Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IV 230



116 IV 230

43. Urteil des Kassationshofes vom 11. Juli 1990 i.S. G. gegen
Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 31 Abs. 1 SVG, Art. 3 Abs. 1 VRV; Aufmerksamkeit im
Strassenverkehr.

    Das Mass der geforderten Aufmerksamkeit richtet sich nach den gesamten
Umständen, wobei entscheidend ist, wo die Grenze des zu erwartenden
Verkehrsgeschehens liegt (E. 2a).

    Bei einer unklaren Situation über den weiteren Verkehrsablauf ist
diese Grenze höher anzusetzen und daher eine erhöhte Aufmerksamkeit des
Verkehrsteilnehmers gefordert (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Am 16. März 1988 lenkte S. seinen Personenwagen auf der
Steinbachstrasse in Belp dorfeinwärts und beabsichtigte, in den
spitzwinklig nach rechts abbiegenden Moosblickweg zu fahren. Kurz vor
der Abzweigung verlangsamte er seine Fahrt von ursprünglich 60-70 km/h,
holte etwas nach links über die Strassenmitte aus und bog dann nach
rechts ab. Den Blinker betätigte er bloss beim Rechtsabbiegen und zwar
spät. Hinter ihm fuhr G. mit einer Geschwindigkeit von 55-60 km/h. Seine
Distanz zum Fahrzeug von S. betrug ca. 50 m, als dieser nach rechts
abbog. Da G. seinen Personenwagen nicht genügend abbremste, kam es bei
der Abzweigung in den Moosblickweg zum Zusammenstoss.

    Der Gerichtspräsident von Seftigen verurteilte G. wegen einfacher
Verkehrsregelverletzung, begangen durch unaufmerksames Führen eines
Personenwagens, zu einer Busse von Fr. 80.--. Dagegen erklärte
der Verurteilte Appellation und beantragte seine Freisprechung. Der
Generalprokurator des Kantons Bern schloss sich diesem Antrag an. Das
Obergericht des Kantons Bern wies die Appellation am 26. Oktober 1989 ab
und bestätigte den erstinstanzlichen Entscheid.

    G. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz bejahte eine Verletzung von Art. 31 Abs. 1 SVG in
Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 VRV durch den Beschwerdeführer. Sie führt
zur Begründung an, insbesondere das Linkshalten ohne Zeichengabe des
Kollisionsgegners hätte für den Beschwerdeführer Anlass sein sollen,
vorsichtiger zu überlegen, was sich eigentlich vor ihm abspiele;
hellseherischer Fähigkeiten hätte es nicht bedurft, um sich zu
sagen, es könnte - in Verbindung mit dem beobachteten Bremsmanöver -
einen stichhaltigen Grund geben, selber ebenfalls die Geschwindigkeit
herabzusetzen, um von der Verkehrssituation, wie immer sie sich entwickle,
dann eben nicht überrascht zu werden; dass er das nicht getan, sondern -
leichtfertig - darauf vertraut habe, der andere werde wohl irgendwo und
irgendwie nach links abbiegen, sei ihm als Aufmerksamkeitsfehler und
damit als Verkehrsregelverletzung anzurechnen.

    Der Beschwerdeführer bestreitet, dass ihm Unaufmerksamkeit
vorgeworfen werden könne, umsomehr es ihm nicht möglich gewesen sei,
das Verhalten des Kollisionsgegners schlüssig zu interpretieren, er sich
jedoch auf dessen Zeichengabe habe verlassen dürfen. Das Abbiegen in den
Moosblickweg, welches einer Kehrtwendung von 180o gleichkomme, sei ein
derart aussergewöhnliches Manöver, mit dem er vernünftigerweise nicht
habe rechnen müssen.

Erwägung 2

    2.- Die Aufmerksamkeit, die der Fahrzeugführer nach Art. 31 Abs. 1
SVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 VRV der Strasse und dem Verkehr
zuzuwenden hat, erfordert, dass er die ganze Strassenbreite mit seinem
Blick erfasst und nicht allein das, was sich unmittelbar vor ihm auf
seiner Fahrbahnhälfte ereignet. Die Rechtsprechung hat diesen Grundsatz
unter bestimmten Bedingungen gemildert und insbesondere festgehalten,
die Aufmerksamkeit auf eine Stelle ausserhalb des zu erwartenden
Verkehrsgeschehens sei nicht verlangt. Das Mass der Aufmerksamkeit
richtet sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte,
den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht, den voraussehbaren
Gefahrenquellen (BGE 103 IV 104 E. 2b).

    a) Der Beschwerdeführer wurde unbestrittenermassen durch das Abbiegen
des Kollisionsgegners nach rechts überrascht, was heisst, dass er eine
solche Fahrweise nicht erwartete. Eine schuldhafte Unaufmerksamkeit liegt
vor, wenn er mit einem solchen Fahrmanöver hätte rechnen müssen. Aus der
oben genannten Einschränkung der Anforderungen an die Aufmerksamkeit
folgt, dass dabei entscheidend ist, wo die Grenzen des zu erwartenden
Verkehrsgeschehens liegen (SCHAFFHAUSER, Strassenverkehrsrecht I, N 404).

    b) Die Vorinstanz stellte für das Bundesgericht verbindlich
(Art. 277bis Abs. 1 BStP) fest, der Beschwerdeführer habe eigentlich
nicht gewusst, was der Kollisionsgegner vorhabe, und sie macht ihm zum
Vorwurf, er habe leichtfertig darauf vertraut, der andere werde wohl
irgendwo und irgendwie nach links abbiegen. Damit steht fest, dass für
den Beschwerdeführer eine unklare Situation über den weiteren Ablauf des
Verkehrsgeschehens vorlag. Dies hätte ihn aber zu erhöhter Aufmerksamkeit
veranlassen müssen (SCHAFFHAUSER, aaO, N 403 und 324); d.h. dass die
Grenze des noch zu erwartenden Verkehrsablaufes unter den gegebenen
Umständen höher anzusetzen ist. War unklar, welche Bewandtnis es mit
dem Linkshalten des Kollisionsgegners und dessen Bremsmanöver hatte,
verletzte die Vorinstanz Bundesrecht nicht, wenn sie verlangte, der
Beschwerdeführer hätte seine Geschwindigkeit herabsetzen müssen, um von
der Verkehrssituation, wie immer sie sich entwickle, nicht überrascht zu
werden. Weil ein Linksabbiegen des ihm vorausfahrenden Fahrzeuges mangels
entsprechender konkreter Möglichkeit nicht nahelag und vom Beschwerdeführer
denn auch nur als wohl irgendwie möglich betrachtet wurde, war das Abbiegen
nach rechts, das zum Unfall führte - zumal die rechtsseitige, spitzwinklige
Einmündung einer Strasse für den Beschwerdeführer sichtbar war - nicht
derart aussergewöhnlich, dass er damit nicht hätte rechnen müssen. Auf BGE
103 IV 258 E. a kann sich der Beschwerdeführer nicht berufen; die unklare
Situation erlaubte nicht, auf die fehlende (rechtzeitige) Zeichengabe zu
vertrauen und anzunehmen, der Kollisionsgegner biege nicht nach rechts
ab. Die Nichtigkeitsbeschwerde wird somit abgewiesen.