Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 V 16



116 V 16

4. Auszug aus dem Urteil vom 11. Januar 1990 i.S. G. gegen Ausgleichskasse
des Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 21 IVG, Ziff. 7.02* HVI-Anhang. Voraussetzungen für die Abgabe von
Kontaktlinsen bei hochgradigem irregulärem Astigmatismus und Keratokonus:
Korrektur der Verwaltungspraxis.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach Rz. 7.01* HVI-Anhang besteht der Anspruch auf Abgabe
von Brillen, sofern diese eine wesentliche Ergänzung medizinischer
Eingliederungsmassnahmen (im Sinne von Art. 21 Abs. 1 Satz 2 IVG;
BGE 105 V 148 Erw. 1 mit Hinweisen) darstellen. Irgendeine weitere,
von medizinischen Eingliederungsmassnahmen (Art. 12 ff. IVG) losgelöste
Anspruchsberechtigung auf Abgabe von Brillen besteht nicht.

    Gemäss Rz. 7.02* HVI-Anhang hat der Versicherte Anspruch auf Abgabe
von Kontaktlinsen,

    - sofern sie notwendigerweise anstelle von Brillen treten und eine
wesentliche Ergänzung medizinischer Eingliederungsmassnahmen darstellen

    - sowie bei "hochgradigem irregulärem Astigmatismus und Keratokonus".

    Unter irregulärem Astigmatismus versteht man eine an verschiedenen
Stellen der Hornhautoberfläche unterschiedliche Wölbung, die so beschaffen
ist, dass die Krümmung - anders als beim regulären Astigmatismus - auch
im gleichen Meridian nicht gleichmässig ist, mit der Wirkung, dass die
Lichtstrahlen nicht vereinigt werden können (PSCHYREMBEL, Klinisches
Wörterbuch, 255. Aufl., S. 141). Der Keratokonus ist eine kegelförmige
Vorbauchung der Hornhaut (PSCHYREMBEL, aaO, S. 848).

    b) Nach Massgabe der Grundsätze über die gerichtliche Überprüfbarkeit
unselbständiger Rechtsverordnungen (vgl. BGE 112 V 178 Erw. 4c
mit Hinweisen) hat das Eidg. Versicherungsgericht die Beschränkung
der selbständigen (d.h. nicht im Zusammenhang mit medizinischen
Eingliederungsmassnahmen stehenden (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 IVG))
Kontaktlinsenabgabe auf den Tatbestand des hochgradigen irregulären
Astigmatismus und Keratokonus gemäss Rz. 7.02* HVI-Anhang, zweiter Absatz,
in ständiger Rechtsprechung als rechtmässig bezeichnet (ZAK 1988 S. 472
Erw. 2a mit Hinweisen und S. 474 Erw. 4). Obgleich dem Grundsatzgutachten
und den weiteren Darlegungen des Prof. B. zu entnehmen ist, dass
aus ärztlicher Sicht eine Kontaktlinsenversorgung auch bei anderen
refraktionsbedingten Augenleiden, z.B. bei erheblicher Anisometropie
oder bei hochgradiger Myopie, indiziert sein kann, besteht vorliegend
kein Anlass, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Denn im vorliegenden
Fall steht nicht die Beschränkung auf das anspruchsbegründende Leiden,
wie sie Rz. 7.02* HVI-Anhang, zweiter Absatz, vornimmt, zur Diskussion.

    c) Es geht hier vielmehr um die Frage, welche medizinischen
Gegebenheiten erfüllt sein müssen, damit von einem hochgradigen
irregulären Astigmatismus und Keratokonus im Sinne von Rz. 7.02* HVI-Anhang
gesprochen werden kann. Dabei fällt zunächst eine sprachliche Differenz
zwischen der deutschen Fassung von Rz. 7.02* HVI-Anhang einerseits, dem
französischen und italienischen Text dieser Bestimmung anderseits auf,
wo es heisst: "... dans les cas de grave kératocône ou d'astigmatisme
irrégulier très prononcé" und "... nei casi di grave cheratocono o
di astigmatismo irregolare molto pronunciato". Rz. 7.02.1* der hier
anwendbaren Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) über
die Abgabe von Hilfsmitteln in der Invalidenversicherung (in der Fassung
vom 1. Januar 1984) spricht von "hochgradigem irregulärem Astigmatismus
und schwerem Keratokonus", die ab 1. Januar 1989 gültige Weisung in
Rz. 7.02.10* dagegen von "hochgradig irregulärem Astigmatismus ..., wie
er z.B. beim Keratokonus vorkommt". In dem erwähnten, in ZAK 1988 S. 470
publizierten Fall hatte das BSV in einer Stellungnahme vom 14. Januar
1988 ausgeführt: "Den Keratokonus hätte man dabei nicht separat in der
Ziff. 7.02* HVI-Anhang auf führen müssen, da er mit einem hochgradigen
irregulären Astigmatismus einhergeht." Diese Auffassung ist im Lichte
des eingeholten Grundsatzgutachtens in dem Sinne zu präzisieren, dass
einerseits bei Keratokonus zwar wohl immer auch ein Astigmatismus vorliegt,
der indessen anfänglich durchaus noch schwach oder regelmässig sein
kann, und dass anderseits ein regulärer oder irregulärer Astigmatismus
vorhanden sein kann, ohne dass es bereits zu einer Ausbildung eines
Keratokonus gekommen sein muss. Die erwähnten verordnungsmässigen
Grundlagen - und zwar in allen drei sprachlichen Fassungen - verlangen
jedoch ausdrücklich einen hochgradigen irregulären Astigmatismus. Daraus
ist zu schliessen, dass es für die Annahme eines anspruchsbegründenden
Leidens neben den irregulär-astigmatischen Veränderungen auch einer von
den Verordnungstexten ebenfalls erwähnten Ausbildung eines Keratokonus
am betreffenden Auge bedarf.

Erwägung 3

    3.- a) Im vorliegenden Fall ist die Rechtsfrage zu beurteilen,
ob der - als solcher unbestrittene - diagnostizierte Befund am rechten
Auge des Beschwerdeführers als hochgradiger irregulärer Astigmatismus
und Keratokonus im Sinne von Rz. 7.02* HVI-Anhang zu qualifizieren ist.
Invalidenversicherungs-Kommission und Vorinstanz haben dies aufgrund der
geltenden Verwaltungspraxis verneint, welche voraussetzt, dass mit der
Kontaktlinse ein um mindestens 2/10 besserer Visus erreicht wird als
mit der optimal korrigierenden Brille (Rz. 7.02.1* und Rz. 7.02.10*
der erwähnten Fassungen der Wegleitung). Dazu bemerkt das BSV in
seiner Vernehmlassung vom 26. April 1988, dass sich der irreguläre
Astigmatismus nur durch Kontaktlinsen korrigieren lasse. Der Richtwert
von 2/10 zur Beurteilung, ob der irreguläre Astigmatismus hochgradig sei,
habe sich als praktikabel erwiesen und bewährt. Es beruft sich ferner
auf die übereinstimmende Meinung der Schweizerischen Ophthalmologischen
Gesellschaft, welche dem Bundesamt am 20. September 1988 mitgeteilt hatte,
ihr Vorstand empfehle, "die Kontaktlinsen wie bisher mit der 2/10-Regelung
zu übernehmen".

    b) Der eidgenössisch diplomierte Augenoptikermeister P., der im
Jahre 1987 beim Beschwerdeführer eine Kontaktlinse angepasst hatte,
verneint die Frage, ob der Sehfehler auch mit einer Brille korrigiert
werden könnte. Infolge der starken perspektivischen Veränderungen
durch das korrigierende Brillenglas rechts und der Tatsache, dass
links keine Korrektur notwendig sei, sei gleichzeitiges beidäugiges
Sehen nicht möglich. Eine gebrauchstüchtige Brillenkorrektur sei im
Falle des Beschwerdeführers nicht nur unzumutbar, sondern unmöglich.
Binokulares Sehen lasse sich nur durch eine Kontaktlinse erreichen
(Schreiben vom 4. März 1988).

    Dr. L. bemerkt in seinem Arztbericht vom 30. Oktober 1987: Die
Brillenkorrektur eines Keratokonus erfordere in der Regel relativ starke
astigmatische Gläser. Trotz des damit erreichten, verhältnismässig guten
Visus sei das Netzhautbild aber sogar unter günstigsten Bedingungen so
stark verzerrt, dass eine solche Brille subjektiv häufig nichts nütze,
dies vor allem dann, wenn das eine Auge noch über eine gute Sehleistung
verfüge und die Brille dann zusätzlich noch zu einer Minderung der
Binokularfunktion führe. Deshalb müssten nicht nur die funktionellen,
sondern auch die morphologischen Verhältnisse berücksichtigt werden. Diese
liessen sich objektivieren und würden eine weit bessere Einstufung des
Keratokonus erlauben als die Funktion allein.

    c) Diese Ausführungen der Fachleute erwecken Zweifel, ob das
alleinige Abstellen auf das Ausmass der Visusverbesserung gemäss
Verwaltungspraxis sachgerecht sei. Verwaltungsweisungen sind für den
Sozialversicherungsrichter nicht verbindlich. Er soll sie bei seiner
Entscheidung mit berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste
und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen
zulassen (BGE 110 V 268 Erw. 1a mit Hinweisen). Er weicht anderseits
insoweit von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren gesetzlichen
Bestimmungen nicht vereinbar sind (BGE 112 V 233 Erw. 2a mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- In seiner Expertise vom 29. Dezember 1988 legt Prof. B.
mit einlässlicher Begründung dar, dass es nicht sachgerecht sei,
den leistungsbegründenden hochgradigen irregulären Astigmatismus und
Keratokonus ausschliesslich durch ein funktionelles Kriterium von
ähnlichen, nicht leistungsbegründenden Augenleiden abzugrenzen. Das
alleinige Kriterium der Visusverbesserung durch die Kontaktlinse um 2/10
im Vergleich zur optimal korrigierenden Brille sei aus augenärztlicher
Sicht unhaltbar, weil es den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht
werde. Vielmehr müssten noch andere als bloss die funktionalen,
insbesondere auch die morphologischen Gegebenheiten berücksichtigt
werden; denn zwischen Form und Struktur des Auges einerseits und dessen
Funktion anderseits bestehe eine untrennbare Einheit. Aufgrund der
weiteren Darlegungen und Formulierungsvorschläge des Experten sind die
folgenden drei Fallgruppen zu unterscheiden, in denen der für die Abgabe
von Kontaktlinsen nach Rz. 7.02* HVI-Anhang verlangte Tatbestand eines
hochgradigen irregulären Astigmatismus und Keratokonus zu bejahen ist:

    "Anspruch auf Abgabe von Kontaktlinsen besteht bei hochgradigem
   irregulärem Astigmatismus und Keratokonus.

    Dieser anspruchsbegründende Tatbestand ist erfüllt, wenn

    - entweder mit der Kontaktlinse ein um mindestens 2/10 besserer Visus
   erreicht wird als mit der optimal korrigierenden Brille

    - oder die Kontaktlinse die einzig mögliche optische Korrektur
darstellt
   zur Entwicklung von mono- und binokularem Sehen oder zur
   Aufrechterhaltung unentbehrlichen guten Binokularsehens

    - oder wenn die Versorgung mit der
   optimal korrigierenden Brille aus anderen medizinischen Gründen
   ausscheidet. Der Augenarzt hat die Kontraindikation der Brille zu
   begründen.

    In jedem Fall muss, medizinisch-diagnostisch, ein irregulärer

    Astigmatismus und ein Keratokonus ausgewiesen sein."