Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IV 190



116 IV 190

37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 13. Juli 1990
i.S. X. gegen G. und Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden
(Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Sache von geringem Wert (Art. 138 und Art. 142 StGB); massgebende
Kriterien.

    Bei Sachen mit einem Marktwert bzw. einem objektiv bestimmbaren Wert
ist allein dieser massgebend (Änderung der Rechtsprechung). Bei Sachen ohne
einen Marktwert bzw. einen objektiv bestimmbaren Wert ist entscheidend,
welchen Wert die Sache im konkreten Fall für das Opfer hat; dabei kann
auch berücksichtigt werden, welchen Geldbetrag der Täter dem Opfer für
die Sache zu zahlen bereit wäre.

Sachverhalt

    A.- X. war seit dem 1. März 1973 bei der G. angestellt. Er stieg
im Lauf der Jahre zum technischen Betriebsleiter auf und hatte die
Kollektiv-Prokura inne. Mit Schreiben vom 15. Oktober 1984 wurde er von
der G. fristlos entlassen. Er nahm im Dezember 1984 seine Tätigkeit
bei der neu gegründeten A. auf. Am 8. März 1985 wurde er Mitglied
des Verwaltungsrates dieses Unternehmens. Er befasste sich bei der
A. insbesondere mit der Fabrikation von solchen Waren, für welche er
schon bei der G. zuständig gewesen war.

    X. nahm bei seinem Weggang von der G. unter anderem einen Ordner
"Lieferanten" mit, den er als notwendiges Hilfsmittel für seine Tätigkeit
bei der G. angelegt hatte und der Rechnungskopien, Originalofferten,
Originalprospekte sowie Kopien von verbuchten Rechnungen der G. enthielt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach den Ausführungen im angefochtenen Urteil und im
erstinstanzlichen Entscheid erfüllte der Beschwerdeführer den Tatbestand
der Veruntreuung im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB auch dadurch,
dass er nach seinem Ausscheiden aus der G. am 15. Oktober 1984 einen
Ordner mit der Aufschrift "Lieferanten" für sich behielt, den er bei
seiner Tätigkeit bei der G. als hiefür notwendiges Hilfsmittel angelegt
hatte und der Rechnungskopien, Originalofferten, Originalprospekte sowie
Kopien von verbuchten Rechnungen der G. enthielt.

    Der Beschwerdeführer macht gegen seine Verurteilung in diesem
Punkt geltend, die im fraglichen Ordner enthaltenen Dokumente
seien keine Sachen im Sinne von Art. 140 StGB; jedenfalls seien sie
höchstens Sachen von geringem Wert im Sinne von Art. 142 StGB, dessen
Anwendung jedoch vorliegend mangels eines rechtsgültigen Strafantrags
ausgeschlossen sei. Er weist zudem auf den von den kantonalen Instanzen
seines Erachtens nicht berücksichtigten Umstand hin, dass sämtliche im
fraglichen Ordner enthaltenen Dokumente im Doppel vorlagen, so dass der
G. der im Informationswert liegende wirtschaftliche Wert der Dokumente
nicht entzogen worden sei, weshalb eine Verurteilung gemäss Art. 140 StGB,
ein Vermögensdelikt, nicht in Betracht falle.

    a) Die im fraglichen Ordner enthaltenen Dokumente sind, auch wenn sie
keine Wertpapiere darstellen, offensichtlich Sachen im Sinne von Art. 140
Ziff. 1 Abs. 1 StGB, die sich der Beschwerdeführer aneignen konnte, und
zwar auch dann, wenn die G. noch im Besitze von Doppeln blieb (vgl. BGE
114 IV 136 E. 2a).

    b) Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind bei der
Beantwortung der Frage, ob eine Sache "von geringem Wert" (im Sinne von
Art. 138 und 142 StGB) sei, sowohl die objektiven als auch die subjektiven
Umstände des konkreten Falles zu würdigen (BGE 98 IV 27, 80 IV 242). Die
Vorinstanz vertritt unter Berufung auf diese Rechtsprechung die Auffassung,
dass die im Ordner "Lieferanten" enthaltenen Dokumente entgegen der
Meinung des Beschwerdeführers nicht von geringem Wert seien. Sie hält
zur Begründung fest, dass die fraglichen Dokumente für die im Aufbau
begriffene Unternehmung des Beschwerdeführers, im Rahmen der Erarbeitung
von Know-how und Geschäftsbeziehungen, einen beachtlichen Wert hatten.

    aa) Die zitierte bundesgerichtliche Rechtsprechung, wonach bei der
Beurteilung der Frage, ob eine Sache von geringem Wert sei, auch die
subjektiven Umstände des konkreten Falles zu berücksichtigen sind, wird
von der heute herrschenden Lehre abgelehnt und auch von verschiedenen
kantonalen Gerichten nicht befolgt (siehe STRATENWERTH, Bes. Teil I, §
8 N 72, 125 f.; BJM 1979 S. 149; TRECHSEL, Kurzkommentar, Art. 138 N 3
mit zahlreichen weiteren Hinweisen). Die Kritik richtet sich dabei vor
allem gegen die Berücksichtigung der konkreten Tätersituation, die zur
Folge hat, dass eine Sache von einem bestimmten Wert von bspw. Fr. 100.--
für einen wohlhabenden Täter geringwertig, für einen mittellosen Täter
dagegen nicht von geringem Wert ist.

    An der Rechtsprechung kann nicht festgehalten werden. Bei Sachen mit
einem Marktwert bzw. einem objektiv bestimmbaren Wert ist allein dieser
entscheidend. Bei Sachen ohne Marktwert bzw. bestimmbaren Wert ist
massgebend, welchen Wert die Sache im konkreten Fall für das Opfer hat;
dabei kann auch berücksichtigt werden, welchen Geldbetrag der Täter dem
Opfer für die Sache zu zahlen bereit wäre.

    Es ist davon auszugehen, dass die im Ordner "Lieferanten" enthaltenen
Dokumente keinen Marktwert bzw. objektiv bestimmbaren Wert haben.

    bb) Die im fraglichen Ordner enthaltenen Dokumente waren für
die G. insoweit von geringem Wert, als sie davon weitere Exemplare
besass. Dabei spielt es keine Rolle, ob der G. das Original oder eine Kopie
verblieb. Original und Kopie sind hinsichtlich ihres Informationsgehalts
gleichwertig; sie sind auch in bezug auf ihre Beweismitteleigenschaft
gleichwertig, da heute im gewöhnlichen Geschäftsverkehr auch Kopien
Beweiseignung zukommt (vgl. dazu BGE 114 IV 26 ff., 115 IV 57). Der
vorliegende Fall kann nicht dem BGE 114 IV 137 zugrunde liegenden Fall
gleichgestellt werden, in welchem der Täter zum Nachteil des Staates die
Originale von Steuerakten veruntreut hatte.

    cc) Die Vorinstanz wird demnach abklären müssen, von welchen und
wie vielen Dokumenten, die im Ordner "Lieferanten" enthalten waren, der
G. kein Exemplar, sei es das Original oder eine Kopie, mehr zur Verfügung
stand. Sie wird sodann zu entscheiden haben, ob die Gesamtheit dieser
Dokumente für die G. von geringem Wert war oder nicht. Der Kassationshof
kann diese Frage mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen im
angefochtenen Urteil nicht selber beantworten.