Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IV 239



116 IV 239

45. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 22. November 1990 i.S. A.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 141 VZV; Fahren in angetrunkenem Zustand, Blutanalyse,
Rückrechnung, Zweifelsfall.

    Die Rückrechnung des Blutalkoholgehalts vom Moment der Blutentnahme
auf den Zeitpunkt des massgebenden Ereignisses kann der Richter im
Normalfall auch ohne den Beizug eines Sachverständigen vornehmen (E. 2;
Änderung der Rechtsprechung).

    Das Analyseprotokoll gemäss Art. 141 Abs. 2 VZV muss u.a. die
Ergebnisse der in derselben Bestimmung vorgeschriebenen zwei grundlegend
verschiedenen Messmethoden enthalten (E. 3).

    Aus Art. 141 Abs. 2 VZV lässt sich nicht ableiten, im Protokoll
dürfe nur die rechtlich erhebliche Alkoholkonzentration angeführt
werden; hingegen verlangt diese Norm, dass der entsprechende Wert in
Gewichtspromillen auszudrücken ist (E. 4).

    Ohne das Vorliegen anderer Umstände genügt eine Alkoholkonzentration
von 0,82 bis 0,83 Gewichtspromillen nicht, um einen Zweifelsfall nach
Art. 141 Abs. 3 VZV anzunehmen (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Das Obergericht des Kantons Aargau verurteilte A. am 21.  März 1990
wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand zu einer Busse von Fr. 600.--.

    A. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt, der angefochtene
Entscheid sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung, eventuell zur
Anordnung eines gerichtlich-medizinischen Gutachtens an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Bechwerdeführer macht im wesentlichen geltend, das Obergericht
habe ausgehend vom Blutanalyseergebnis selbst die rechtlich massgebende
Blutalkoholkonzentration errechnet. Dies aber sei Sache eines medizinischen
Sachverständigen und stelle einen Verstoss gegen Art. 141 VZV dar.

    In der Tat hält BGE 102 IV 122 fest, als "Ergebnis der Analyse"
in Art. 141 Abs. 3 VZV sei nicht nur das Messresultat, sondern der
Blutalkoholgehalt im rechtlich relevanten Zeitpunkt zu verstehen; für
den Fall, dass dieser durch Rückrechnung zu ermitteln sei, verweise
das Gesetz den Richter an den Fachmann, da die Rückrechnung zum
gerichtlich-medizinischen Wissensbereich gehöre.

    Diese Auffassung ist heute überholt. Aufgrund der Richtlinien der
schweizerischen Gesellschaft für gerichtliche Medizin vom 13. Juli 1985
erliess das EJPD am 12. November 1986 Weisungen betreffend die Feststellung
der Angetrunkenheit und ersetzte so die (veralteten) Weisungen aus dem
Jahre 1968. Gestützt auf die neuen Unterlagen und nach Rücksprache mit
dem leitenden Arzt für Pathologie und Gerichtsmedizin am Kantonsspital
Aarau erteilte das Obergericht des Kantons Aargau am 1. Juni 1987 der
Staatsanwaltschaft, den Bezirksämtern und den Bezirksgerichten Empfehlungen
zur Blutalkoholbestimmung und der dazugehörigen Rückrechnung. Da diese
Empfehlungen vom heute allgemein anerkannten minimalen Abbauwert von
0,1 Gewichtspromille pro Stunde ausgehen (SCHWEIZERISCHE GESELLSCHAFT
FÜR GERICHTLICHE MEDIZIN, Blutalkohol: Richtlinien zur medizinischen
Interpretation vom 13. Juli 1985, Ziff. 2.2.2.; U. ZOLLINGER, Medizinische
Interpretation (Rückrechnung) von Blutalkoholanalysen, Kriminalistik
38/1984, S. 47 ff.), bedarf es im Normalfall keiner besonderen
Fachausbildung, um die Rückrechnung durchführen zu können. Unter diesen
Umständen besteht für den Richter kein Anlass mehr, in allen Fällen einen
Sachverständigen zur Rückrechnung beizuziehen. Daraus folgt, dass das
Obergericht durch die eigene Rückrechnung Bundesrecht nicht verletzt
hat. Die im angeführten Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahre 1976
vertretene gegenteilige Auffassung erklärt sich damit, dass der Richter
das nötige Fachwissen damals nicht besass. Im übrigen enthält das Schreiben
des Obergerichts vom 1. Juni 1987 an die Staatsanwaltschaft, Bezirksämter
und Bezirksgerichte lediglich Empfehlungen, welche die Vorinstanzen in
ihrer freien Beweiswürdigung (Art. 249 BStP) nicht einschränken.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer zitiert Art. 141 Abs. 2 VZV und erwähnt
dabei, über die einzelnen Stadien der Analyse sei ein Protokoll zu
führen. Das in den Akten liegende Protokoll enthält zwar den Zeitpunkt
des Vorfalls und denjenigen der Blutentnahme sowie den Mittelwert und den
Vertrauensbereich des Blutalkoholgehalts, nicht jedoch die Messresultate
der zwei grundlegend verschiedenen Methoden, die in Art. 141 Abs. 2 VZV
vorgesehen sind. Die Vorinstanz hat daher zu veranlassen, dass das Formular
"Alkoholbestimmung" inskünftig ausführlicher gestaltet wird. Im übrigen
sollte jeweils auch der Bericht des Arztes, der die Blutentnahme vornimmt,
zu den Akten genommen werden.

    Dass das Protokoll die zwei grundelegend verschiedenen Methoden
nicht anführt, rügt der Beschwerdeführer nicht. Und da die zur
Rückrechnung massgebenden Angaben (Vertrauensbereich) vorliegen und die
Gesetzesanwendung somit nachgeprüft werden kann, rechtfertigt sich auch
eine Aufhebung des angefochtenen Entscheids nach Art. 277 BStP nicht.

Erwägung 4

    4.- Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers lässt sich aus
Art. 141 Abs. 2 VZV nicht ableiten, im Analyseprotokoll dürfe nur
die rechtlich massgebende Alkoholkonzentration angeführt werden. Die
Weisungen des EJPD betreffend die Feststellung der Angetrunkenheit vom
12. November 1986 - denen zwar nicht Rechtssatzcharakter zukommt (vgl. BGE
105 Ib 375 E. 16a) - halten in Ziffer 6.2 ausdrücklich fest, dass dem
Auftraggeber der Mittelwert aller Bestimmungen sowie ein Vertrauensbereich
(Konfidenzintervall) bekanntzugeben seien. Art. 141 Abs. 2 VZV schreibt
bloss vor, dass der entsprechende Wert in Gewichtspromillen auszudrücken
ist. Dem entspricht die fragliche Alkoholbestimmung.

Erwägung 5

    5.- Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 141 Abs. 3 VZV;
das Obergericht habe trotz Vorliegen eines Zweifelsfalles auf das Einholen
eines Gutachtens verzichtet.

    Bei der Feststellung des Zeitpunktes des Trinkendes führte die
Vorinstanz aus, es sei klar, dass das Trinkende auf 18.00 Uhr anzusetzen
sei, im günstigsten Fall auf 20.30 Uhr. Zugunsten des Beschwerdeführers
stellte es dann bei der Rückrechnung auf den späteren Zeitpunkt ab. Auch
beim stündlichen Alkoholabbauwert von minimal 0,1 Gewichtspromille
und maximal 0,2 Gewichtspromille + einmaliger Zuschlag von 0,2
Gewichtspromille (SCHWEIZERISCHE GESELLSCHAFT FÜR GERICHTLICHE MEDIZIN,
aaO, Ziff. 2.2.2.) berücksichtigte es zugunsten des Beschwerdeführers den
minimalen Wert. Ging man aber bei der Rückrechnung jeweils zum Vorteil
des Beschwerdeführers von der für ihn günstigsten Annahme aus und ergab
die Berechnung dennoch einen Wert von 0,82 bis 0,83 Gewichtspromille,
so kann von einem Zweifelsfall im Sinne von Art. 141 Abs. 3 VZV nicht
die Rede sein. Dass andere Umstände vorlägen, die auf einen Zweifelsfall
hindeuteten, macht der Beschwerdeführer nicht geltend und ist auch nicht
ersichtlich. Zudem hat er selbst ein gerichtlich-medizinisches Gutachten
gemäss Art. 141 Abs. 3 VZV nicht rechtzeitig verlangt. Unter diesen
Umständen verzichtete die Vorinstanz zu Recht auf das Einholen eines
solchen Gutachtens. Damit erweist sich die Rüge als unbegründet.

    Der Beschwerdeführer bemängelt, bei der Blutbestimmung seien die
gesamten Analyseumstände sowie die polizeiliche Einvernahme nicht gewürdigt
und dadurch Art. 141 Abs. 4 VZV verletzt worden. Diese Vorschrift kommt
lediglich zur Anwendung, wenn ein Gutachten einzuholen ist, was vorliegend
nicht zutrifft (siehe Absatz hievor). Die Rüge geht somit an der Sache
vorbei.