Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 V 298



116 V 298

45. Auszug aus dem Urteil vom 20. August 1990 i.S. K. gegen Kantonales Amt
für Industrie, Gewerbe und Arbeit, Abt. Arbeitslosenversicherung, Zürich,
und Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich sowie Kantonale Rekurskommission
für die Arbeitslosenversicherung, Zürich Regeste

    Art. 4 BV: Vertrauensschutz. Für die Berufung auf Vertrauensschutz
wird nicht mehr vorausgesetzt, dass keine unmittelbar und zwingend aus
dem Gesetz sich ergebende Sonderregelung vorliegen darf, vor welcher das
Vertrauensprinzip zurücktreten muss (Änderung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Der Grundsatz von Treu und Glauben schützt den Bürger in
seinem berechtigten Vertrauen auf behördliches Verhalten und bedeutet
u.a., dass falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden unter bestimmten
Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des
Rechtsuchenden gebieten. Gemäss Rechtsprechung und Doktrin ist eine
falsche Auskunft bindend,

    1. wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf
bestimmte Personen gehandelt hat;

    2. wenn sie für die Erteilung der betreffenden Auskunft zuständig war
oder wenn der Bürger die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig
betrachten durfte;

    3. wenn der Bürger die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres
erkennen konnte;

    4. wenn er im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen
getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können;

    5. wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunfterteilung keine
Änderung erfahren hat (BGE 112 V 119 Erw. 3a, 110 V 155 Erw. 4b, 109
V 55 Erw. 3a, 108 V 181 Erw. 3, 107 V 160 Erw. 2, 106 V 143 Erw. 3 mit
Hinweisen).

    Ferner verlangt das Eidg. Versicherungsgericht als weitere
(sog. sechste) Voraussetzung, dass keine unmittelbar und zwingend aus
dem Gesetz sich ergebende Sonderregelung vorliegen darf, vor welcher
das Vertrauensprinzip als allgemeiner Rechtsgrundsatz zurücktreten muss
(BGE 111 V 73 Erw. 4c, 110 V 156 Erw. 4c, 106 V 143 Erw. 3 mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- a) ... Es stellt sich die Frage, ob an der sechsten Voraussetzung
weiterhin festgehalten werden kann.

    b) Das Eidg. Versicherungsgericht wandte in seiner früheren
Rechtsprechung die Grundsätze über den Vertrauensschutz in Anlehnung an
die Praxis des Bundesgerichts (BGE 115 Ia 18 Erw. 4a, 99 Ib 101 Erw. 4 mit
Hinweisen) an (EVGE 1967 S. 40 Erw. 4a; BGE 97 V 220 Erw. 4 und zuletzt
in BGE 99 V 8 Erw. 5, ZAK 1968 S. 166; vgl. auch EVGE 1963 S. 104 Erw. 3,
S. 176 Erw. 4 und S. 184 Erw. 3, 1966 S. 84 unten, 1967 S. 93 Erw. 3).

    Im Jahre 1974 änderte es seine Rechtsprechung und verlangte zusätzlich,
dass keine unmittelbar und zwingend aus dem Gesetz sich ergebende
Sonderregelung vorliegen darf, vor welcher das Vertrauensprinzip als
allgemeiner Rechtsgrundsatz zurücktreten muss (BGE 100 V 154, 158 und
162). In BGE 100 V 154 schloss es den Vertrauensschutz im Bereich von
Art. 16 AHVG, namentlich dessen Abs. 1 mit folgender Begründung aus:

    "Des weitern ist zu beachten, dass die Bestimmung von Art. 16 AHVG auf
   die Erhaltung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit gerichtet ist.

    Wie in der bundesrätlichen Botschaft vom 5. Mai 1953 zur Änderung
von Art.

    16 AHVG ausgeführt wurde, muss im Interesse der Rechtssicherheit
und aus
   verwaltungstechnischen Einwänden hinsichtlich der einzelnen

    Beitragsforderung nach Ablauf eines bestimmten Zeitraumes im Verhältnis
   zwischen Versicherung und Beitragspflichtigem "Ruhe eintreten" (BBl 1953

    II S. 119). Nachforschungen der Verwaltung und des Richters über weit
   zurückliegende Tatsachen sollen vermieden werden. Aus diesem Grunde
   ist mit dem Ablauf der in Art. 16 AHVG genannten Fristen die Wirkung des

    Erlöschens der Forderung bzw. der Schuld verbunden. Auf Grund dieser

    Erwägungen hat das Eidg. Versicherungsgericht wiederholt entschieden,
dass
   eine verjährte Beitragsschuld selbst dann nicht mehr erfüllt werden
   kann, wenn die Beitragslücke auf ein vorschriftswidriges

    Verhalten der Ausgleichskasse zurückzuführen ist (EVGE 1958 S. 199, ZAK

    1961 S. 227). Insofern tritt das Vertrauensprinzip als allgemeiner

    Rechtsgrundsatz gegenüber der unmittelbar und zwingend aus dem
Gesetz sich
   ergebenden Sonderregelung zurück. Eine Nachzahlung nicht entrichteter

    Beiträge kann somit lediglich im Rahmen der Bestimmung von Art. 16 AHVG
   erfolgen."

    In Art. 47 AHVG erblickte das Eidg. Versicherungsgericht ebenfalls
eine solche Sonderregelung. Hiezu führte es in BGE 100 V 158 folgendes aus:

    "Nach Art. 47 AHVG sind unrechtmässig bezogene Renten und

    Hilflosenentschädigungen innerhalb der Verjährungsfrist
zurückzuerstatten.

    Die Rückerstattung ist zu erlassen, wenn der Rückerstattungspflichtige
in
   gutem Glauben annehmen konnte, die Leistung zu Recht bezogen zu haben,
   und wenn die Rückerstattung für ihn eine grosse Härte bedeuten würde
   (vgl.

    Art. 79 Abs. 1 AHVV). Diese Rückerstattungspflicht schliesst in
sich, dass
   die betreffende Leistung auch in Zukunft nicht mehr erbracht wird. Wenn
   mithin Renten und Hilflosenentschädigungen, die sogar auf einer
   rechtskräftigen Verfügung beruhen, zurückgefordert werden müssen und in

    Zukunft nicht mehr ausgerichtet werden dürfen, so müssen diese
Leistungen
   erst recht verweigert werden, wenn sich der Versicherte bloss auf eine
   entsprechende, materiell falsche Auskunft oder Zusicherung berufen kann,
   und zwar selbst dann, wenn im übrigen die von der Praxis entwickelten

    Voraussetzungen des Vertrauensschutzes gegeben wären. Die lediglich auf
   den Grundsatz von Treu und Glauben gegründete Gewährung von Rente und

    Hilflosenentschädigung würde unmittelbar gegen Art. 47 AHVG
verstossen...

    Daraus ergibt sich, dass sich die Beschwerdeführerin nicht auf
das Prinzip
   des Vertrauensschutzes berufen kann, um gesetzwidrig eine
   ausserordentliche AHV-Rente zu erlangen. In diesem Punkt muss die

    Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen werden..."

    Diese Ausführungen wurden in BGE 100 V 162 noch folgendermassen
präzisiert:

    "Mit der Vorschrift von Art. 47 AHVG und den zugehörigen

    Verordnungsbestimmungen (Art. 78 ff. AHVV) hat der Gesetzgeber die
   rechtlichen Folgen einer unrechtmässigen Ausrichtung von

    Versicherungsleistungen ausdrücklich geregelt. Insbesondere hat er auch
   die Möglichkeit eines Erlasses der Rückerstattungspflicht vorgesehen und
   damit dem Umstand Rechnung getragen, dass der Versicherte die Leistungen
   gutgläubig bezogen haben kann. Darüber hinaus wurde dem Prinzip der

    Rechtmässigkeit des Verwaltungshandelns der Vorrang gegeben gegenüber
dem

    Schutz des guten Glaubens desjenigen, der unrechtmässig

    Versicherungsleistungen bezogen hat. Insofern tritt das
Vertrauensprinzip
   als allgemeiner Rechtsgrundsatz gegenüber der unmittelbar und zwingend
   aus dem Gesetz sich ergebenden Sonderregelung zurück. Es besteht somit
   grundsätzlich kein Raum zu einer über den in Art. 47 AHVG umschriebenen

    Schutz des guten Glaubens hinausgehenden Berücksichtigung des
Grundsatzes
   von Treu und Glauben..."

    Im Anschluss an die erwähnten Grundsatzurteile entwickelte sich
die Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichts im Bereich des
Vertrauensschutzes dahingehend, dass entweder lediglich die fünf
Voraussetzungen Erwähnung fanden (vgl. etwa BGE 112 V 119 Erw. 3a, 109
V 52, 108 V 182 Erw. 3, 107 V 160 f. Erw. 2 und 3, 106 V 72 Erw. 3b)
oder die sechste Voraussetzung angewandt bzw. deren Anwendung verneint
wurde (vgl. BGE 111 V 73 Erw. 4c, 110 V 156 Erw. 4c, 106 V 143 Erw. 3,
101 V 180; ZAK 1983 S. 390 Erw. 2b, 1977 S. 264 Erw. 4; ARV 1986 Nr. 32
S. 127). Dabei spielten nebst Art. 16 AHVG als den Vertrauensschutz
ausschliessende Sonderregelungen lediglich die Vorschriften betreffend
Rückerstattung zu Unrecht ausgerichteter Versicherungsleistungen (Art. 47
AHVG; Art. 95 AVIG, vgl. hiezu ARV 1986 Nr. 32 S. 127) eine Rolle.

    c) Das Recht auf Vertrauensschutz ist ein in Art. 4 BV gewährleisteter
verfassungsmässiger Anspruch (BGE 115 Ia 18 Erw. 4a mit Hinweisen;
SALADIN, Das Verfassungsprinzip der Fairness, in: Erhaltung und Entfaltung
des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts,
1975, S. 56 f.; GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. I, S. 389
unten). Es erweckt daher bei einem Teil der Lehre Bedenken, dass dieses
verfassungsmässige Recht durch eine als Sonderregelung qualifizierte
Gesetzesnorm beiseite geschoben werden kann (vgl. etwa DUCOMMUN, Légalité
et bonne foi dans la jurisprudence du Tribunal fédéral des assurances,
in: Mélanges Henri Zwahlen, 1977, S. 256; MOOR, Droit administratif,
Bd. I, S. 359 unten; SAMELI, Treu und Glauben im öffentlichen Recht, ZSR
NF 96 (1977), II, S. 385; WEBER-DÜRLER, Vertrauensschutz im öffentlichen
Recht, S. 76 f.). Andere Autoren sehen die Rechtsprechung zur sechsten
Voraussetzung mit dem verfassungsmässigen Grundsatz des Vertrauensschutzes
als vereinbar (GRISEL, L'apport du Tribunal fédéral des assurances au
développement du droit public, in: Mélanges Alexandre Berenstein, 1989,
S. 442; HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, S. 229;
KNAPP, Précis de droit administratif, 3. Aufl., S. 95, NN 509 am Ende
und 510).

    Das Bedürfnis nach einer vom Gesetz abweichenden Behandlung, welches
durch das Vertrauensprinzip verkörpert wird, steht notwendigerweise in
einem Spannungsverhältnis zum Gebot der rechtsgleichen Gesetzesanwendung
(BGE 112 V 122). Auf diesem Hintergrund vermag die der sechsten
Voraussetzung zugrunde liegende Annahme, gewisse Gesetzesbestimmungen
würden als Sonderregelung den verfassungsmässigen Anspruch auf
Vertrauensschutz ohne weiteres ausschliessen, andere dagegen nicht,
im Lichte der gestiegenen Bedeutung, welche Lehre und Rechtsprechung dem
Vertrauensschutz heute zumessen, nicht mehr zu überzeugen. Bei konsequenter
Anwendung durch die Rechtsprechung hätte die sechste Voraussetzung im
übrigen zum Ausschluss des Vertrauensschutzes im Leistungsbereich der
Bundessozialversicherung führen müssen. Denn wenn die Rechtsprechung eine
fehlerhafte Auskunft oder eine falsche Zusicherung zum Anlass nahm, eine
Leistungspflicht zu bejahen (vgl. z.B. BGE 107 V 157 und 109 V 52), so
änderte dies - weil gegen das Gesetz verstossend - an der Unrechtmässigkeit
der Leistungsausrichtung nichts. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die
bereits erfolgte Leistungszusprechung nachträglich gestützt auf Treu
und Glauben sanktioniert oder - sofern noch nicht erfolgt - erst mit
Wirkung für die Zukunft angeordnet wird. In beiden Fällen müsste bei
konsequenter Anwendung der sechsten Voraussetzung die gestützt auf Treu
und Glauben zugesprochene Leistung als unrechtmässig bezogen betrachtet
und gestützt auf die als unmittelbar und zwingend aus dem Gesetz sich
ergebende Sonderregelung qualifizierte Rückforderungsnorm (Art. 47 AHVG,
Art. 95 AVIG usw.) in jedem Fall zurückerstattet werden. Ein solches
Ergebnis, das den Vertrauensschutz im Kernbereich verletzt, wäre aus
verfassungsrechtlicher Sicht nicht haltbar.

    d) Nach dem Gesagten kann an der sechsten Voraussetzung nicht
mehr festgehalten werden (BGE 108 V 17 Erw. 3b). Im Rahmen des
Vertrauensschutzes ist daher die bisherige Rechtsprechung (zuletzt in BGE
112 V 121 Erw. 4c mit Hinweisen) dahingehend zu ändern, dass inskünftig bei
Erfüllung der fünf Voraussetzungen auf die Prüfung der Frage verzichtet
wird, ob eine unmittelbar und zwingend sich aus dem Gesetz ergebende
Sonderregelung vorliegt, vor welcher das Vertrauensprinzip als allgemeiner
Rechtsgrundsatz zurücktreten muss.