Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IV 283



116 IV 283

54. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. Dezember 1990 i.S. T.
gegen Kriminalkammer des Kantons Thurgau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste

    Art. 55 Abs. 2 StGB; probeweiser Aufschub der Landesverweisung.

    Der Entscheid, ob und unter welchen Bedingungen der Vollzug der
im Strafurteil angeordneten unbedingten Landesverweisung probeweise
aufgeschoben werden soll, ist im Zusammenhang mit der gleichzeitig zu
beurteilenden bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug zu fällen. Es
geht auf dieser Stufe des Vollzugs nur noch um die Verwirklichung des
Resozialisierungsgedankens. Fall eines Ausländers, der weder in sein
Heimatland ausreist, noch in der Schweiz bleibt, sondern mit seiner
Ehefrau den Aufenthalt nahe der Schweizer Grenze nimmt.

Sachverhalt

    A.- Die Kriminalkammer des Kantons Thurgau bestrafte den jugoslawischen
Staatsangehörigen T. am 19. Juni 1985 wegen Vermögens- und SVG-Delikten
mit 2 1/2 Jahren Zuchthaus (unter Anrechnung von Untersuchungshaft
und vorzeitigem Strafvollzug) sowie mit zehn Jahren Landesverweisung
(unbedingt). Am 20. Juli 1985 kehrte der Verurteilte von einem Urlaub
nicht mehr in die Vollzugsanstalt zurück. Erst am 8. Februar 1990 konnte
er wieder verhaftet werden.

    Am 26. Juni 1990 beschloss die Kriminalkammer des Kantons Thurgau,
T. werde - weiteres Wohlverhalten im Vollzug vorausgesetzt - auf den
15. September 1990 aus dem Strafvollzug entlassen (Probezeit zwei Jahre);
der Vollzug der Landesverweisung wurde demgegenüber nicht aufgeschoben.

    T. erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der Beschluss
der Kriminalkammer sei in bezug auf die Landesverweisung aufzuheben und
der Vollzug der Nebenstrafe aufzuschieben.

    Die Kriminalkammer beantragt Abweisung, das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement Gutheissung der Beschwerde. Das Bundesgericht
heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- In bezug auf den für die Beurteilung des vorliegenden Falles
massgebenden Sachverhalt ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer
während seiner Flucht vor einem Jahr in Deutschland geheiratet hat und
nach der Entlassung aus dem Strafvollzug zu seiner in Konstanz lebenden
Ehefrau ziehen wird. Dort hat er auch eine Arbeitsbewilligung erhalten. In
der Schweiz halten sich seine zehnjährige Tochter aus erster Ehe sowie
die Mehrheit seiner Bekannten auf.

    Die Vorinstanz ging davon aus, die Chancen für eine Resozialisierung
des Beschwerdeführers seien in der Schweiz kleiner als in Deutschland. Das
Zentrum seiner Lebensführung werde Konstanz sein, und "Spuren einer
Verwurzelung" in der Schweiz seien nicht auszumachen. Insbesondere seien
die Kontakte zur in der Schweiz befindlichen Tochter nicht besonders
intensiv. Da diese in Ermatingen lebe, sei es nicht ausgeschlossen, dass
sie ihren Vater in Konstanz besuche. Am Rande wies die Vorinstanz darauf
hin, die Landesverweisung stelle eine Strafe dar, deren Zweck es sei,
die öffentliche Sicherheit zu schützen und dem Täter ein Übel zuzufügen.

    Der Beschwerdeführer bestätigt, dass er nach der bedingten Entlassung
nicht in der Schweiz bleiben, sondern nach Konstanz ziehen und sich dort
eine neue Existenz aufbauen will. Er weist jedoch darauf hin, dass Konstanz
eine Grenzstadt ist und für ihn der Aufbau eines "normalen" Lebens sehr
schwierig wäre, wenn er während zehn Jahren nicht einmal für Besuche in
die Schweiz kommen könnte. Es wäre ihm praktisch unmöglich, den Kontakt zu
seiner Tochter zu vertiefen. Da diese erst zehn Jahre alt sei, könne sie
ihn nicht alleine in Konstanz besuchen. Auch bei der Arbeitssuche sei die
Landesverweisung ein Hindernis, da er jedem möglichen Arbeitgeber sagen
müsste, dass er unter keinen Umständen in die Schweiz einreisen dürfe.

Erwägung 2

    2.- a) Bei einer bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug
prüft die zuständige Behörde, ob und unter welchen Bedingungen der
Vollzug der im Strafurteil angeordneten unbedingten Landesverweisung
probeweise aufgeschoben werden soll (Art. 55 Abs. 2 StGB). Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind bei diesem Entscheid die
Resozialisierungschancen des Betroffenen massgebend (BGE 114 Ib 4
mit Hinweis; s. auch BGE 114 IV 97). In der Regel wird er, sollte
der probeweise Aufschub nicht in Frage kommen, in sein Herkunftsland
zurückkehren wollen oder müssen, weshalb sich in den bisher vom
Bundesgericht zu beurteilenden Fällen die Frage stellte, ob die Schweiz
oder das Heimatland des Betroffenen die günstigere Voraussetzung für eine
Wiedereingliederung in die Gesellschaft bieten (BGE 114 Ib 4 mit Hinweis,
104 Ib 332 E. 2; vgl. dazu auch BGE 114 IV 97). Die entsprechende Frage
stellt sich, wenn der Betroffene weder in sein Heimatland ausreisen,
noch in der Schweiz bleiben kann oder will, sondern seinen Aufenthalt in
einem Drittstaat nimmt.

    Die Resozialisierungschancen sind nach den persönlichen Verhältnissen
des Entlassenen, seinen Beziehungen zur Schweiz und zum Ausland, den
Familienverhältnissen und den Arbeitsmöglichkeiten zu beurteilen (BGE 104
Ib 155 E. 2a mit Hinweisen). Dabei ist auf die wahrscheinliche künftige
Lebensgestaltung des Verurteilten abzustellen (BGE 104 Ib 331). Wenn
der Betroffene über enge Beziehungen im Ausland bzw. zu dort lebenden
Personen verfügt, liegt ein Indiz dafür vor, dass die Chancen einer
Resozialisierung ausserhalb der Schweiz grundsätzlich gut oder jedenfalls
nicht schlechter als in der Schweiz sind. Eine Gesamtwürdigung aller
Umstände kann aber auch in einem solchen Fall zum Ergebnis führen, dass aus
Resozialisierungsgründen ein Aufschub der Landesverweisung angezeigt ist,
da dem Betroffenen z.B. die Möglichkeit offenstehen sollte, gelegentlich
in die Schweiz einzureisen.

    Die Behörde urteilt in dieser Frage weitgehend nach ihrem Ermessen,
in welches das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung eingreift (Art. 104
lit. a OG), bei dessen Ausübung sie sich jedoch auf sachlich haltbare
Gründe stützen muss. Das Bundesgericht hebt ihren Entscheid auf, wenn
die kantonale Behörde nicht von rechtlich massgebenden Gesichtspunkten
ausgegangen ist oder diese in Überschreitung oder Missbrauch ihres
Ermessens unrichtig gewichtet hat.

    b) Wie dargelegt, ist die Entscheidung über den Aufschub des Vollzugs
der Landesverweisung aufgrund einer Gesamtwürdigung aller Umstände zu
treffen. Nebst der Tatsache, dass der Beschwerdeführer in Deutschland,
wo sich seine Ehefrau aufhält, leben und arbeiten will, ist insbesondere
zu berücksichtigen, dass seine zehnjährige Tochter aus erster Ehe in der
Schweiz lebt und dass sein zukünftiger Lebensmittelpunkt in Konstanz liegt,
einer Stadt an der Grenze zur Schweiz.

    c) Der Beschwerdeführer macht geltend, eine Landesverweisung würde
es ihm praktisch verunmöglichen, den Kontakt zu seiner Tochter zu
vertiefen. Unter Hinweis auf die Ausführungen der Staatsanwaltschaft
erachtet die Vorinstanz dieses Vorbringen als Vorwand, da sich der
Beschwerdeführer "mit praktischer Sicherheit" während seiner fünfjährigen
Flucht nicht persönlich um seine Tochter gekümmert habe bzw. der Kontakt
nie so intensiv gewesen sei, wie im zu beurteilenden Gesuch geltend gemacht
werde. Wie es sich damit verhält, ist ungewiss, aber offenbar können
auch die kantonalen Behörden nicht ausschliessen, dass gewisse Kontakte
bestehen. Immerhin räumt der Beschwerdeführer sinngemäss ein, dass die
Beziehung - wohl insbesondere wegen der fluchtbedingten Abwesenheit -
nicht besonders eng gewesen ist, macht er doch geltend, er wolle den
Kontakt "vertiefen". Dieser Wunsch eines Vaters ist verständlich und
sollte nicht leichthin ohne nähere Abklärung der Umstände als blosse
Schutzbehauptung abgetan werden. Es ist denn auch darauf hinzuweisen,
dass Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Achtung des Familienlebens garantiert,
welches durch behördliche Schranken nicht unnötig in Frage gestellt werden
soll. Die knappe Begründung der Vorinstanz zu diesem Punkt reicht deshalb
für die Verweigerung des Aufschubs nicht aus.

    d) Der Beschwerdeführer betont die Grenzlage der Stadt Konstanz und
die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, wenn er
während zehn Jahren die Schweiz nicht betreten dürfte. Dazu äussert sich
die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid nicht. Zwar nimmt sie zutreffend
an, dass die Resozialisierungschancen des Beschwerdeführers in Deutschland
besser seien als in der Schweiz. Wenn sie allerdings daraus den Schluss
zieht, die Landesverweisung sei zu vollziehen, geht sie am Kernproblem des
vorliegenden Falles vorbei. Denn ihre Entscheidung bedeutet konkret, dass
der Beschwerdeführer bis zum 15. September 2000 die Schweiz nicht mehr wird
betreten dürfen. Die Vorinstanz geht selbst davon aus, dass er in Zukunft
das Zentrum seiner Lebensführung in Konstanz haben werde. Nun liegt es
auf der Hand, dass die Resozialisierungschancen des Beschwerdeführers in
der Stadt Konstanz aufgrund ihrer Lage als Zwillingsstadt von Kreuzlingen
in erheblichem Masse auch davon abhängen, ob er die Möglichkeit hat,
für seinen Arbeitgeber gelegentlich in die Schweiz zu reisen. Wird ihm
diese Möglichkeit von vornherein abgeschnitten, sind seine Chancen auf
dem Arbeitsmarkt erheblich reduziert. Ebenso liegt es auf der Hand, dass
den Beschwerdeführer, der in einer Stadt leben wird, die direkt an die
Schweiz anschliesst und in welcher ein spontaner Besuch über die Grenze zur
üblichen Lebensführung gehören dürfte, ein zehnjähriges Verbot, die Schweiz
zu betreten, überaus hart trifft. Dabei ist zu unterstreichen, dass die
Entscheidung betreffend den Aufschub des Vollzugs der Landesverweisung im
Zusammenhang mit der bedingten Entlassung aus dem Strafvollzug zu fällen
ist. Die Entscheidung betreffend den bedingten Strafvollzug hat aufgrund
der Aufgabe dieser Einrichtung so zu erfolgen, dass die Resozialisierung
optimal gewährleistet ist. Dem Beschwerdeführer einerseits die bedingte
Entlassung zu gewähren, ihm aber mit dem Vollzug der Landesverweisung
während zehn Jahren eine Beeinträchtigung seiner resozialisierenden
Möglichkeiten aufzuerlegen, ist widersprüchlich. Die angefochtene
Entscheidung provoziert geradezu eine zusätzliche Straffälligkeit des
Beschwerdeführers, was im Widerspruch zum Erfordernis steht, die bedingte
Entlassung aus dem Strafvollzug derart zu gestalten, dass eine erneute
Straffälligkeit möglichst vermieden werden kann.

    e) Die Vorinstanz verweist bei ihrem Entscheid auch auf den Umstand,
dass der Zweck der Landesverweisung die Wahrung der öffentlichen Sicherheit
und die Übelszufügung sei. Dieses Argument geht an der Sache vorbei. Auf
der vorliegend zu beurteilenden Stufe des Vollzugs geht es nur noch um
die Verwirklichung des Resozialisierungsgedankens, und nicht mehr darum,
"Sühne und Abschreckung zur Geltung zu bringen" (PETER M. TRAUTVETTER,
Die Ausweisung von Ausländern durch den Richter im schweizerischen Recht,
Diss. ZH 1957, S. 47). Dem Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit ist
bei der Anordnung und Bemessung der Landesverweisung Rechnung zu tragen
(BGE 114 IV 97).

    f) Hinzu kommt, dass vorliegend nicht ersichtlich ist, weshalb der
Vollzug einer Landesverweisung von zehn Jahren Dauer für Straftaten aus den
Jahren 1983 und 1984 geboten ist. Denn die Vorinstanz räumt selbst ein,
dass mit Ausnahme der Flucht dem Beschwerdeführer seit seinen früheren
Straftaten nichts vorgeworfen werden kann und dass er insbesondere auch
während seiner 4 1/2 Jahre dauernden Flucht nicht straffällig geworden
ist. Dieses positive Indiz darf nicht mit dem Argument übergangen werden,
bei einem Aufschub der Landesverweisung werde er für seine Flucht belohnt,
denn wäre er während der Flucht erneut straffällig geworden, so müsste
dies als negatives Indiz mitberücksichtigt werden.