Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IV 273



116 IV 273

51. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. November 1990 i.S. I.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 13 Abs. 1 StGB; Psychiatrisches Gutachten.

    Voraussetzungen für die Bejahung eines ernsthaften Anlasses zu
Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit des Täters, insbesondere aufgrund
eines früheren Gutachtens.

Sachverhalt

    A.- I., der im Privatclub "H." in Zürich als Sicherheitsbeauftragter
und Türkontrolleur tätig gewesen war, war mit dem tunesischen
Staatsangehörigen C. im Zusammenhang mit der Nichtbezahlung der
Eintrittsgebühr in eine Auseinandersetzung geraten, in deren Verlauf
er mit einem Gasrevolver einen Schuss auf C. abgab, wodurch dieser das
Sehvermögen auf dem rechten Auge infolge Verbrennungen an Horn- und
Bindehaut bleibend verlor.

    Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte I. wegen schwerer
Körperverletzung zu zwei Jahren Gefängnis.

    B.- Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde beantragt I., das
Urteil des Obergerichts aufzuheben und dieses anzuweisen, über ihn ein
psychiatrisches Gutachten einzuholen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Nach Art. 13 Abs. 1 StGB ordnet die urteilende Behörde
eine Untersuchung des Beschuldigten an, wenn sie Zweifel an dessen
Zurechnungsfähigkeit hat. Der Richter soll also seine Zweifel nicht
selber beseitigen, etwa durch Zuhilfenahme psychiatrischer Fachliteratur,
sondern, wie sich aus Absatz 2 von Artikel 13 StGB ergibt, durch Beizug
von Sachverstandigen. Artikel 13 StGB gilt nicht nur, wenn der Richter
tatsächlich Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit hegt, sondern auch, wenn er
nach den Umständen des Falles Zweifel haben sollte (BGE 106 IV 242 E. 1a
mit Hinweisen). Artikel 13 StGB ist auch anwendbar für die Beantwortung
der Frage, wann ein neues Gutachten einzuholen ist, wenn der Beschuldigte
bereits einmal - in einem früheren Strafverfahren - begutachtet wurde
und seither längere Zeit verstrichen ist (BGE 88 IV 51; MARC HELFENSTEIN,
Der Sachverständigenbeweis im schweizerischen Strafprozess, Diss. Zürich
1978, S. 38 f.). Es fragt sich, welche Umstände gegeben sein müssen,
um anzunehmen, der Richter müsse im oben dargelegten Sinn ernsthafte
Zweifel haben. Das Bundesgericht hat dies beispielsweise angenommen bei
Drogenabhängigkeit (BGE 102 IV 74 und 106 IV 243), bei einer Frau, die
mit ihrer schizophrenen Tochter zusammenlebte (BGE 98 IV 157), bei einem
Sexualdelinquenten mit möglicherweise abnorm starkem Geschlechtstrieb
(BGE 71 IV 193), nicht aber bei Angetrunkenheit (BGE 91 IV 68 und 107
IV 4 f.). Dabei genügt es, wenn ernsthafter Anlass zu Zweifeln an der
Zurechnungsfähigkeit aufgrund eines solchen Umstandes bestand (BGE 98
IV 157). Die Notwendigkeit, einen Sachverständigen zuzuziehen, ist nach
LÖWE/ROSENBERG/GOLLWITZER (24. Aufl., § 244 N 76/77) erst dann gegeben,
wenn Anzeichen vorliegen, die geeignet sind, Zweifel hinsichtlich
der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken, wie etwa ein Widerspruch
zwischen Tat und Täterpersönlichkeit oder völlig unübliches Verhalten;
ein Sachverständiger ist ferner beizuziehen, wenn sich aus einem bei den
Akten befindlichen Strafregisterauszug ergibt, dass ein Angeklagter in
einem früheren Verfahren für vermindert schuldfähig erklärt wurde, wenn er
in ärztlicher Behandlung stand oder steht, wenn die Schuldfähigkeit eines
Epileptikers, eines geistig Zurückgebliebenen, eines Schwachsinnigen oder
eines Hirngeschädigten zu beurteilen ist, bei altersbedingtem psychischen
Abbau dann, wenn die Tatausführung auffällige Eigenheiten zeigt oder die
Tat mit der bisherigen Lebensführung unvereinbar erscheint; Gleiches
kann, je nach den Umständen, bei wiederholten Sittlichkeitsdelikten
oder bei einer erstmals nach dem Klimakterium auftretenden Kriminalität
gelten, wenn die Schuldfähigkeit durch Affektzustände beeinträchtigt
sein kann oder wenn der Angeklagte seelische Abartigkeiten zeigt oder
wenn in seiner bisherigen Lebensführung oder bei der seiner Angehörigen
besondere Auffälligkeiten, etwa mehrere Selbstmordversuche, aufgetreten
sind (ähnlich LANGE, Leipziger Kommentar, 10. Aufl., § 21 N 101, der
zusätzlich auffällige Begleitumstände bei Ladendiebstählen nennt, und HANS
LUDWIG SCHREIBER, Der Sachverständige im Verfahren und in Verhandlung,
Psychiatrische Begutachtung, herausgegeben von ULRICH VENZLAFF, 1986,
S. 152, nach welchem der Beizug eines Sachverständigen beispielsweise
dann erforderlich sei, wenn der Täter nur über geringe Intelligenz, einen
Hang zu Autodiebstählen und nur geringes Hemmungsvermögen gegenüber der
Versuchung, Gelegenheit zu Eigentumsdelikten zu nutzen, verfüge).

    b) Gemäss dem Strafregisterauszug des Beschwerdeführers wurde
er mit Urteil vom 22. Juni 1972 des Strafgerichts Zug des Mordes,
der vorsätzlichen Körperverletzung, des Raubes und der Nötigung
schuldig gesprochen und in eine Arbeitserziehungsanstalt eingewiesen;
am 26. März 1975 verurteilte ihn das Strafgericht Basel-Landschaft
unter anderem wegen Raubes zu 6 Monaten Gefängnis; am 29. August 1977
sprach ihn das Amtsgericht Solothurn-Lebern unter anderem schuldig
der wiederholten Erpressung, der Freiheitsberaubung, des verbotenen
Waffentragens und der Tätlichkeiten und bestrafte ihn mit 2 Jahren
Zuchthaus; am 2. Juli 1982 bestrafte ihn die Bezirksanwaltschaft Zürich
wegen einfacher Körperverletzung mit einer Busse von Fr. 300.--, und
am 22. November 1985 wurde er zu einer Gefängnisstrafe von einem Monat
wegen Diebstahls und verbotenen Waffenbesitzes verurteilt. Anlässlich des
ersten Strafverfahrens erstellte die Direktion der Psychiatrischen Klinik
Münsterlingen am 20. Februar 1972 über den Beschwerdeführer ein Gutachten,
das zusammenfassend festhielt:

    "...

    2. Als primitiver, verstimmbarer,
   reizbarer, gewalttätiger und sekundär trunksüchtiger Psychopath war der

    Angeschuldigte aber zur Zeit des jetzt eingeklagten Deliktes zwar
nicht in
   seiner Einsichtsfähigkeit behindert, wohl aber aus affektiven Gründen in
   der Fähigkeit, gemäss seiner Einsicht in das Unrecht der Tat zu handeln.

    Wir halten daher leicht verminderte Zurechnungsfähigkeit im Sinne
von Art.

    11 StGB für gegeben.

    ...

    5. Nach unserer Auffassung gefährdet zwar der

    Angeschuldigte wegen seiner beschriebenen Charakterstruktur die
   öffentliche Sicherheit in schwerwiegender Weise; wir halten aber die

    Voraussetzungen zur Verwahrung gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB aus
   psychiatrischer Sicht nicht gegeben, da nicht sicher vorauszusehen ist,
   ob der jetzt 19jährige Angeschuldigte nicht im normalen

    Strafvollzug ein höheres Mass an Selbstbeherrschung lernen kann.

    ...

    6. Wir stellen eine sehr zweifelhafte Prognose. ...".

    Nun genügt zwar zur Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit nicht
jede geringfügige Herabsetzung der Fähigkeit, sich zu beherrschen. Der
Täter muss vielmehr, zumal der Begriff des normalen Menschen nicht eng
zu fassen ist, in hohem Masse in den Bereich des Abnormen fallen, seine
Geistesverfassung nach Art und Grad stark vom Durchschnitt nicht bloss
der Rechts-, sondern auch der Verbrechensgenossen abweichen (BGE 102 IV
226 E. 7b mit Hinweisen). Beim Beschwerdeführer wurde aber, wie erwähnt,
bereits im Jahre 1972 ein Gutachten erstellt, das ihn als gewalttätigen
Psychopathen mit sehr zweifelhafter Prognose bezeichnete. Diese schlechte
Prognose wurde in der Folge denn auch bestätigt. Die zwar weniger
schwerwiegenden Vorfälle in den letzten 10 Jahren weisen ebenfalls in
die gleiche Richtung (Körperverletzung, verbotenes Waffentragen). Bei
dieser Sachlage hätte die Vorinstanz beim neuen, schwerwiegenden und
unverständlichen Gewaltdelikt ein neues Gutachten in Auftrag geben müssen,
zumal das erste (und einzige) Gutachten, das über den Beschwerdeführer
erstellt worden war, bereits aus dem Jahre 1972 stammt und ihm damals eine
verminderte Zurechnungsfähigkeit attestiert hatte. Hinzuzufügen bleibt,
dass die neue psychiatrische Literatur bei Persönlichkeitsstörungen von
einem gewissen Schweregrad mit einer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit
(Minderung, aber sehr selten Aufhebung) rechnet (RAINER TÖLLE,
Psychiatrie, 8. Aufl., 1988, S. 117; ROLF BAER, Psychiatrie für Juristen,
1988, S. 44 f., insb. S. 51 f.; Handwörterbuch der Rechtsmedizin für
Sachverständige und Juristen, herausgegeben von GEORG EISEN, Band 2:
Der Täter, Persönlichkeit und Verhalten, 1974, S. 280/281).

    c) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ernsthafter Anlass zu
Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers bestand. Indem
die Vorinstanz bei dieser Sachlage kein psychiatrisches Gutachten
anordnete, verletzte sie Art. 13 StGB. Die Nichtigkeitsbeschwerde ist
demnach gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben, und die
Sache zu neuer Entscheidung an das Obergericht zurückzuweisen.