Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 II 639



116 II 639

113. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 19. Dezember 1990
i.S. S. gegen K. Ltd. und IHK-Schiedsgericht Zürich (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Internationale Schiedsgerichtsbarkeit.

    - Klare Äusserung des Verzichtswillens als Voraussetzung des
Rechtsmittelverzichts nach Art. 192 Abs. 1 IPRG (E. 2c).

    - Entgegen dem deutschen und italienischen Wortlaut regelt Art. 190
Abs. 2 lit. c IPRG keinen Fall der fehlenden Zuständigkeit, jedoch auch
den Fall, dass ein Schiedsgericht ultra petita entscheidet (E. 3a).

    - Inhalt der Grundsätze der Gleichbehandlung und des rechtlichen
Gehörs nach Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG (E. 4c).

Sachverhalt

    A.- Am 12. April 1974 schlossen die algerische S. und die
englische K. Ltd. einen Vertrag über die Durchführung von Ölbohrungen
in Algerien. Art. 24 des Vertrags sah vor, dass ein IHK-Schiedsgericht
mit Sitz in Zürich über Streitigkeiten entscheide, wobei algerisches
Recht anwendbar sei. In der Folge importierte die K. umfangreiche
Produktionsanlagen und Einrichtungen nach Algerien und nahm dort ihre
Tätigkeit auf. Wegen zahlreicher Schwierigkeiten stellte sie ihren Betrieb
ein. Mit Ausnahme von vier Bohrtürmen blieb das Material in Algerien und
ging dort für die K. verloren, wofür sie die S. verantwortlich machte.

    B.- Am 2. Juni 1986 leitete die K. gegen die S. das
IHK-Schiedsverfahren ein. Sie machte beim Zürcher IHK-Schiedsgericht
Erfüllungs- und Schadenersatz- sowie Zinsansprüche in der Höhe von
insgesamt US-$ 48'618'971.-- geltend (Hauptforderung $ 22'922'242.--;
Zinsforderung $ 25'696'729.--). Die Beklagte erhob Widerklage u.a. auf
Zahlung von $ 3'418'330.70 sowie $ 577'912.14 Verzugszinsen. Mit Urteil vom
23. April 1990 schützte das Schiedsgericht die Klage für $ 14'235'293.63
und wies die Widerklage ab. Die Beklagte ficht das Schiedsurteil erfolglos
mit staatsrechtlicher Beschwerde an.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- c) Zu Recht bestreitet die Klägerin nicht, dass die Parteien keinen
Rechtsmittelverzicht gemäss Art. 192 Abs. 1 IPRG vereinbart haben. Nach
der genannten Vorschrift hätte ein solcher Verzicht "ausdrücklich"
erfolgen müssen. Dafür genügt nach einhelliger Lehrmeinung nicht, dass die
Parteien in der Schiedsvereinbarung auf die IHK-Verfahrensregeln verwiesen
haben, die ihrerseits in Art. 24 Schiedsurteile für endgültig erklären
(ANDREAS BUCHER, Die neue internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der
Schweiz, S. 144 N. 401; LALIVE/POUDRET/REYMOND, Le droit de l'arbitrage
interne et international en Suisse, S. 449 N. 2 zu Art. 192 IPRG; ROBERT
BRINER, Die Anfechtung und Vollstreckung des Schiedsentscheides, in:
Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit in der Schweiz, S. 99 ff.,
102). Auch der vereinbarte Ausschluss eines jeden Rechtsmittels ("sans
appel") genügte nicht für einen gültigen Verzicht (LALIVE ET AL.,
aaO). Angesichts seiner Tragweite setzt ein solcher vielmehr voraus,
dass die Parteien ihren Verzichtswillen klar zum Ausdruck bringen,
indem sie auf das Rechtsmittel Bezug nehmen und darauf verzichten
(BRINER, aaO). Im Gegensatz zur Ausschlussvereinbarung nach Art. 176
Abs. 2 IPRG wird bei Art. 192 IPRG nicht nur das Verfahren gemäss
IPRG durch ein kantonales Verfahren ersetzt, das auch eine Überprüfung
zulässt, sondern die Überprüfung durch ein staatliches Gericht überhaupt
ausgeschlossen. Wenn für die Ausschlussvereinbarung nach Art. 176 Abs. 2
IPRG die eindeutige Kundgabe des Parteiwillens verlangt wird (BGE 115 II
390), muss dies um so mehr für den Rechtsmittelverzicht nach Art. 192
IPRG gelten. Da kein gültiger Verzicht vorliegt, kann offenbleiben, ob
ein Rechtsmittelverzicht nicht auch deshalb unbeachtlich wäre, weil die
Schiedsvereinbarung in Art. 24 des Vertrags vom 12. April 1974 unter der
Herrschaft des Zürcher Prozessrechts abgeschlossen worden ist, nach dem
ebenso wie unter der Ordnung des Schiedsgerichtskonkordats nicht gültig auf
die Anfechtung von Schiedsurteilen verzichtet werden konnte (BRINER, aaO).

Erwägung 3

    3.- Die Beklagte beruft sich einmal auf den Beschwerdegrund von
Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG, weil das Schiedsgericht der Klägerin mehr
als 8 Mio. Dollar entgangenen Gewinn zuerkannt habe, obwohl ihm dieser
Streitpunkt nicht unterbreitet worden sei. Die Klägerin habe sodann für
verlorene Ersatzteile lediglich $ 75'000.-- verlangt und $ 190'852.--
zugesprochen erhalten.

    a) Nach Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG kann ein Schiedsurteil angefochten
werden, wenn das Schiedsgericht über Streitpunkte entschieden hat,
die ihm nicht unterbreitet worden sind, oder wenn es Rechtsbegehren
unbeurteilt gelassen hat. Damit ist im deutschen und auch italienischen
Gesetzestext wörtlich der Nichtigkeitsgrund von Art. 36 lit. c des
Schiedsgerichtskonkordats übernommen worden. Nach der Lehre und
Rechtsprechung zu dieser Vorschrift wird darin einerseits der Fall
geregelt, dass das Schiedsgericht über eine Frage entscheidet,
für deren Beurteilung es nicht zuständig ist, da sie von der
Schiedsvereinbarung nicht erfasst wird; es handelt sich dabei um
einen Sonderfall der fehlenden Zuständigkeit, wo es zwar nicht an
einer wirksamen Schiedsabrede überhaupt fehlt, diese jedoch für einen
speziellen, vom Schiedsgericht beurteilten Streitpunkt nicht gegeben
ist. Anderseits hat Art. 36 lit. c des Schiedsgerichtskonkordats
den Fall zum Gegenstand, dass das Schiedsgericht Begehren unbeurteilt
lässt, obwohl es zur Beurteilung zuständig wäre (unveröffentlichtes
Urteil der I. Zivilabteilung vom 1. Mai 1990 i.S. C. gegen S., E. 4c;
JOLIDON, Kommentar, S. 512 N. 62 f. zu Art. 36 Schiedsgerichtskonkordat;
RÜEDE/HADENFELDT, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, S. 344 f.; LALIVE
ET AL., aaO, S. 209 f. N. 4c zu Art. 36 Schiedsgerichtskonkordat). In
Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG des deutschen und italienischen Textes nicht
ausdrücklich übernommen worden ist dagegen der Beschwerdegrund von Art. 36
lit. e des Schiedsgerichtskonkordats, wonach ein Schiedsurteil angefochten
werden kann, wenn es einer Partei mehr oder anderes zuspricht, als sie
verlangt hat.

    Selbstredend muss auch unter dem neuen Recht das Verbot gelten, den
Parteien mehr oder anderes als das Verlangte zuzusprechen. Dies ergibt sich
klar aus dem französischen Gesetzestext von Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG,
laut dem ein Schiedsurteil angefochten werden kann, wenn das Schiedsgericht
"... a statué au-delà des demandes dont il était saisi ou lorsqu'il a
omis de se prononcer sur un des chefs de la demande". Der im deutschen
und italienischen Text genannte Beschwerdegrund des Entscheids über nicht
unterbreitete Streitpunkte ("punti litigiosi ... non ... sottoposti")
erscheint in der französischen Fassung zu Recht nicht, da dieser
Beschwerdegrund einen Sonderfall der fehlenden Zuständigkeit darstellt,
den bereits Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG abdeckt, wonach ein Schiedsurteil
der Anfechtung unterliegt, wenn sich das Schiedsgericht zu Unrecht für
zuständig oder unzuständig erklärt (LALIVE ET AL., aaO, S. 425 N. 5c zu
Art. 190 IPRG).

    Zusammenfassend ergibt sich entsprechend dem französischen
Gesetzestext, dass gegen die Beurteilung von Ansprüchen, für die das
Schiedsgericht wegen fehlender oder begrenzter Schiedsvereinbarung nicht
zuständig ist (extra potestatem), ausschliesslich der Beschwerdegrund von
Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG offensteht. Demgegenüber hat Art. 190 Abs. 2
lit. c IPRG nicht nur den Fall zum Gegenstand, dass das Schiedsgericht
Rechtsbegehren unbeurteilt lässt, wie der deutsche und italienische
Gesetzestext vermuten lassen, sondern entsprechend der französischen
Fassung auch den Fall, dass das Schiedsgericht mehr oder anderes zuspricht,
als verlangt worden ist (ultra petita).

Erwägung 4

    4.- c) Schliesslich erhebt die Beklagte zahlreiche weitere Rügen der
Gehörsverweigerung, die sich über die ganze Beschwerdeschrift verstreut
finden und in den verschiedensten Zusammenhängen vorgebracht werden. Teils
wird der Vorwurf der Gehörsverweigerung als Synonym für die Verletzung des
Ordre public gebraucht, teils sollen Gehörsverweigerungen darin liegen,
dass das Schiedsgericht einzelne Beweise nicht oder nicht nach den
Vorstellungen der Beklagten gewürdigt oder aus der Beweiswürdigung trotz
Gegenargumenten der Beklagten andere rechtliche Schlussfolgerungen
gezogen habe. Einen Bezug zu konkreten verfahrensrechtlichen
Fragen weisen lediglich die Beschwerdevorbringen auf, soweit dem
Schiedsgericht vorgeworfen wird, es habe im Widerspruch zum Verfahren
gemäss Schiedsauftrag und anderen Dokumenten nicht für Klarheit über
die Beweisthemen gesorgt und von der Gegenpartei Ende 1987 oder anfangs
1988 schriftliche Zeugenerklärungen eines Herrn M. als Beweismittel
entgegengenommen, von denen die Beklagte habe annehmen dürfen, es handle
sich nur um eine "Art Parteieingabe" mit noch zu beweisenden Behauptungen,
gegen die ihr der Gegenbeweis hätte zugestanden werden müssen, weshalb
auch der Grundsatz der Gleichbehandlung verletzt sei.

    Mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und des rechtlichen Gehörs,
wie sie in Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG garantiert sind, haben die
Beschwerdevorbringen, mit denen die Beklagte den ganzen Prozess vor
Bundesgericht neu aufrollen will, nichts zu tun. Der Gehörsanspruch
gibt jeder Partei das Recht, sich über alle für das Urteil wesentlichen
Tatsachen zu äussern, ihren Rechtsstandpunkt zu vertreten, erhebliche
Beweisanträge zu stellen und an den Verhandlungen teilzunehmen. Das
kontradiktorische Verfahren soll es jeder Partei ermöglichen, die
Vorbringen der Gegenpartei zu prüfen, dazu Stellung zu nehmen und zu
versuchen, diese mit eigenen Vorbringen und Beweisen zu widerlegen (Urteil
des Bundesgerichts vom 23. Oktober 1989 i.S. S. gegen C. S.A., E. 2a,
publiziert in: Bulletin der Schweiz. Vereinigung für Schiedsgerichtsbarkeit
1990 S. 51 ff., S. 52).

    Dass die Beklagte ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu äussern und
zu den Vorbringen der Gegenpartei Stellung zu nehmen, geht aus ihrer
eigenen Darstellung des Verfahrens in der Beschwerde hervor. Danach
reichte sie am 29. September 1986 die Klageantwort ein, nahm am 2. und
3. Oktober 1987 an einer Verhandlung des Gerichts in Zürich teil, hatte
die Gelegenheit, am 1. Februar 1988 eine weitere "Mémoire en Réponse"
(97 Seiten, 83 Beilagen) einzureichen, nahm vom 12. bis 14. Februar 1988 an
Verhandlungen mit Zeugeneinvernahmen und Plädoyers teil und ergänzte ihre
Vorbringen am 13. Mai 1989 mit einer "Mémoire en Duplique" (81 Seiten,
zahlreiche Beilagen), worauf am 4. Juni 1989 die Schlussverhandlung in
Paris stattfand.

    Dass die Beklagte vom Schiedsgericht in irgendeinem Zeitpunkt
daran gehindert worden wäre, sich zu den Vorbringen der Gegenpartei zu
äussern und den eigenen Standpunkt zu vertreten, ist nicht ersichtlich,
und zwar auch nicht mit Bezug auf die beanstandeten schriftlichen
Zeugenerklärungen, gibt die Beklagte doch selbst zu, dass M. anlässlich
der Verhandlungen im Februar 1988 als Zeuge einvernommen worden sei. Dass
das Beweisverfahren mit einem Beweisbeschluss hätte eingeleitet werden
müssen, damit sich Gericht und Parteien über das Beweisthema im klaren
gewesen wären, mag dem zürcherischen Zivilprozessrecht entsprechen; aus
dem Gleichbehandlungs- und Gehörsanspruch lässt sich aber kein derartiges
Erfordernis ableiten. Ebensowenig verbieten es diese Grundsätze einem
Schiedsgericht, den Sachverhalt nur aufgrund der als tauglich und
erheblich erachteten Beweismittel festzustellen und über unbegründete
Einwände hinwegzugehen. Im übrigen hätte die Beklagte eine Verletzung der
verfahrensrechtlichen Grundsätze der Gleichbehandlung und des rechtlichen
Gehörs sogleich vor dem Schiedsgericht rügen müssen. Soweit ersichtlich
bringt sie diese Verfahrensrügen jedoch erstmals vor Bundesgericht und
damit verspätet vor (LALIVE ET AL., aaO, S. 356 N. 12 zu Art. 182 IPRG;
BGE 113 Ia 67 f.).