Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 V 12



116 V 12

3. Auszug aus dem Urteil vom 23. Januar 1990 i.S. Ostschweizerische
AHV-Ausgleichskasse für Handel und Industrie gegen E. und Rekurskommission
des Kantons Thurgau für die AHV Regeste

    Art. 47 Abs. 1 AHVG, Art. 79 Abs. 1 AHVV: Rückerstattung unrechtmässig
bezogener Leistungen. Umfang des Erlasses, wenn die Rückerstattungssumme
durch das die massgebliche Einkommensgrenze übersteigende anrechenbare
Einkommen nur teilweise gedeckt ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 47 Abs. 1 AHVG sind unrechtmässig bezogene Renten
und Hilflosenentschädigungen zurückzuerstatten. Bei gutem Glauben und
gleichzeitigem Vorliegen einer grossen Härte kann von der Rückforderung
abgesehen werden. Eine grosse Härte im Sinne der Gesetzesbestimmung liegt
nach der Rechtsprechung vor, wenn zwei Drittel des anrechenbaren Einkommens
(und der allenfalls hinzuzurechnende Vermögensteil) die nach Art. 42 Abs. 1
AHVG anwendbare und um 50% erhöhte Einkommensgrenze nicht erreichen. Für
die Ermittlung des anrechenbaren Einkommens gelten die Regeln der
Art. 56 ff. AHVV (BGE 111 V 132 Erw. 3b mit Hinweisen). Massgebend
sind die wirtschaftlichen Verhältnisse, wie sie im Zeitpunkt vorliegen,
da der Rückerstattungspflichtige bezahlen sollte (BGE 107 V 80 Erw. 3b
mit Hinweisen).

Erwägung 3

    3.- a) Die Ausgleichskasse hat aufgrund des Umstandes, dass die
massgebende Einkommensgrenze um Fr. 5'532.-- überschritten wird, das
Vorliegen einer grossen Härte verneint und das Erlassgesuch bezüglich
des gesamten Rückforderungsbetrages von Fr. 24'228.-- abgelehnt. Es
fragt sich, ob dieses Vorgehen der gesetzlichen Erlassregelung
und dem Grundgedanken der hiezu ergangenen Rechtsprechung, dem
gutgläubigen Rückerstattungsschuldner ein Mindesteinkommen zu sichern
(vgl. dazu BGE 107 V 81 ff. Erw. 4 und 5), entspricht. Denn die von der
Ausgleichskasse angewandte Lösung hat zur Folge, dass bei jeder noch so
geringen Überschreitung der massgebenden Einkommensgrenze der Härtefall
zu verneinen und die gesamte Rückforderungssumme, unter Umständen in
einem das effektive Einkommen übersteigenden Betrag, zurückzuzahlen ist.

    b) Gemäss Art. 79 Abs. 1 AHVV ist dem Rückerstattungspflichtigen,
der selbst bzw. dessen gesetzlicher Vertreter in gutem Glauben annehmen
konnte, die Rente zu Recht bezogen zu haben, die Rückerstattung ganz oder
teilweise zu erlassen, wenn sie für den Pflichtigen angesichts seiner
Verhältnisse eine grosse Härte bedeuten würde. Diese Regelung stellt eine
zulässige Verdeutlichung von Art. 47 Abs. 1 AHVG dar, indem sie einerseits
die gesetzliche "Kann"-Vorschrift präzisiert, und anderseits nebst dem
vollständigen auch den teilweisen Erlass der Rückerstattungsforderung
vorsieht (vgl. hiezu MÜLLER, Die Rückerstattung rechtswidriger Leistungen
als Grundsatz des öffentlichen Rechts, Diss. Basel 1978, S. 92). Das
Institut des teilweisen Erlasses einer Rückerstattungsschuld ermöglicht
es, dem gesetzlichen Grundsatz, dass unrechtmässig bezogene Leistungen
in dem Umfang zurückzuerstatten sind, als es dem Pflichtigen im Hinblick
auf seine finanziellen Verhältnisse möglich und zumutbar ist, gerecht zu
werden. Es steht ausser Frage, dass die Rückforderung nach Massgabe des die
entsprechende Einkommensgrenze übersteigenden Betrages zu begleichen ist;
indessen liegt ein Härtefall insoweit vor, als die Rückforderungssumme
das massgebliche Einkommen des Rückerstattungspflichtigen tangiert. In
diesem Umfang sind die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der
Rückerstattungsforderung erfüllt.

    c) In BGE 107 V 80 Erw. 3a hatte das Eidg. Versicherungsgericht den
Begriff der grossen Härte wie folgt erläutert: "Das (Vorliegen einer
grossen Härte) bedeutet mit anderen Worten, dass die Rückforderung
unrechtmässig bezogener Renten durch einmaligen oder wiederholten Abzug
(bzw. Verrechnung) nur in dem Ausmass realisiert werden darf, dass
die erwähnten gesetzlichen Einkommensgrenzen nicht unterschritten
werden." Aus dieser Formulierung hat WIDMER (Die Rückerstattung
unrechtmässig bezogener Leistungen in den Sozialversicherungen,
Diss. Basel 1984, S. 171 f.) abgeleitet, die Rückerstattungsforderung
sei in dem Umfang - "indirekt" - teilweise zu erlassen, als der
geschuldete Rückerstattungsbetrag durch wiederholten Abzug im Umfang
des die massgebliche Grenze überschreitenden Einkommens nach Ablauf der
gesetzlichen Verjährungs- bzw. Verwirkungsfristen nicht gedeckt sei.

    Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Wird einem
gutgläubigen Rückerstattungspflichtigen infolge Vorliegens einer
grossen Härte die Rückforderung ganz oder teilweise erlassen, ist die
Rückerstattungsschuld im Umfang des Erlasses endgültig erloschen. Es
besteht keine Rechtsgrundlage, um in einem späteren Zeitpunkt auf die
Forderung zurückzukommen und die Nachzahlung des noch ausstehenden
Betrages zu verlangen. Es widerspräche dem Prinzip der rechtsgleichen
Behandlung, im Falle, da die Einkommensgrenze durch einen Teil der
Rückforderungssumme überschritten wird, anders zu verfahren als
bei Vorliegen der Voraussetzungen für den vollständigen Erlass der
Rückerstattungsforderung. Wird der Rückerstattungsbetrag demnach im
für die Prüfung des Härtefalles massgeblichen Zeitpunkt durch das die
massgebliche Einkommensgrenze überschreitende anrechenbare Einkommen nur
zu einem Teil gedeckt, so ist die Rückforderung im darüber hinausgehenden
Umfang zu erlassen.

    Sodann ist darauf hinzuweisen, dass der aus BGE 107 V 80 zitierte Satz
die Vollstreckung der Rückerstattungsforderung betrifft und nicht die Frage
des (teilweisen) Erlasses. Die "Realisierung" einer Rückforderung kommt
erst dann und nur in dem Umfang zum Tragen, als die Rückforderung nicht
erlassen worden ist. Nach der von WIDMER (aaO, S. 171 f.) vorgeschlagenen
Lösung ginge der innert der dreijährigen Vollstreckungsfrist gemäss
Art. 16 Abs. 2 AHVG (BGE 105 V 74; ZAK 1982 S. 117) nicht einforderbare
Restbetrag der rechtskräftig angeordneten Rückerstattung durch
Verwirkung unter. Dieselbe Rechtsfolge tritt bei Bösgläubigkeit
des Leistungsempfängers ein sowie im Falle, da kein Erlassgesuch
gestellt wird. In der Tatsache, dass die durch Zeitablauf erloschene
Restforderung bei Gutgläubigkeit des Rückerstattungsschuldners höher
ausfällt als im Falle der Bösgläubigkeit, wo nur das betreibungsrechtliche
Existenzminimum zu berücksichtigen ist, kann kein Teilerlass erblickt
werden. Schliesslich ist festzustellen, dass diese Lösung auch aus
Gründen der Praktikabilität abzulehnen ist. Sie würde bedingen, dass die
Verwaltung den die massgebende Einkommensgrenze übersteigenden Betrag
zur Festsetzung der Abschlagszahlungen jedes Jahr neu zu ermitteln hätte.

    d) Aufgrund dieser Überlegungen ist der teilweise Erlass einer
Rückerstattungsforderung in dem Umfange zu gewähren, als die Rückforderung
im für die Prüfung des Härtefalles massgebenden Zeitpunkt durch das
die massgebliche Einkommensgrenze übersteigende Einkommen nicht gedeckt
ist. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass die Rückerstattungsforderung
von gesamthaft Fr. 24'228.-- im Fr. 5'532.-- übersteigenden Betrag, somit
im Umfang von Fr. 18'696.-- zu erlassen ist. Die Summe von Fr. 5'532.--
hat der Beschwerdegegner zurückzuerstatten...