Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IV 88



116 IV 88

18. Urteil der Anklagekammer vom 19. Februar 1990 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Aargau gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Regeste

    Art. 351 StGB; aussergewöhnliche Untersuchungskosten.

    1. Die Anklagekammer entscheidet auch Streitigkeiten über die Tragung
der bis zur Bestimmung des Gerichtsstandes entstandenen Untersuchungskosten
(E. 1).

    2. In analoger Anwendung von Art. 354 Abs. 1 StGB hat der schliesslich
als zuständig erklärte Kanton aussergewöhnliche Untersuchungskosten dem
bisher mit den Ermittlungen befassten Kanton zu ersetzen (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Gegen J. L., G. und F. L. wurde im Kanton Aargau seit Juni 1985 ein
Strafverfahren wegen Betruges, Veruntreuung, ungetreuer Geschäftsführung
und Urkundenfälschung geführt. Es handelte sich um fast ausschliesslich
im Kanton Aargau, mehrheitlich in den Jahren 1984 und 1985, begangene
Vermögensdelikte.

    B.- Am 1. August 1989 erstattete die Eidgenössische Bankenkommission,
nachdem sie durch die Behörden des Kantons Zürich, an die sie
sich zunächst gewandt hatte, Kenntnis von dem im Kanton Aargau gegen
J. L. geführten Verfahren hatte, wegen des Verdachts von Vermögensdelikten
der Verantwortlichen der A. F. AG, Zürich, und der K. Establishment,
Balzers/FL, gegen diese Anzeige; zuvor hatte sie die Geschäftstätigkeit
der beiden in Frage stehenden Gesellschaften durch die von ihr als
Revisionsstelle für Banken anerkannte K. AG, Zürich, durchleuchten lassen,
die sie als bankengesetzliche Revisionsstelle auch mit der Liquidation der
beiden dem Bankengesetz unterstehenden Gesellschaften beauftragte. Zu den
Verantwortlichen dieser Finanzgesellschaften, deren Geschäfte in Zürich
geführt werden, gehört J. L. Unklarheit besteht über den Verbleib der
Anlagegelder von über tausend Kunden im Betrag von gegen 140 Millionen
Dollar. Es besteht der Verdacht der Veruntreuung bzw. des Betruges.

    Noch am 1. August 1989 setzte der Präsident der Beschwerdekammer
des Obergerichts des Kantons Aargau auf Antrag der Staatsanwaltschaft
angesichts der finanziellen Tragweite des Falles einen kantonalen
Untersuchungsrichter ein.

    Am 2. August 1989 ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
die Behörden des Kantons Zürich, den durch die Bankenkommission zur Anzeige
gebrachten Handlungskomplex zu verfolgen, was diese indessen ablehnte.

    Der kantonale Untersuchungsrichter beauftragte die bereits in diesem
Zusammenhang tätig gewordene K. AG am 6. September 1989 zur Weiterführung
ihres Mandates bzw. damit, den Finanzfluss bei den beiden Gesellschaften
zu ermitteln.

    C.- Mit Entscheid vom 28. September 1989 erklärte die Anklagekammer
des Bundesgerichts auf Gesuch der Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
vom 11. September 1989 für das durch die Eidgenössische Bankenkommission
am 1. August 1989 ausgelöste neue Verfahren gegen J. L. und K. die Behörden
des Kantons Zürich als zuständig.

    D.- Mit Gesuch vom 23. Januar 1990 beantragt die Staatsanwaltschaft
des Kantons Aargau, die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Zürich seien
auch zu verpflichten, die bis Mitte Oktober 1989, als das Verfahren auf
den Kanton Zürich überging, entstandenen Kosten der K. AG im Betrage von
Fr. 85'105.25 zu übernehmen.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, das Gesuch
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Ist die Gerichtsstandsfrage interkantonal festgelegt, sei dies
durch Einigung zwischen den Kantonen, sei es - wie im vorliegenden Fall
- durch Entscheid der Anklagekammer, so fragt sich, wer die bisher in
den verschiedenen Kantonen entstandenen Kosten tragen soll. Können sich
die beteiligten Kantone in dieser Frage nicht einigen, so entscheidet
die Anklagekammer des Bundesgerichts auch die mit der Festlegung des
Gerichtsstandes in engem sachlichen Zusammenhang stehenden Fragen, wie
hier die Frage der Tragung der bisher entstandenen Untersuchungskosten.

    b) Die Gesuchsgegnerin vertritt die Auffassung, die seit dem Auftrag
des kantonalen Untersuchungsamtes Aarau entstandenen Kosten der K. AG seien
durch die Gesuchstellerin zu tragen, denn das Untersuchungsrichteramt
habe den entsprechenden Auftrag "im Rahmen des eigenen Verfahrens"
erteilt. Dabei spiele es keine Rolle, dass ihre Behörden später das
Verfahren hätten übernehmen müssen, denn jeder Kanton solle speziell hohe
Kosten, die "im Rahmen der in eigener Verantwortung und Zuständigkeit"
getroffenen Anordnungen erwachsen seien, selber tragen. Da die K. AG
nicht im Rahmen eines eigentlichen Rechtshilfeverfahrens tätig wurde,
sei auch Art. 354 StGB, auf welchen sich die Gesuchstellerin berufe,
hier nicht anwendbar.

Erwägung 2

    2.- a) Der Gesuchsgegnerin ist darin zuzustimmen, dass die
bankengesetzliche Revisionsstelle nicht im Rahmen eines eigentlichen
Rechtshilfeverfahrens tätig wurde. Dies steht indessen einer sinngemässen
Anwendung der Bestimmungen über die Rechtshilfe auf den vorliegenden Fall
nicht entgegen.

    Die Anklagekammer hat in BGE 69 IV 234 angedeutet, es handle sich bei
Untersuchungshandlungen eines Kantons gegen einen Delinquenten, der die zu
verfolgende strafbare Handlung im Hoheitsgebiet des betreffenden Kantons
begangen hat, auch dann nicht um Rechtshilfe, wenn die Zuständigkeit
gestützt auf die Gerichtsstandsbestimmungen nachträglich auf einen anderen
Kanton übergehe; die Frage wurde aber offen gelassen. Der vorliegende
Fall liegt anders: Die dem Angeklagten vorgeworfenen strafbaren Handlungen
wurden am Geschäftssitz der beiden Finanzgesellschaften in Zürich begangen,
wo der Angeklagte auch Wohnsitz hat; die den Kapitalanlagen zu Grunde
liegenden Verträge wurden offenbar ebenfalls in Zürich unterzeichnet; auch
die Bareinlagen wurden in Zürich entgegengenommen; schliesslich wurden die
den Anlegern zugestellten Kontenauszüge ebenfalls in Zürich ausgestellt;
wie die Anklagekammer im Gerichtsstandsverfahren feststellte, schienen die
neuen strafbaren Handlungen keinerlei Bezug zum Kanton Aargau zu haben,
weshalb als Gerichtsstand denn auch Zürich bestimmt wurde; andernfalls
hätten nämlich die meisten Ermittlungen auf dem Rechtshilfeweg erfolgen
müssen, was die Anklagekammer als unzweckmässig erachtete (Urteil vom
28. September 1989, E. 2). Wenn die Behörden des Kantons Aargau daher
im vorliegenden Fall Untersuchungshandlungen vornahmen, so hatten diese
Vorgänge zum Gegenstand, die sich in ihrer überwiegenden Mehrzahl in einem
anderen Kanton ereigneten. Es ist naheliegend, in solchen Fällen bezüglich
der dabei entstehenden Kosten mangels entsprechender ausdrücklicher
Erwähnung bei den Gerichtsstandsbestimmungen die für die Rechtshilfe
getroffene Regelung (d.h. Art. 354 Abs. 1 StGB) analog anzuwenden (für
eine analoge Anwendung - allerdings bezüglich Art. 354 Abs. 3 StGB -
ERHARD SCHWERI, Interkantonale Gerichtsstandsbestimmung in Strafsachen,
Bern 1987, N 514).

    Eine solche Lösung drängt sich schon deshalb auf, weil jeder Kanton -
solange die Frage der Zuständigkeit offen oder streitig ist - grundsätzlich
verpflichtet ist, die sein Gebiet betreffenden Tatsachen mindestens so weit
zu erforschen, als es der Entscheid über den Gerichtsstand erfordert; diese
Untersuchungen können auch ein Gutachten einschliessen (vgl. BGE 107 IV
80). Im Interesse der raschen Abwicklung des Verfahrens hat darüber hinaus
ein Kanton, bei welchem - zufolge der Weigerung des zunächst angegangenen
Kantons - die Strafsache durch Anzeige anhängig gemacht wurde, schon
während des sich abzeichnenden Gerichtsstandskonflikts die Ermittlungen
aufzunehmen bzw. fortzusetzen und im Zuge derselben die seines Erachtens
erforderlichen und geeigneten Massnahmen anzuordnen, ohne den Ausgang
des Gerichtsstandskonflikts abzuwarten. Es gilt zu verhindern, dass
jener Kanton, welcher untätig bleibt und seine Zuständigkeit hartnäckig
in Abrede stellt, sich erfolgreich einer drohenden Verfahrensübernahme
bzw. der Übernahme der dem anderen Kanton inzwischen entstandenen
besonderen Kosten erwehren kann; andernfalls würde jener Kanton bestraft,
der sich unter Umständen wiederholt um eine einverständliche Abtretung
des Verfahrens bemüht, ohne gleichzeitig - durch Unterlassen der gebotenen
Untersuchungshandlungen - das Verfahren zu verschleppen (unveröffentlichter
Entscheid der Anklagekammer vom 18. Mai 1989 i.S. Staatsanwaltschaft des
Kantons Thurgau gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen und
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich). Wichtige, die Untersuchung
vorantreibende Anordnungen (Zwangsmassnahmen, Aufträge an Sachverständige,
Rechtshilfegesuche usw.) sollen nicht aus Angst davor unterbleiben, ihre
Vornahme könnte die Frage der Zuständigkeit präjudizieren (FELIX BÄNZIGER,
Wie Gerichtsstandsstreitigkeiten die Wahrheitsfindung behindern, ZStrR 105,
bes. S. 341).

    b) Die analoge Anwendung von Art. 354 Abs. 1 StGB auf Kosten,
die bis zur Bestimmung des streitigen Gerichtsstandes aufgelaufen
sind, führt dazu, dass die üblicherweise mit jeder Strafverfolgung
verbundenen Kosten vorläufig durch den die Ermittlungen führenden Kanton
zu tragen sind. Wenn dann im weiteren Verfahren einer Partei Kosten
auferlegt werden, so sind ihr analog zu Art. 354 Abs. 3 StGB auch
die bis zur Gerichtsstandsbestimmung entstandenen Kosten im gleichen
Ausmass aufzuerlegen (STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch,
Kurzkommentar, Art. 354, N 4; SCHWERI, aaO, N 514; MAX WAIBLINGER, Die
Bestimmung des Gerichtsstandes bei Mehrheit von strafbaren Handlungen
oder von Beteiligten, ZStrR 57, 104).

    c) Sobald Art oder Umfang der zu untersuchenden strafbaren Handlungen
indessen den Beizug von Sachverständigen (insbesondere Bücherexperten
oder Revisionsstellen) geboten erscheinen lassen (was vor allem in den
oft komplizierten Wirtschaftsstrafsachen nicht selten der Fall sein wird)
oder sonst aussergewöhnliche Kosten zur Folge haben (etwa Ermittlungen
im Ausland), so hat der schliesslich als zuständig erklärte Kanton -
da diese Kosten grundsätzlich nach Rechnungstellung zu begleichen sind -
diese dem bisher mit den Ermittlungen befassten Kanton zu ersetzen.

    d) Im vorliegenden Fall beauftragte bereits die Eidg. Bankenkommission
die K. AG als bankengesetzlich anerkannte Revisionsgesellschaft mit
der Liquidation sowie bis zum Inkrafttreten der betreffenden Verfügung
mit der Aufnahme eines Vermögensnachweises sowie der Überwachung der
Geschäftstätigkeit der beiden in Frage stehenden Finanzgesellschaften. Dies
war dem Aargauer Untersuchungsrichter bekannt, als er der somit bereits
mit der Sache vertrauten K. AG den Auftrag erteilte, die Herkunft sowie
die Verwendung der durch die Kunden angelegten Gelder zu untersuchen; eine
Interessenkollision zwischen diesem Auftrag und dem bereits bestehenden
zur Liquidation der Gesellschaften erachtete er als nicht gegeben;
zur Begründung führte er Zweckmässigkeits- und Kostengründe an. Die
Gesuchsgegnerin macht weder geltend, die Anordnung dieses Gutachtens sei
teilweise oder gänzlich überflüssig, noch sie hätte dieses mindestens zu
einem viel niedrigeren Preis erstellen lassen können (vgl. dazu WAIBLINGER,
aaO, S. 104). Sie bestreitet denn auch nicht, die durch die Gutachterin
geleisteten Vorarbeiten übernommen und weiterverwendet zu haben.
Die kantonale Abteilung für Wirtschaftsdelikte der Bezirksanwaltschaft
Zürich teilte der K. AG am 18. Oktober 1989 vielmehr mit, dass sie mit
der Weiterführung des erteilten Auftrages einverstanden sei.

    Dies rechtfertigt, die durch den - mindestens vertretbaren - Beizug der
K. AG der Gesuchstellerin entstandenen ausserordentlichen Kosten dem Kanton
Zürich aufzuerlegen, der sie zunächst zu begleichen hat. Dass auch diese
Kosten bei einer allfälligen Kostenauflage an einen Beschuldigten oder
Verdächtigen diesem überbunden werden können, versteht sich von selbst.

    e) Im übrigen sei aufgrund der Tatsache, dass die Gesuchstellerin in
dieser Sache offenbar eine erhebliche Summe zur Sicherung von Bussen sowie
Verfahrens- und Vollzugskosten beschlagnahmte, darauf hingewiesen, dass
der Staat berechtigt ist, sich aus den beschlagnahmten Vermögenswerten für
diese Kosten vorweg zu befriedigen: Das Bundesgericht hat in BGE 115 III
1 nämlich diese bereits von MAX WAIBLINGER (aaO, S. 104 f.) aufgeworfene
"hübsche Frage" dahingehend beantwortet.

Entscheid:

              Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Das Gesuch wird gutgeheissen und es wird festgestellt, dass die
Behörden des Kantons Zürich verpflichtet sind, die Honorarrechnung der
K. AG, Zürich, im Betrage von Fr. 85'105.25 zur Bezahlung zu übernehmen.