Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 V 182



116 V 182

32. Urteil vom 17. Juli 1990 i.S. Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen
gegen H. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 4 BV, Art. 73bis IVV: Rechtliches Gehör; Heilung einer Verletzung
des Gehörsanspruchs. Anwendung der Grundsätze über das rechtliche Gehör
im Verwaltungsverfahren bzw. über die Voraussetzungen für die Heilung
einer Verletzung des Gehörsanspruchs im Beschwerdeverfahren, wie sie
das Eidg. Versicherungsgericht wiederholt bezüglich des Verfahrens
vor der Schweizerischen Ausgleichskasse bzw. vor der Eidgenössischen
Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen
aufgestellt hat; hier in einem Fall, wo der Verfahrensfehler durch eine
kantonale Behörde begangen wurde.

Sachverhalt

    A.- Max H. leitete selbständig eine Firma für Gebäudeunterhalt. Am
1. September 1982 erlitt er bei einem Sturz von einer Leiter eine
Brustwirbelkörperfraktur, woraus ein chronisches lumbovertebrales
Schmerzsyndrom resultierte. Bis Ende Februar 1983 war Max H. vollständig
arbeitsunfähig, danach begann er seine Tätigkeit auf die Restaurierung
von Möbeln umzustellen. Die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen
sprach ihm mit Verfügungen vom 7. November 1984 und 22. Dezember 1986
auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 75% bzw. 85% eine ganze
Invalidenrente ab 1. August 1983 zu.

    Am 10. März 1987 leitete die Verwaltung ein Revisionsverfahren
ein. Die Invalidenversicherungs-Kommission holte u.a. einen
Bericht der Regionalstelle in St. Gallen (vom 24. April 1987), ein
Zeugnis des Hausarztes Dr. med. A. vom 25. September 1987 sowie die
Buchhaltungsunterlagen der Jahre 1984 bis 1986 ein und klärte die
Verhältnisse an Ort und Stelle ab (Bericht vom 4. März 1988). Gestützt
darauf setzte sie mit Beschluss vom 22. März 1988 den Invaliditätsgrad neu
auf 46% fest, was sie dem Versicherten mit Vorbescheid vom 19. April 1988
mitteilte. Gleichzeitig eröffnete sie ihm die Möglichkeit, sich innert
14 Tagen schriftlich oder mündlich zur Sache zu äussern. Mit Eingabe vom
25. April 1988 ersuchte der Vertreter des Versicherten um Aktenzustellung,
damit er zur vorgesehenen Rentenkürzung Stellung nehmen könne. Ohne das
Begehren beantwortet zu haben, setzte die Ausgleichskasse des Kantons
St. Gallen mit Verfügung vom 26. Mai 1988 die Invalidenrente ab 1. Juli
1988 auf eine Viertelsrente herab. Einer allfälligen Beschwerde entzog
sie die aufschiebende Wirkung. Am 3. Juni 1988 stellte sie die Akten
dem Vertreter des Versicherten zu. Gleichzeitig teilte sie in Ergänzung
der Verfügung vom 26. Mai 1988 mit, auf welchen Einkommenszahlen die
Invaliditätsbemessung beruhe.

    B.- Max H. liess gegen die Verfügung vom 26. Mai 1988
Beschwerde führen. Nebst der Wiederherstellung der entzogenen
aufschiebenden Wirkung, welches Begehren mit Zwischenentscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. Juli 1988 und Urteil
des Eidg. Versicherungsgerichts vom 23. Februar 1989 gutgeheissen wurde,
beantragte er die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Rückweisung
der Sache zur Durchführung eines neuen Verfahrens und zu neuem Entscheid;
insbesondere sei er "in die Lage zu versetzen, sich vor der Vorinstanz zum
vollständigen Abklärungsresultat sowie zum Vorbescheid zu äussern". Zur
Begründung liess er im wesentlichen vorbringen, die Verwaltung habe seinen
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie ihm den Bericht über
die Abklärungen an Ort und Stelle vom 4. März 1988 nur unvollständig
unterbreitet habe, den Beschluss vom 22. März 1988 vor Eingang seiner
diesbezüglichen Stellungnahme (vom 27. März 1988) formuliert und die
Verfügung vom 26. Mai 1988 erlassen habe, ohne ihm Gelegenheit zur
Akteneinsicht und zur mit Schreiben vom 25. April 1988 in Aussicht
gestellten Vernehmlassung einzuräumen.

    Mit Entscheid vom 22. Juni 1989 bejahte das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen das Vorliegen einer Verletzung des rechtlichen
Gehörs, hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache an die
Invalidenversicherungs-Kommission zurück, damit sie dem Versicherten
Gelegenheit gebe, sich vor erneuter Beschlussfassung zur geplanten
Erledigung des Verfahrens materiell zu äussern.

    C.- Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Sache sei an das
Versicherungsgericht zur materiellen Beurteilung zurückzuweisen.

    Während das Versicherungsgericht auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, äussert sich das Bundesamt
für Sozialversicherung in gutheissendem Sinne, enthält sich jedoch eines
formellen Antrags. Max H. lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen.

    Auf die einzelnen Vorbringen in den Rechtsschriften wird, soweit
erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 73bis Abs. 1 IVV hat die
Invalidenversicherungs-Kommission oder ihr Präsident vor der
Beschlussfassung über die Ablehnung eines Leistungsbegehrens, den Entzug
oder die Herabsetzung einer bisherigen Leistung dem Versicherten oder
seinem Vertreter Gelegenheit zu geben, sich mündlich oder schriftlich
zur geplanten Erledigung zu äussern und die Akten seines Falles einzusehen.

    Diese Bestimmung bezweckt im wesentlichen, dem Versicherten den
Anspruch auf rechtliches Gehör in dem von der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung umschriebenen Sinne zu gewährleisten (BGE 116 V 33
Erw. 4a). Danach dient das rechtliche Gehör einerseits der Sachaufklärung,
andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht
beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung
des einzelnen eingreift (BGE 112 Ia 3 mit Hinweisen). Dazu gehört
insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine
Rechtsstellung eingreifenden Entscheides zur Sache zu äussern, erhebliche
Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen
Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise
entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern,
wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 115 Ia 11
Erw. 2b und 96 Erw. 1b, 114 Ia 99 Erw. 2a, 112 Ia 3, 111 Ia 103 Erw. 2b,
109 Ia 5 und 233 Erw. 5b, 106 Ia 162 Erw. 2b; vgl. auch HAEFLIGER,
Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, S. 128 ff.; SALADIN, Das
Verwaltungsverfahren des Bundes, S. 131 ff.; TINNER, Das rechtliche Gehör,
in ZSR 83/1964 II S. 330 ff.; MÜLLER/MÜLLER, Grundrechte, Besonderer Teil,
S. 239 ff.; COTTIER, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 4 BV, in
recht 1984, S. 1 ff.; MÜLLER, in Kommentar zur BV, Art. 4, Rz. 104 ff.;
GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. 1, S. 373 ff., insbesondere S.
380 ff.). Die Frage einer allfälligen Verletzung des Gehörsanspruchs
kann der Sozialversicherungsrichter grundsätzlich nicht nur aufgrund von
Parteibehauptungen und im Rahmen gestellter Rechtsbegehren, sondern auch
von Amtes wegen prüfen ("iura novit curia"; BGE 107 V 248 Erw. 1b mit
Hinweisen; vgl. auch BGE 115 Ia 96 Erw. 1b und 105 Ia 196). Zwar hat eine
Partei grundsätzlich keinen Anspruch, zur rechtlichen Würdigung von (ihr
bekannten) Tatsachen oder, ganz allgemein, zur juristischen Begründung
des Entscheides angehört zu werden. Beabsichtigt der Richter jedoch,
das Urteil auf juristische Argumente abzustützen, welche im vorangehenden
Verfahren weder erwähnt noch von einer der beteiligten Parteien geltend
gemacht wurden und mit deren Heranziehung sie auch nicht rechnen mussten,
so hat er (zumindest der dadurch beschwerten Partei) Gelegenheit zu geben,
dazu Stellung zu nehmen (vgl. BGE 115 Ia 96 Erw. 1b mit Hinweisen auf
Lehre und Rechtsprechung).

    b) Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung
des rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der
Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung
(BGE 115 V 305 Erw. 2h mit Hinweisen). Es kommt mit anderen Worten
nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Ausgang der
materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die Behörde zu
einer Änderung ihres Entscheides veranlasst wird oder nicht.

    Laut ständiger Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts kann eine -
nicht besonders schwerwiegende (BGE 116 V 32 Erw. 3, 115 V 305 Erw. 2h)
- Verletzung des rechtlichen Gehörs dann als geheilt gelten, wenn der
Betroffene die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu
äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen
kann (BGE 103 V 133 Erw. 1 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 114 Ia 18
Erw. 2c mit weiteren Hinweisen sowie BGE 107 V 249 Erw. 3 und 104 V
155 oben; ZAK 1986 S. 62 Erw. 2). Die Heilung eines - allfälligen -
Mangels soll aber die Ausnahme bleiben (BGE 116 V 32 Erw. 3, 108 V 137
Erw. 3c/aa mit Hinweisen). Ein Anspruch auf einen materiellen Entscheid
der Rechtsmittelinstanz besteht im Falle einer Gehörsverletzung nicht
(unveröffentlichtes Urteil B. vom 30. Januar 1990).

Erwägung 2

    2.- a) Die Invalidenversicherungs-Kommission hat den Präsidialbeschluss
vom 22. März 1988 korrekterweise dem Beschwerdegegner zur Stellungnahme
unterbreitet. In der Folge hat sie jedoch das innert der angesetzten
Vernehmlassungsfrist eingegangene Schreiben seines Vertreters, worin
dieser um Aktenedition ersuchte und klar zum Ausdruck brachte, dass er
sich zur vorgesehenen Rentenrevision zu äussern beabsichtige, unbeachtet
gelassen und den Beschluss an die Ausgleichskasse weitergeleitet, worauf
diese am 26. Mai 1988 die Rentenherabsetzung verfügte. Dieses Vorgehen
der Verwaltung stellt eine Missachtung der in Art. 73bis Abs. 1 IVV
zwingend vorgeschriebenen (nicht publiziertes Urteil E. vom 6. April 1990)
Anhörungspflicht und damit eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar,
welcher Verfahrensmangel in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde denn auch
zu Recht nicht bestritten wird.

    b) Es fragt sich jedoch, ob die Ausgleichskasse bzw. die
Invalidenversicherungs-Kommission zu verpflichten ist, entsprechend der
vorinstanzlichen Anordnung dem Beschwerdegegner das rechtliche Gehör
zu gewähren, oder ob - in Heilung des begangenen Verfahrensfehlers -
das Versicherungsgericht zum materiellen Entscheid anzuhalten ist.

Erwägung 3

    3.- a) Die Vorinstanz hat den Rückweisungsentscheid im wesentlichen
damit begründet, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör ein elementares
Recht darstelle, welches die Verwaltung zu beachten habe. Beim streitigen
Rentenanspruch handle es sich sodann nicht um eine reine Rechtsfrage;
vielmehr basiere die Festsetzung des Invaliditätsgrades auf einem gewissen
Ermessen, was ebenfalls gegen eine Heilung des Verfahrensmangels spreche.

    b) Demgegenüber stellt sich die Ausgleichskasse in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde auf den Standpunkt, die Verletzung des
rechtlichen Gehörs sei im kantonalen Verfahren geheilt worden, da der
Beschwerdegegner Gelegenheit gehabt habe, die vollständigen Akten
einzusehen und sich zum Ergebnis des Revisionsverfahrens vor einer
mit voller Kognitionsbefugnis ausgestatteten Instanz zu äussern. Der
vorinstanzliche Rückweisungsentscheid widerspreche der Praxis des Eidg.
Versicherungsgerichts, wonach bei diesen Voraussetzungen eine Verletzung
des rechtlichen Gehörs als geheilt gelte.

    c) Wie die Vorinstanz zu Recht ausgeführt hat, kann es nicht der
Sinn des durch die Rechtsprechung geschaffenen Instituts der Heilung des
rechtlichen Gehörs sein, dass Verwaltungsbehörden sich über den elementaren
Grundsatz des rechtlichen Gehörs hinwegsetzen und darauf vertrauen,
dass solche Verfahrensmängel in einem vom durch den Verwaltungsakt
Betroffenen allfällig angehobenen Gerichtsverfahren dann schon behoben
würden (vgl. in diesem Sinne auch PVG 1987 Nr. 84 S. 180). Der Umstand,
dass eine solche Heilungsmöglichkeit besteht, rechtfertigt es nicht, auf
die Anhörung des Betroffenen vor Erlass einer Verfügung zu verzichten. Denn
die nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs bildet häufig nur einen
unvollkommenen Ersatz für eine unterlassene vorgängige Anhörung (BGE
105 Ia 197 Erw. 1b/cc). Abgesehen davon, dass ihm dadurch eine Instanz
verlorengehen kann, wird dem Betroffenen zugemutet, zur Verwirklichung
seiner Mitwirkungsrechte ein Rechtsmittel zu ergreifen, was nicht zuletzt
auch dem Zweck von Art. 73bis IVV, nämlich die Anzahl der Beschwerdefälle
zu reduzieren und das "Verhältnis zwischen Bürger und Staat menschlicher"
zu gestalten (ZAK 1987 S. 138), zuwiderläuft (bereits zitiertes Urteil
E. vom 6. April 1990; vgl. auch MÜLLER, aaO, Art. 4, Rz. 103).

    d) Das Eidg. Versicherungsgericht hat im unveröffentlichten Urteil
M. vom 6. April 1990 festgehalten, dass von der Rückweisung der Sache
zur Gewährung des rechtlichen Gehörs an die Verwaltung nach dem Grundsatz
der Verfahrensökonomie dann abzusehen ist, wenn dieses Vorgehen zu einem
formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde,
die mit dem (gleichlaufenden und der Anhörung gleichgestellten) Interesse
des Versicherten an einer möglichst beförderlichen Beurteilung seines
Anspruchs nicht zu vereinbaren sind (vgl. COTTIER, aaO, S. 12). Diese
Situation ist hier nicht gegeben. Gemäss dem in der vorliegenden Sache
ergangenen Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 23. Februar
1989 hätte die Verwaltung die revisionsweise Herabsetzung auf eine
Viertelsrente nicht verfügen dürfen, ohne vorher die Voraussetzungen
für einen allfälligen Härtefall zu prüfen. Dies wird somit nachzuholen
sein. Entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen
Auffassung widerspräche es daher der Verfahrensökonomie, wenn das kantonale
Versicherungsgericht vorerst materiell über die angefochtene Verfügung
befinden und - entsprechend dem erwähnten Urteil vom 23. Februar 1989 -
die Sache erneut an die Verwaltung zurückweisen würde.

    Nach dem Gesagten ist der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid vom
22. Juni 1989 zu bestätigen. Die Invalidenversicherungs-Kommission hat
dem Beschwerdegegner entsprechend der vorinstanzlichen Anordnung das
rechtliche Gehör zu gewähren, und die Ausgleichskasse wird anschliessend
neu zu verfügen haben.