Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IV 44



116 IV 44

9. Urteil des Kassationshofes vom 21. Februar 1990 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich gegen D. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 238 Abs. 2, Art. 239 Ziff. 2 StGB.

    1. Wenn die fahrlässige Gefährdung des Eisenbahnverkehrs unerheblich
und daher nach Art. 238 Abs. 2 StGB nicht strafbar ist, kann sie als
fahrlässige Gefährdung des Eisenbahnbetriebs nach Art. 239 Ziff. 2 StGB
dennoch bestraft werden (Änderung der Rechtsprechung).

    2. Wer eine Eisenbahn während über einer Stunde am ordnungsgemässen
Betrieb hindert, stört diesen in gravierender Weise.

Sachverhalt

    A.- D. wollte am 18. November 1987, um ca. 20.20 Uhr, mit seinem
Personenwagen den unbewachten Bahnübergang auf der Höhe des Gemeindehauses
Egg in Richtung Forchstrasse überqueren. Weil ein in der Nähe der
Abschrankung zum Bahntrassee stehender Range Rover die Sicht in Richtung
Forch teilweise behinderte, fuhr D. über die Stopsignalisation hinaus,
um besser zu sehen. Dabei kam es zu einer Kollision mit der aus Richtung
Forch herannahenden Forchbahn, wobei nur geringfügiger Sachschaden
entstand. Wegen dieses Vorfalles wurde der fahrplanmässige Verkehr der
Forchbahn während rund 1 1/2 Stunden gestört, und die Beförderung der
Reisenden musste durch Taxis übernommen werden.

    Der Einzelrichter in Strafsachen am Bezirksgericht Uster büsste D. am
3. Mai 1988 wegen fahrlässiger Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit
dienen, im Sinne von Art. 239 Ziff. 2 StGB mit Fr. 300.--. Am 8. November
1988 bestätigte die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich
dieses Urteil.

    Dagegen richtet sich die vorliegende eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich mit dem
Antrag, das obergerichtliche Urteil sei wegen Verletzung von Art. 239
Ziff. 2 StGB (infolge von Art. 238 Ziff. 2 StGB) aufzuheben und die Sache
zur Bestrafung des Angeklagten wegen Verletzung einer Verkehrsregel im
Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 SVG an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zunächst ist festzuhalten, dass eine Kollision mit einer in
Bewegung befindlichen Eisenbahn immer zugleich eine Gefährdung des
Eisenbahnverkehrs i.S. von Art. 238 StGB darstellt, da in aller Regel
Sachschaden entsteht und allenfalls durch eine Schnellbremsung Passagiere
verletzt werden können. Zu Recht wurde der vorliegende Fall jedoch
nicht unter diese Bestimmung subsumiert, verlangt dessen Absatz 2 doch
bei der fahrlässigen Tatbegehung, dass Leib und Leben von Menschen oder
fremdes Eigentum erheblich gefährdet werden; in casu hatte sich die Gefahr
zwar voll ausgewirkt, aber der eingetretene Schaden war nicht erheblich
(vgl. BGE 72 IV 27).

    Das Bundesgericht entschied in BGE 72 IV 68 ff., eine fahrlässige
Gefährdung des Eisenbahnverkehrs, die unerheblich und daher nach Art. 238
Abs. 2 StGB nicht strafbar sei, dürfe nicht als fahrlässige Gefährdung
des Eisenbahnbetriebes nach Art. 239 Ziff. 2 StGB dennoch bestraft werden
(vgl. auch BGE 72 IV 30 E. 5). Zu prüfen ist, ob an dieser Rechtsauffassung
festgehalten werden kann.

Erwägung 2

    2.- a) Es ist davon auszugehen, dass Art. 239 StGB das Interesse der
Allgemeinheit daran im Auge hat, dass die entsprechende Anstalt ungestört
ihren Dienst versieht (BGE 72 IV 68), während Art. 238 StGB das Interesse
an einer die Sicherheit von Leib, Leben und Eigentum gewährleistenden
Abwicklung des technischen Vorgangs des Eisenbahnverkehrs schützt (BGE 72
IV 69; STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar,
N 12 zu Art. 238). Weiter ist festzuhalten, dass Art. 239 StGB
(Betriebsgefährdung) die allgemeine, Art. 238 StGB (Verkehrsgefährdung)
demgegenüber die besondere Norm darstellt (BGE 72 IV 69 mit Hinweis). Diese
Umstände deuten daraufhin, dass der Schuldspruch der Vorinstanz zu Recht
erfolgte.

    b) Das Bundesstrafrecht (BStR) von 1853 enthielt mit Art. 67 eine
umfassende Vorschrift über "Beschädigung und Gefährdung von Post- oder
Eisenbahnzügen" (Wortlaut in BGE 54 I 53), die sich nur auf die Sicherheit
von Personen und Waren im Eisenbahnverkehr, also auf die Verkehrsgefährdung
bezog. Nach Ansicht des Bundesrates war diese Bestimmung insbesondere
deshalb mangelhaft, weil das Transportmittel selber von der Strafnorm nicht
erfasst wurde (vgl. BBl 1900 Bd. IV S. 157 ff.). Was die im Jahre 1902
revidierte Fassung von Art. 67 BStR betrifft (wesentlicher Wortlaut in
BGE 54 I 53/54), stellte das Bundesgericht fest, der Gesetzgeber habe mit
dieser Bestimmung jedes schuldhafte Verhalten unter Strafe stellen wollen,
"welches den technischen Bahnbetrieb in irgend einer Beziehung derart in
seinem planmässigen Verlaufe stört, dass dadurch eine erhebliche Gefahr
für irgend ein Rechtsgut begründet wird" (BGE 54 I 55). Geschütztes
Rechtsgut der neuen Bestimmung war also wieder nur die Verkehrssicherheit
(vgl. auch BGE 54 I 296/297 E. 2a, 360, 361/362 E. 1, 58 I 218/219). Das
alte Recht kannte somit keine der heutigen allgemeinen Norm von Art. 239
StGB entsprechende Bestimmung.

    Der Vorentwurf des Bundesrates für ein Schweizerisches Strafgesetzbuch
enthielt demgegenüber als Art. 204 und 205 die heutige Unterteilung
der Straftatbestände in Störung des Eisenbahnverkehrs und Störung von
Betrieben, die der Allgemeinheit dienen; im Unterschied zur heutigen
Regelung sollte bei beiden Bestimmungen die fahrlässige Tatbegehung
in jedem Fall mit Gefängnis oder Busse bestraft werden (BBl 1918 IV
S. 169). Der Bundesrat führte in der Botschaft aus, abgesehen von der
Gemeingefahr sei der ungestörte Betrieb der öffentlichen Verkehrsanstalten
zu schützen, die einen unentbehrlichen Hilfsdienst im gesamten Kultur-
und Wirtschaftsleben darstellten (BBl 1918 IV S. 52).

    Die Mehrheit der nationalrätlichen Kommission stimmte dieser Regelung
im wesentlichen zu, während eine Minderheit die fahrlässige Störung des
Eisenbahnverkehrs nur in der heute geltenden qualifizierten Form, d.h. bei
einer erheblichen Gefährdung bestraft wissen wollte (Sten.Bull. 1929 N
439/440). Es ging ihr in Anlehnung an die bisherige gesetzliche Regelung
darum, dass insbesondere bei den Strassenbahnen der Wagenführer wegen der
dem Stadtverkehr immanenten Gefahren oft in eine Lage komme, "bei der
man formell von einer Fahrlässigkeit sprechen kann, wobei es sich aber
trotzdem nicht um Fahrlässigkeit handelt" (Votum Farbstein, S. 441). In
bezug auf die fahrlässige Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit
dienen, wollte die Kommissionsminderheit die Strafbarkeit aus "logischen"
(d.h. mit den vorgesehenen Strafrahmen zusammenhängenden) Gründen generell
streichen oder jedenfalls mildern, da die vorsätzliche Begehung dieses
Deliktes nur mit Gefängnis, die vorsätzliche Störung des Eisenbahnverkehrs
jedoch mit Zuchthaus bestraft werde (Votum Farbstein, S. 442). Bundesrat
Häberlin widersprach dieser Ansicht, da es unbedingt nötig sei, auch die
fahrlässige Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen, unter
Strafe zu stellen; was die Frage der Störung des Eisenbahnverkehrs betraf,
schloss er sich der Kommissionsminderheit an, da die Bestrafung jeglicher
Fahrlässigkeit bei diesem Delikt "nur Weiterungen bringen" würde und sich
die bis anhin geltende Regelung "bewährt" habe (Votum Häberlin, S. 442).

    In der Folge äusserte sich zunächst Perrin, der - nur bezüglich der
Störung des Eisenbahnverkehrs - den Minderheitsantrag befürwortete,
insbesondere um zu vermeiden, dass Bahnbeamte, die 20 oder 30
Jahre ausgezeichnete Dienste geleistet haben, wegen leichter Vergehen
("peccadilles") bestraft werden könnten (Votum Perrin, S. 442/443). Seiler
opponierte in bezug auf diese Frage nicht, wehrte sich aber gegen
den Minderheitsantrag, die fahrlässige Störung von Betrieben, die der
Allgemeinheit dienen, straflos zu lassen oder nur als Übertretung zu
ahnden, denn es gehe um "derart wichtige Dinge" und die Legaldefinition
der Fahrlässigkeit garantiere, "dass nicht jede Unvorsichtigkeit
als strafbare Fahrlässigkeit behandelt werden" könne; deshalb sei in
diesem Punkt "unter allen Umständen" am Antrag der Kommissionsmehrheit
festzuhalten (Votum Seiler, S. 443). Schliesslich schloss sich Logoz
in allen Punkten an Seiler an; insbesondere forderte er "energisch",
an der Strafbarkeit der fahrlässigen Störung von Betrieben, die der
Allgemeinheit dienen, festzuhalten, da nur dies der grossen Wichtigkeit
des auf dem Spiele stehenden allgemeinen Interesses gerecht werde (Votum
Logoz, S. 443/444). Während der Antrag der Minderheit in bezug auf die
Verkehrsgefährdung ohne weiteres angenommen wurde, obsiegte der Vorschlag
der Kommissionsmehrheit hinsichtlich der Betriebsgefährdung mit 67 zu 35
Stimmen (S. 444).

    Aus dem Gesagten erhellt, dass das Parlament zwar tatsächlich
unerhebliche Verkehrsgefährdungen namentlich im Interesse der Eisenbahner
straflos lassen wollte; dagegen war von einer derartigen Regelung
im Falle der Betriebsgefährdung nicht die Rede, sondern hielten die
obsiegenden Votanten mit Nachdruck und ausdrücklich an der bundesrätlichen
Fassung fest, die jede fahrlässige Betriebsgefährdung strafbar wissen
wollte. Entgegen der in BGE 72 IV 70 geäusserten Ansicht ergibt sich also
auch aus den Materialien nicht, dass eine unerhebliche Verkehrsgefährdung
nicht als fahrlässige Betriebsgefährdung bestraft werden dürfte.

    c) Die in BGE 72 IV 68 ff. vertretene Auffassung überzeugt aber
auch aus einem anderen Grund nicht, denn sie führt zum (nach TRECHSEL,
aaO, N 12 zu Art. 238) "widersinnigen" Ergebnis, dass Betriebsstörungen,
welche sich in einer Gefährdung der Verkehrssicherheit auswirken, nur bei
Erheblichkeit der Gefährdung strafbar sind, Betriebsstörungen, welche die
Verkehrssicherheit nicht aufs Spiel setzen, jedoch immer (BGE 72 IV 70).

    d) GÜNTER STRATENWERTH vertritt die Auffassung, die Lösung des Problems
liege darin, die Anforderungen für die Anwendung von Art. 239 StGB zu
erhöhen, also eine Störung des "Gesamtbetriebes" in zumindest wesentlichem
Umfang zu verlangen (Schweizerisches Strafrecht, BT II, 3. Aufl. 1984, §
34 N 42 in fine i.V. mit N 35; ebenso TRECHSEL, aaO, N 5 zu Art. 239). Nach
Ansicht von VITAL SCHWANDER fallen denn auch "Bagatellfälle" nicht unter
Art. 239 StGB (Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Nr. 683c
Ziff. 5). Diese Ansicht deckt sich im wesentlichen mit der oben zitierten
Auffassung von Nationalrat Seiler.

    In BGE 78 IV 12 ff. ging es um einen Fahrzeuglenker, der mit
seinem Auto in angetrunkenem Zustand zwei Masten einer elektrischen
Freileitung "beschädigt" hatte, davon einen "leicht"; der Schuldspruch
des angefochtenen Urteils war vom Bundesgericht nicht zu überprüfen,
weshalb es sich weder dazu noch zur Frage äusserte, ob und inwieweit eine
Betriebsstörung überhaupt eingetreten war; es könnte sein, dass es sich
hier um einen der von SCHWANDER erwähnten Bagatellfälle gehandelt hat.
In BGE 90 IV 247 ff. kam es wegen mangelhaft ausgeführter Bauarbeiten
zur Beschädigung einer Gasleitung und zu einer heftigen Explosion,
wodurch über 20 Häuser zum Teil erheblich beschädigt wurden; das Gas
musste für ein ganzes Quartier abgestellt werden, um die Leitung wieder
instandstellen zu können (S. 253); von einem Bagatellfall kann nicht
gesprochen werden, und es ist auch von einer Störung des Betriebes in
wesentlichem Umfang auszugehen. Schliesslich erwähnt STRATENWERTH BGE 97
IV 78 ff., in welchem Entscheid sich das Bundesgericht ebenfalls nicht zum
Schuldpunkt auszusprechen hatte; in diesem Fall ging es um Demonstranten,
deren Aktivitäten an sechs Tagen auf verschiedenen wichtigen Strassen und
Plätzen der Stadt Basel "die Stillegung oder eine sonstige erhebliche
Störung des Tramverkehrs zur Folge hatten"; auch hier liegt kein
Bagatellfall vor, und der Trambetrieb war in seiner Gesamtheit gestört
(weitere Beispiele TRECHSEL, aaO, N 5 zu Art. 239).

    Auch der vorliegende Fall stellt eine erhebliche Störung des gesamten
Betriebes der Forchbahn dar. Nach den verbindlichen Feststellungen
der Vorinstanz wurde der fahrplanmässige Verkehr während 1 1/2 Stunden
gestört, sodass der Transport der Fahrgäste durch Taxis übernommen werden
musste. Wer eine Bahn während über einer Stunde am ordnungsgemässen
Betrieb hindert, stört diesen in gravierender Weise. Von einer Bagatelle
kann schon gar nicht die Rede sein (ebenso HANS SCHULTZ, Rechtsprechung
und Praxis im Strassenverkehr in den Jahren 1973-1977, Bern 1979, S. 61
f. für die durch eine Kollision zwischen Auto und Strassenbahn verursachte
Verspätung von 3/4 Stunden; a.A. jedoch TRECHSEL, aaO, N 5 zu Art. 239).

    e) Nach dem Gesagten kann an der in BGE 72 IV 68 ff. begründeten
Rechtsprechung nicht festgehalten werden. Die Staatsanwaltschaft legt nicht
dar, inwieweit der vorinstanzliche Entscheid bei dieser Betrachtungsweise
bundesrechtswidrig wäre. Die Beschwerde ist mithin abzuweisen.