Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 II 86



116 II 86

14. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 30. Januar 1990
i.S. Frau M. gegen Erben der Eheleute S. (Berufung) Regeste

    Art. 43 ff. OG. Zulässigkeit der Berufung gegen die 1989 vorgenommene
Erläuterung eines Urteils aus dem Jahr 1960. Umfang der Prüfung im
Berufungsverfahren (E. 3 und 4).

Sachverhalt

    A.- Die 1930 geborene Frau M. wurde am 30. Mai 1956 von einem
Lastwagen, dessen Halter S. war, angefahren und schwer verletzt. Es
mussten ihr in der Folge beide Beine am Oberschenkel amputiert werden.

    S. wurde vom Kantonsgericht Wallis mit Urteil vom 22. Juni/9. September
1960 u.a. verpflichtet (Ziffer 9 des Dispositivs), Frau M. (Klägerin)
"als Schadenersatz für bleibende Arbeitsunfähigkeit ab Datum des Urteils"
zu bezahlen:

    "a) eine Kapitalsumme von Fr. 42'758.40 mit Zins zu 5% ab

    22. Juni 1960;

    b) eine monatlich vorauszahlbare Rente von Fr. 170.--, zu deren

    Sicherstellung der Beklagte ... eine Hypothek ... von Fr. 42'758.40
   zu bestellen hat ..."

    Das Kantonsgericht bezifferte in seinen Erwägungen die jährliche
Erwerbseinbusse zufolge der seit dem 22. Juni 1960 verbleibenden
Arbeitsunfähigkeit mit Fr. 4'080.-- und kapitalisierte den Schaden aufgrund
des mittleren Termins zwischen Aktivität und Mortalität mit Fr. 85'516.80.
Angesichts der finanziellen Leistungsfähigkeit des Verpflichteten sollte
nur die Hälfte des Kapitals (Fr. 42'758.40) sogleich zahlbar sein, während
"zur andern Hälfte" die erwähnte Rente von - entsprechend einem Zwölftel
der halben jährlichen Erwerbseinbusse von Fr. 2'040.-- - monatlich
Fr. 170.-- zuerkannt wurde.

    B.- Nachdem die Rente bis Mai 1988 ausgerichtet worden war, stellten
die Erben der Eheleute S. (nachstehend Beklagte) die Zahlungen ein. Auf
das Erläuterungsgesuch der Beklagten hin erkannte das Kantonsgericht
mit Entscheid vom 26. Mai 1989, das Dispositiv des Urteils vom
22. Juni/9. September 1960 werde dahin erläutert, dass der Klägerin die
monatliche Rente von Fr. 170.-- "nur bis zur Gesamtsumme von Fr. 42'758.40
zu entrichten" sei.

    C.- Die Klägerin führt Berufung an das Bundesgericht mit dem Antrag,
die Beklagten zu verpflichten, ihr die monatliche Rente von Fr. 170.--
bis zum 81. Lebensjahr zu bezahlen. Die Beklagten schliessen auf Abweisung
der Berufung, soweit auf sie einzutreten sei.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Indem das Kantonsgericht das Erläuterungsgesuch der Beklagten
gutgeheissen hat, ist das Urteil vom Juni/September 1960 ergänzt worden
mit der Folge, dass das erläuterte Urteil das von Anfang an richtige
ist. Da der Erläuterungsentscheid vom 26. Mai 1989 das ursprüngliche Urteil
materiell geändert bzw. präzisiert hat, ist in diesem Zeitpunkt eine neue
Berufungsfrist in Gang gesetzt worden (vgl. BGE 69 IV 57; BIRCHMEIER,
Bundesrechtspflege, S. 218 N. 4; allgemein GULDENER, Zivilprozessrecht, S.
537).

    Das Berufungsverfahren bleibt indessen auf die Erläuterung
beschränkt. Am 26. Mai 1989 hat die Vorinstanz allein das Urteil vom
Juni/September 1960 erläutert, weshalb der mit der Berufung eingereichte
Pfandvertrag vom 14. April 1961 zum vornherein unbeachtlich ist. Gegenstand
der Berufung können sodann einzig diejenigen erläuternden Anordnungen
sein, die zu einer Änderung der 1960 geschaffenen Rechtslage geführt
haben; die Berufung kann sich deshalb nur gegen diese Anordnungen und
die ihnen zugrundeliegenden Erwägungen, nicht aber gegen Bestandteile des
ursprünglichen Urteils richten, die der Erläuterungsentscheid unberührt
lässt. Aus dem Zulässigkeitserfordernis der Beschwer ergibt sich die
weitere Einschränkung, dass auf die Berufung nur insoweit einzutreten
ist, als die erläuternden Anordnungen das Dispositiv des ursprünglichen
Urteils inhaltlich zum Nachteil des Berufungsklägers abändern; an einem
Berufungsentscheid darüber, ob erläuterte Entscheidungsgründe, die keinen
Einfluss auf den Urteilsspruch haben, bundesrechtskonform sind, besteht
kein Rechtsschutzinteresse (BGE 111 II 399 E. 2b mit Hinweis). Die letzte
Einschränkung ergibt sich aus dem Erfordernis eines Endentscheids im
Sinne von Art. 48 Abs. 1 OG. Die Berufung gegen Erläuterungsentscheide
steht nur offen, wenn erst die Erläuterung den Prozess endgültig beendet,
die Erläuterung also das vorausgegangene Erkenntnisverfahren fortsetzt,
indem das erkennende Gericht im Erläuterungsverfahren materiell
urteilt und dadurch einen Endentscheid herbeiführt (BGE 104 II 217
E. 2). Hätte im vorliegenden Fall der Vollstreckungsrichter etwa in
einem Rechtsöffnungsverfahren die Tilgung der Rentenschuld bejaht, läge
kein berufungsfähiger Endentscheid vor (BGE 96 I 2 E. 1 mit Hinweis;
BIRCHMEIER, S. 163 f.).

    Der Gegenstand der vorliegenden Berufung entspricht diesen
Voraussetzungen. Während Ziffer 9b des Dispositivs des ursprünglichen
Urteils die Rentendauer nicht begrenzte, nahm das erkennende Gericht
am 26. Mai 1989 zuungunsten der Klägerin an, die Rente sei gemäss den
Erwägungen des erläuterten Urteils nur so lange geschuldet, bis die
bezahlte Rentensumme die ausstehende Hälfte der Kapitalschuld von
Fr. 42'758.40 erreiche; das ergibt eine Begrenzung der Rentendauer
auf 21 Jahre (Fr. 42'758.40, dividiert durch 12, multipliziert mit
Fr. 170.--). Die Klägerin macht geltend, der bundesrechtliche Anspruch auf
volle Entschädigung berechtige sie zu einer Rente bis zum 81. Altersjahr
als Mitteltermin zwischen Aktivität und Mortalität. Damit ficht sie
zu Recht weder die vom Erläuterungsentscheid unberührt gebliebene
Kapitalisierung noch die Rentenhöhe, sondern einzig die neu bestimmte
Begrenzung der Rentendauer an, deren Bundesrechtskonformität nach Massgabe
derjenigen Erwägungen des Kantonsgerichts zu prüfen ist, die Gegenstand
des Erläuterungsentscheids bilden.

Erwägung 4

    4.- Die Begrenzung wird im Erläuterungsentscheid damit begründet,
dass im ursprünglichen Urteil zur Hälfte die Auszahlung des Rentenkapitals
verfügt und "zur anderen Hälfte" eine monatliche Rente von Fr. 170.--
angeordnet worden sei, weshalb der Klägerin nur bis zur Summe von Fr.
42'758.40 Renten zustünden.

    a) Indem das Kantonsgericht die Renten als Raten zur Abzahlung
des halben Kapitalbetrags qualifiziert, der die halbe Erwerbseinbusse
aus künftiger Invalidität ersetzen soll, verletzt es den Anspruch der
Klägerin, ihren Schaden durch eine Rente ersetzt zu erhalten, deren Dauer
sich gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung für Hausfrauen nach dem
arithmetischen Mittel zwischen Aktivität und Mortalität bemisst (BGE
113 II 351 f. E. 2b). Die im angefochtenen Entscheid verfügte Begrenzung
der Rentendauer wäre nur dann bundesrechtskonform gewesen, wenn es die
Abwendung einer Notlage des Pflichtigen geboten hätte (Art. 44 Abs. 2
OR), die Rentenverpflichtung auf die Abzahlung der zweiten Kapitalhälfte
durch Monatsraten zu beschränken und auf die Verzinsung des ratenweise
zu tilgenden Kapitals zu verzichten (OFTINGER, Haftpflichtrecht, 4. A.,
Bd. I, S. 67 Fn 62). Diese Ermässigung hatte das Kantonsgericht dem
haftbaren Halter im Jahr 1960 jedoch nicht zugebilligt, weshalb eine solche
Reduktion auch nicht Gegenstand des Erläuterungsentscheids sein konnte. Im
ursprünglichen Urteil trug das Kantonsgericht der Leistungsfähigkeit des
Halters lediglich dadurch Rechnung, dass es gestützt auf Art. 43 Abs. 1
OR die Art der Zahlung regelte und - ohne Reduktion der Ersatzpflicht -
verfügte, der künftige Invaliditätsschaden sei zur Hälfte in Kapitalform
und "zur andern Hälfte" durch Rentenzahlungen zu ersetzen. Dementsprechend
berechnete es die Rentenhöhe von monatlich Fr. 170.-- ausschliesslich
aufgrund der Hälfte der invaliditätsbedingten jährlichen Erwerbseinbusse
(Fr. 2'040.-- dividiert durch 12). Die Renten können deshalb nicht bloss
Abzahlungsraten sein, welche die Kapitalschuld bereits nach 21 Jahren
oder im 51. Altersjahr der Klägerin getilgt hätten. Daran ändert die
Beschränkung der Sicherstellung auf die zweite Kapitalhälfte nichts;
diese Beschränkung begrenzt lediglich die Pfandhaft und legt nicht die
Höhe der Rentenverpflichtung fest.

    b) Dass die fehlende Begrenzung der Rentendauer in Ziffer 9b des
erläuterten Urteils eine erläuterungsbedürftige Lücke darstellt, nimmt
das Kantonsgericht in Anwendung des kantonalen Prozessrechts an, welches
der Überprüfung im Berufungsverfahren entzogen ist (Art. 43 Abs. 1 OG);
soweit die Klägerin die Erläuterungsbedürftigkeit bestreitet, ist ihre
Rüge ebensowenig zu hören (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG) wie ihr Einwand,
die Vorinstanz habe die Dispositionsmaxime verletzt (BGE 109 II 460
E. 5d). Nachdem feststeht, dass die im Erläuterungsentscheid angesetzte
Begrenzung gegen Bundesrecht verstösst, ist dieser Entscheid aufzuheben
und die Rentendauer in Erläuterung des Dispositivs so zu bestimmen,
dass sie den bundesrechtlichen Anspruch auf Zusprechung einer Rente nach
dem Mittel zwischen Aktivität und Mortalität wahrt. Da der im Jahr 1960
ergangene Entscheid zu erläutern ist, sind dem Berufungsentscheid die in
diesem Zeitpunkt herrschenden Verhältnisse und nicht die Verhältnisse
im Jahr 1989 zugrunde zu legen, was die Klägerin mit ihrer Auffassung,
die Rente dauere bis zum 81. Altersjahr, verkennt. Das Bundesgericht
hat deshalb von den statistischen Unterlagen auszugehen, wie sie den
Barwerttafeln Stauffer/Schaetzle der 2. Auflage 1958 zu entnehmen sind.

    Im Zeitpunkt des ursprünglichen Urteils war die Klägerin 30
Jahre alt. Ihre damalige statistische Aktivitätsdauer betrug 38,47,
die Lebenserwartung 47,04 Jahre. Daraus ergibt sich ein arithmetisches
Mittel von 42,75 oder 42 Jahren und 9 Monaten. Stichtag der Berechnung
ist im ursprünglichen Urteil der 22. Juni 1960. Die Rente von Fr. 170.--
dauert somit bis Ende März 2003, wenn die Klägerin nicht vorher stirbt.