Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 V 23



116 V 23

6. Auszug aus dem Urteil vom 7. Februar 1990 i.S. Ausgleichskasse
Basel-Stadt gegen S. und Kantonale Rekurskommission für die
Ausgleichskassen, Basel Regeste

    Art. 28 Abs. 1bis IVG, Art. 28bis IVV: Härtefall.

    - Die Verwaltung hat im Rentenzusprechungsverfahren von Amtes wegen
abzuklären, ob ein Härtefall gegeben ist. Auf eine nähere Prüfung darf sie
nur verzichten, wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Härtefalles
offensichtlich fehlen.

    - Die Verwaltungspraxis ist insoweit gesetzwidrig, als der Anspruch
auf eine Härtefallrente von einem speziellen Antrag des Versicherten
abhängig gemacht wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 28 Abs. 1 IVG (in der bis Ende 1987 gültig gewesenen
Fassung) hat der Versicherte Anspruch auf eine ganze Rente, wenn er
mindestens zu zwei Dritteln, oder auf eine halbe Rente, wenn er mindestens
zur Hälfte invalid ist; die halbe Rente kann in Härtefällen auch bei
einer Invalidität von mindestens einem Drittel ausgerichtet werden.

    Ein Härtefall im Sinne von Art. 28 Abs. 1 IVG liegt vor, wenn der
Versicherte zu mindestens einem Drittel invalid ist und die in Art. 42
Abs. 1 AHVG festgelegten Einkommensgrenzen nicht erreicht (Art. 28bis
Abs. 1 IVV). Massgebend ist das Einkommen, das der Versicherte aufgrund
seiner persönlichen Verhältnisse und der besondern Umstände des Falles
(BGE 112 V 282 Erw. 3) als Invalider erzielen könnte. Es ist nach den
Regeln der Art. 56 bis 62 AHVV zu ermitteln. In Abweichung von Art. 60
Abs. 2 AHVV wird ein Zehntel des anrechenbaren Vermögens zum Einkommen
hinzugerechnet. Das so ermittelte Gesamteinkommen ist zu zwei Dritteln
anzurechnen (Art. 28bis Abs. 2 IVV). Eine allfällige Härtefallrente ist
nicht als Einkommen anzurechnen (Art. 28bis Abs. 3 IVV).

    Nach Art. 28 Abs. 1 IVG (in der seit 1. Januar 1988 geltenden
Fassung) hat der Versicherte Anspruch auf eine ganze Rente, wenn er
mindestens zu 66 2/3%, auf eine halbe Rente, wenn er mindestens zu 50%,
oder auf eine Viertelsrente, wenn er mindestens zu 40% invalid ist; in
Härtefällen hat der Versicherte nach Art. 28 Abs. 1bis IVG bereits bei
einem Invaliditätsgrad von mindestens 40% Anspruch auf eine halbe Rente.

    Ein Härtefall im Sinne von Art. 28 Abs. 1bis IVG liegt vor, wenn
der invalide Versicherte die in Art. 42 Abs. 1 AHVG festgelegten
Einkommensgrenzen nicht erreicht (Art. 28bis Abs. 1 IVV). Die
Invalidenversicherungs-Kommission legt das Erwerbseinkommen fest, das
der Versicherte durch eine für ihn zumutbare Tätigkeit erzielen könnte;
dieses kann niedriger sein als das Invalideneinkommen nach Art. 28 Abs. 2
IVG, wenn der Behinderte wegen seines fortgeschrittenen Alters, seines
Gesundheitszustandes, der Lage am Arbeitsmarkt oder aus anderen, nicht
von ihm zu verantwortenden Gründen die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit
nicht oder nicht voll ausnützen kann (Art. 28bis Abs. 2 IVV). Die
Ausgleichskasse ermittelt das Gesamteinkommen nach den Regeln der Art. 56
bis 62 AHVV; in Abweichung von Art. 60 Abs. 2 AHVV wird ein Zehntel des
anrechenbaren Vermögens zum Einkommen hinzugezählt. Die dem Versicherten
zustehende Viertelsrente ist als Einkommen mit zu berücksichtigen. Das so
ermittelte Gesamteinkommen wird zu zwei Dritteln angerechnet (Art. 28bis
Abs. 3 IVV).

    Für die Bemessung der Invalidität wird gemäss Art. 28 Abs. 2 IVG das
Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und
nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm
zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte,
in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn
er nicht invalid geworden wäre.

Erwägung 3

    3.- a) Für den Fall, dass bei einem Versicherten ein Invaliditätsgrad
von mindestens 40, aber weniger als 50% ermittelt wird, der ab 1. Januar
1988 Anspruch auf eine Viertelsrente bzw. - im Härtefall - auf eine
halbe Rente begründet, bestimmt die Wegleitung des Bundesamtes für
Sozialversicherung (BSV) über Invalidität und Hilflosigkeit, gültig ab 1.
Januar 1988 (WIH), in Rz. 245 folgendes:

    "Die Ausgleichskasse verfügt sofort die Viertelsrente, orientiert den

    Versicherten darüber, dass er eine halbe Rente geltend machen kann,
wenn
   ein Härtefall vorliegt, und stellt ihm hiefür das Ergänzungsblatt 3 zur

    Anmeldung zu. Erhält sie das Ergänzungsblatt zurück, so klärt sie die
   wirtschaftlichen Verhältnisse des Versicherten ab, stellt fest, ob die

    Voraussetzungen des Härtefalles erfüllt sind, ersetzt gegebenenfalls
die

    Viertelsrente durch eine halbe Rente und überwacht das Weiterbestehen
der
   wirtschaftlichen Voraussetzungen."

    Das gleiche Vorgehen schreibt auch die Wegleitung über die Renten,
gültig ab 1. Januar 1988 (RWL), in Rz. 1106 f. vor.

    Im vorliegenden Fall ist die Ausgleichskasse nach dieser
Verwaltungsweisung vorgegangen und hat auf eine Abklärung der
wirtschaftlichen Verhältnisse verzichtet, nachdem der Beschwerdegegner
offenbar davon abgesehen hatte, ihr das Ergänzungsblatt 3 einzureichen. Es
stellt sich die Frage, ob die erwähnte Verwaltungspraxis gesetzeskonform
ist oder ob die Ausgleichskasse nicht vielmehr von Amtes wegen zu prüfen
hat, ob ein Härtefall gegeben ist.

    b) Nach der Rechtsprechung zu dem bis Ende 1987 gültig gewesenen
Art. 28 Abs. 1 IVG darf in Fällen, in denen revisionsweise ein
Invaliditätsgrad von weniger als 50%, aber von mindestens einem Drittel
ermittelt wird und die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Härtefalles
nicht offensichtlich fehlen, über den Rentenanspruch erst nach Prüfung des
Härtefalles verfügt werden (ZAK 1982 S. 328). Im unveröffentlichten Urteil
H. vom 23. Februar 1989 hat das Eidg. Versicherungsgericht entschieden,
dass an dieser Rechtsprechung auch unter der Herrschaft des neuen
Rechts festzuhalten ist; die vorliegend interessierende Frage, ob die
Prüfung des Härtefalles - entgegen den Verwaltungsweisungen - auch im
erstmaligen Rentenzusprechungsverfahren von Amtes wegen zu erfolgen hat,
wurde offengelassen. Schliesslich hat das Gericht im unveröffentlichten
Urteil A. vom 17. Oktober 1989 festgestellt, dass die Ausgleichskasse
dann im Sinne der zitierten Verwaltungsweisungen (Rz. 245 WIH und
Rz. 1106 f. RWL) zu verfahren hat, wenn die sofortige Abklärung der
Härtefallvoraussetzungen nicht möglich ist, weil der Ansprecher die ihm
obliegende Mitwirkungspflicht verletzt hat. Weiterhin offengelassen hat es
die Frage, ob dieses Vorgehen im erstmaligen Rentenzusprechungsverfahren
zulässig ist.

    c) Im IV-rechtlichen Verwaltungsverfahren gelten der
Untersuchungsgrundsatz und das Prinzip der Rechtsanwendung von Amtes
wegen (BGE 114 V 234 Erw. 5a). Der Untersuchungsgrundsatz besagt,
dass die Verwaltung von sich aus für die richtige und vollständige
Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen hat, und nach
dem Prinzip der Rechtsanwendung von Amtes wegen ist sie verpflichtet,
auf den festgestellten Sachverhalt jenen Rechtssatz anzuwenden, den
sie als den zutreffenden ansieht, und ihm auch die Auslegung zu geben,
von der sie überzeugt ist (BGE 110 V 52 Erw. 4a mit Hinweisen; GYGI,
Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 212). Die beiden erwähnten
Grundsätze gelten nicht uneingeschränkt. Sie werden durch die verschiedenen
Mitwirkungspflichten des Leistungsansprechers ergänzt (BGE 114 V 234
Erw. 5a).

    d) Aus dem Untersuchungsgrundsatz und dem Prinzip der Rechtsanwendung
von Amtes wegen ergibt sich für die Verwaltung die Pflicht, bei einem
zwischen 40 und 50% liegenden Invaliditätsgrad die für den Anspruch
auf eine Härtefallrente massgebenden wirtschaftlichen Verhältnisse des
Versicherten von sich aus abzuklären. Denn nach der Rechtsprechung
zu Art. 46 IVG wahrt der Versicherte mit der Anmeldung bei der
Invalidenversicherung grundsätzlich alle seine zu diesem Zeitpunkt
gegenüber der Versicherung bestehenden Ansprüche (BGE 103 V 70 Erw. b,
101 V 113 Erw. c mit Hinweis). Dies hat auch in bezug auf den Anspruch
auf eine Härtefallrente zu gelten. Zu beachten ist im weiteren, dass zur
Beurteilung der Frage, ob ein Härtefall vorliegt, umfangreiche Berechnungen
erforderlich sind und dem Versicherten gemäss Art. 28bis Abs. 2 IVV
unter Umständen aus invaliditätsfremden Gründen nur ein Erwerbseinkommen
angerechnet werden darf, das wesentlich tiefer ist als das nach Art. 28
Abs. 2 IVG massgebende Invalideneinkommen. Der Versicherte dürfte deshalb
regelmässig gar nicht in der Lage sein, verlässlich abzuschätzen, ob er
die gesetzlichen Anspruchserfordernisse erfüllt. Ist aber der Anspruch auf
eine Härtefallrente an derart komplexe Voraussetzungen in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht geknüpft, deren Tragweite der Leistungsansprecher in
der Regel nicht überblicken kann, ist es unzulässig, nähere Abklärungen
der Verwaltung davon abhängig zu machen, dass der Versicherte zuvor
unter Einreichung eines Ergänzungsblattes einen entsprechenden
Antrag stellt. Daher kann der Versicherte für die Einleitung der
Härtefallprüfung nicht auf die ihm obliegende Mitwirkungspflicht verwiesen
werden. Diesbezüglich ist er zwar gehalten, die für die Beurteilung des
Anspruchs notwendigen Auskünfte zu erteilen (Art. 71 Abs. 1 IVV; erwähntes
Urteil A. vom 17. Oktober 1989) und zur Beschaffung der erforderlichen
Unterlagen Hand zu bieten. Die Mitwirkungspflicht darf aber nicht dazu
führen, dass Untersuchungsgrundsatz und Rechtsanwendung von Amtes wegen,
die nach Eingang der Anmeldung des Versicherten bei der Verwaltung deren
Tätigwerden im Hinblick auf alle gegenüber der Invalidenversicherung in
Betracht fallenden Ansprüche gebieten, in einem bestimmten Stadium des
IV-rechtlichen Abklärungsverfahrens ausser Kraft gesetzt werden.

    Nach dem Gesagten ist kein Grund ersichtlich, in bezug
auf die Prüfung des Härtefalles zwischen Rentenrevision und
(erstmaligem) Rentenzusprechungsverfahren zu unterscheiden. Ergibt die
Invaliditätsbemessung einen Invaliditätsgrad von mindestens 40, aber
weniger als 50%, hat die Verwaltung daher von Amtes wegen abzuklären, ob
ein Härtefall gegeben ist. Auf eine nähere Prüfung darf sie nur verzichten,
wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Härtefalles offensichtlich
fehlen. Rz. 245 WIH und Rz. 1106 f. RWL, gültig ab 1. Januar 1988,
sind somit insoweit, als der Anspruch auf eine Härtefallrente von einem
speziellen Antrag des Versicherten abhängig gemacht wird, gesetzwidrig
und finden keine Anwendung.