnahme
durch Beiträge unterstützt (Art. 74 und 75 AVIG). Wird von den Organen der
Arbeitslosenversicherung tatsächlich Arbeitsvermittlung gewährt, stellt
sie für den Versicherten eine Last dar, welcher er sich im Rahmen der
Schadenminderungspflicht nicht entziehen darf, ohne dass ihn die dafür
vorgesehene Sanktion trifft (Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 30
Abs. 1 lit. d AVIG). Diese gegenüber der Invalidenversicherung völlig
verschiedene Rechtsnatur der arbeitslosenversicherungsrechtlichen
Arbeitsvermittlung beruht darauf, dass Invalidenversicherung und
Arbeitslosenversicherung keine komplementären Versicherungszweige sind,
deren Leistungen für ein und dasselbe versicherte Risiko einander
notwendigerweise ergänzen würden; vielmehr erfolgt die Beurteilung der
versicherten Leistung in jedem der beiden Versicherungszweige grundsätzlich
unabhängig voneinander (BGE 109 V 29 unten; ZAK 1984 S. 349 Erw. 2b;
vgl. auch MEYER-BLASER, aaO, S. 101 f.).

    Durch die zitierten Verwaltungsweisungen wird die Arbeitsvermittlung
invalider Versicherter Aufgabe eines Durchführungsorgans
der Arbeitslosenversicherung. Dadurch verschiebt sich die
gesetzliche Zuständigkeitsordnung in unzulässiger Weise, zumal die
Arbeitsvermittlung durch das Arbeitsamt keine versicherte Leistung,
sondern bloss ein faktisches Verwaltungshandeln darstellt, mit dem
eine Schadenminderungspflicht des Versicherten und die für deren
Verletzung vorgesehene Sanktion verknüpft sind. Die Übertragung der
Zuständigkeit für die Arbeitsvermittlung an die Arbeitsämter lässt
sich weder mit der materiellen noch mit der formellen Regelung des IVG
vereinbaren. Mit dieser Kompetenzverschiebung ist weder Gewähr dafür
geboten, dass der Anspruch auf Arbeitsvermittlung gemäss Art. 18 Abs. 1
IVG tatsächlich erfüllt wird, noch sind die Arbeitsämter in der Lage, die
Arbeitsvermittlung in gleich sachgerechter, der Behinderung des einzelnen
Versicherten adäquater Weise zu gewähren, wie es mit der Zuständigkeit der
Regionalstellen der Invalidenversicherung gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. b
IVG bezweckt wird. Insofern sind die erwähnten Verwaltungsweisungen
nicht gesetzeskonform.

    d) Da im vorliegenden Fall die invaliditätsbedingte Notwendigkeit
für Arbeitsvermittlung besteht (Erw. 6b), ist die Ablehnung dieser
Eingliederungsleistung gesetzwidrig.