Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 II 431



116 II 431

80. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 22. Mai 1990 i.S. A.
gegen X. AG (Berufung) Regeste

    Streitwert (Art. 46 OG). Täuschung (Art. 28 OR). Kaufvertrag; Auslegung
nach dem Vertrauensgrundsatz.

    1. Streitwert der Wandelungsklage (Art. 46 OG) (E. 1).

    2. Das Verschweigen von Tatsachen ist nur dann ein täuschendes
Verhalten, wenn eine Aufklärungspflicht besteht (E. 3a).

    Bei der Auslegung eines Begriffs nach dem Vertrauensprinzip ist allein
entscheidend, welches Wissen ein Vertragspartner beim anderen nach Treu
und Glauben voraussetzen darf. Meinungen von Experten und Amtsstellen
sind unbeachtlich (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Mit Kaufvertrag vom 7. Juli 1981 erwarb A. von der X. AG einen
Personenwagen Fiat 131 CL Panorama. Der Kaufpreis von Fr. 14'640.-- war
durch Übergabe eines Mitsubishi Lancer 1200 zum Anrechnungspreise von Fr.
6'840.-- und eine Barzahlung von Fr. 7'800.-- zu tilgen. Im Formularvertrag
wurde in der Rubrik "fabrikneu/occasion" das zweite Wort gestrichen
und von Hand durch "neu" ersetzt. Am 9. Mai 1983 rügte A. zahlreiche,
in der Zwischenzeit eingetretene Mängel und warf der Verkäuferin vor,
sie habe ihr verschwiegen, dass ihr nicht ein Modell 1981, sondern ein
älteres verkauft worden sei.

    Gemäss Bericht des Strassenverkehrsamtes des Kantons Thurgau vom
25. Mai 1984 wurde das Fahrzeug am 7. November 1978 in die Schweiz
eingeführt und verzollt; am 13. Juli 1981 wurde es erstmals in Verkehr
gesetzt.

    B.- Am 9. Juli 1984 unterbreitete A. dem Bezirksgericht Kreuzlingen die
Rechtsbegehren, der Kaufvertrag vom 7. Juli 1981 sei wegen absichtlicher
Täuschung, eventuell wegen Grundlagenirrtums, als unverbindlich zu
erklären und aufzuheben; weiter sei die X. AG zu verpflichten, ihr
gegen Rückerstattung des Fiats den Betrag von Fr. 14'640.-- nebst
Zinsen, eventuell Fr. 4'000.-- nebst 5% Zins seit 7. Juli 1981 als
Kaufpreisminderung und Schadenersatz zu bezahlen.

    Das Bezirksgericht bejahte eine absichtliche Täuschung und schützte
die Klage mit Urteil vom 16. Dezember 1987/5. September 1988 gemäss
Eventualantrag im Betrage von Fr. 4'000.--; eine Rückgängigmachung
des Kaufvertrages hatte es wegen faktischer Genehmigung desselben
durch die Klägerin und des inzwischen erfolgten Weiterverkaufs des
Eintauschfahrzeuges abgelehnt.

    Das Obergericht des Kantons Thurgau wies am 6. Juli 1989 die Berufungen
beider Parteien ab und bestätigte den Entscheid des Bezirksgerichtes
Kreuzlingen.

    Auf ein kantonales Revisionsgesuch trat das Obergericht am 17. Oktober
1989 nicht ein.

    C.- Gegen das Urteil des Obergerichts vom 6. Juli 1989 hat die
Beklagte zugleich Berufung und staatsrechtliche Beschwerde eingereicht,
welch letztere das Bundesgericht mit Urteil vom heutigen Tag abgewiesen
hat. Mit der Berufung beantragt die Beklagte, das Urteil des Obergerichts
sei aufzuheben und die Klage abzuweisen, eventuell sei die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit beweismässig abgeklärt werde, ob die
Klägerin vor Abschluss des Kaufvertrages über das Alter des Fahrzeuges
orientiert worden sei.

    Die Klägerin beantragt, auf die Berufung sei mangels Streitwertes
nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 46 OG ist die Berufung nur zulässig, wenn der
Streitwert nach Massgabe der Rechtsbegehren, wie sie vor der letzten
kantonalen Instanz noch streitig waren, wenigstens Fr. 8'000.--
beträgt. Der Wert des Streitgegenstandes wird dabei durch das klägerische
Rechtsbegehren bestimmt (Art. 36 Abs. 1 OG).

    Der Streitwert für das Berufungsverfahren bemisst sich nach dem
Interesse, das für die Parteien unmittelbar vor der angefochtenen
kantonalen Entscheidung auf dem Spiele stand, wie denn auch in
materiellrechtlicher Beziehung in der Berufungsinstanz der Tatbestand
zu beurteilen ist, wie er der letzten kantonalen Instanz vorlag,
und neue Tatsachen nicht berücksichtigt werden können (BGE 89 II 198
mit Hinweis). In der Regel entscheidet das Interesse des Klägers an
der Leistung (BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 41). Verändert sich im
Verlaufe des Prozesses der Klageumfang, so ist diesem Umstand bei der Frage
nach der Berufungsfähigkeit ebenso wie bei den Kosten Rechnung zu tragen.
Hingegen hat eine Wertveränderung des Streitgegenstandes keinen Einfluss
auf den Streitwert (BGE 87 II 192 mit Hinweisen).

    In der Durchführungserklärung vom 5. Oktober 1988 zuhanden des
Obergerichts hielt die Klägerin an dem von ihr vor Bezirksgericht
gestellten Antrag auf vollumfänglichen Klageschutz fest. Die Beklagte
schloss auf Abweisung der Klage. Nach verbindlicher Feststellung im
vorinstanzlichen Urteil (Art. 63 Abs. 2 OG) blieb die Klägerin auch an
der Hauptverhandlung bei ihrem Hauptantrag und erhöhte lediglich den
mit dem Eventualbegehren verlangten Schadenersatz von 4'000 auf 6'000
Franken. Der Streitwert entspricht demnach entgegen der Auffassung
der Klägerin dem Betrag des mit dem Hauptbegehren zurückgeforderten
Kaufpreises von Fr. 14'640.--, ohne Berücksichtigung des Wertes des Zug
um Zug herauszugebenden Kaufsobjektes (BGE 45 II 101).

    Auf die Berufung ist deshalb einzutreten.

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht ging gestützt auf die von der ersten Instanz
veranlassten Expertise davon aus, dass ein ungebrauchtes Fahrzeug mit
einer Standzeit von mehr als einem Jahr wegen möglicher Standschäden
nicht mehr als fabrikneu verkauft werden dürfe, ohne das Herstellungs-
bzw. Modelljahr und/oder das Verzollungsdatum anzugeben. Da die
Beklagte gewusst habe, dass das Fahrzeug im November 1978 in die
Schweiz eingeführt worden sei, habe sie ihre Offenbarungspflicht als
Verkäuferin verletzt und damit einen Gewährsmangel des Kaufgegenstandes
arglistig verschwiegen. Da eine absichtliche Täuschung vorliege, seien
die Gewährleistungsansprüche der Klägerin gemäss Art. 210 Abs. 3 OR noch
nicht verjährt. Weil die Klägerin das Fahrzeug während mehrerer Jahre
benutzt habe, sei eine Rückgängigmachung des Kaufvertrages unmöglich, was
jedoch Schadenersatzansprüche gemäss Art. 31 Abs. 3 OR nicht ausschliesse.

    a) Ein täuschendes Verhalten nach Art. 28 OR besteht in einer
Vorspiegelung falscher Tatsachen oder im Verschweigen von Tatsachen
(BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil,
2. Aufl. 1988, S. 218 f.). Tatsachenverschweigung ist nur verpönt, soweit
eine Aufklärungspflicht besteht; eine solche kann sich aus besonderer
gesetzlicher Vorschrift und aus Vertrag ergeben, oder wenn eine Mitteilung
nach Treu und Glauben und den herrschenden Anschauungen geboten ist. Wann
dies zutrifft, ist im konkreten Einzelfall zu bestimmen (BUCHER, aaO,
S. 220). Keine Offenbarungspflicht besteht, wenn der Verkäufer nach
Treu und Glauben annehmen durfte, die Gegenpartei werde den richtigen
Sachverhalt ohne weiteres erkennen (GIGER, Berner Kommentar, N. 43 zu
Art. 199 OR).

    Was die Parteien unter der Bezeichnung "fabrikneu/neu" in guten Treuen
verstehen durften und mussten, ist nach dem Vertrauensprinzip auszulegen
(BGE 113 II 50; 112 II 253 E. c je mit weiteren Hinweisen). Dabei
ist nicht, wie dies die beiden Vorinstanzen getan haben, auf eine
Branchenusanz abzustellen, da die Klägerin offensichtlich nicht dem
entsprechenden Verkehrskreis angehört. Die objektivierte Auslegung
nach dem Vertrauensprinzip hat in diesem Fall ausschliesslich aus der
Sicht eines vernünftig und redlich urteilenden Menschen zu erfolgen
(SCHÖNENBERGER/JÄGGI, N. 195 zu Art. 1 OR). Für die Beantwortung dieser
Rechtsfrage kann daher nicht ein fachtechnisches Gutachten ausschlaggebend
sein. Die objektivierte Auslegung hätte nur dann hinter einem abweichenden
subjektiven Verständnis zurückzutreten, wenn die Parteien übereinstimmend
den Begriff der Fabrikneuheit anders, beispielsweise im Sinne von
"ungebraucht" verstanden hätten, oder der Klägerin bewusst gewesen wäre,
dass sie ein Exemplar eines früheren Produktionsjahres erwirbt.

    b) Die Beklagte bestreitet, dass der Tatbestand von Art. 210 Abs. 3 OR
erfüllt sei. Sie begründet dies hauptsächlich damit, ihr sei nicht bewusst
gewesen, dass sie das Fahrzeug nicht als "fabrikneu/neu" hätte bezeichnen
dürfen. Gemäss einer Verfügung des EJPD vom 29. Mai 1967 an die für den
Strassenverkehr zuständigen Direktionen der Kantone gelte ein Fahrzeug als
neu, das vor der Immatrikulation in der Schweiz nicht einen Kilometerstand
von mehr als 1000 km aufweise. Da sie von diesem amtlichen Neuheitsbegriff
ausgegangen sei, könne ihr keine willentliche Täuschung unterstellt werden.

    Diese Auffassung ist verfehlt. Bei der Auslegung eines Ausdrucks oder
Sprachgebrauchs nach dem Vertrauensprinzip kommt es nicht darauf an, was
Experten oder Amtsstellen darunter verstehen. Entscheidend ist allein,
welches Wissen ein Vertragspartner im betreffenden Verkehrskreis beim
anderen nach Treu und Glauben voraussetzen darf. Die Beklagte durfte nicht
annehmen, dass die branchenfremde Klägerin die erwähnte Sondernorm, die
an die Importeure und Hersteller von Motorfahrzeugen gerichtet ist, kenne.

    Das Nichtwissen der Klägerin war deshalb ohne Belang. Dagegen wusste
die Beklagte, dass sie ein fast drei Jahre altes Fahrzeug verkaufte. Allein
schon wegen der bei Massenfahrzeugen auch ohne Benutzung jährlich
zunehmenden Wertverminderung, aber auch weil der Wert eines Fahrzeugs
nicht unwesentlich von seinem Alter abhängt, wäre die Beklagte verpflichtet
gewesen, die Klägerin hierüber aufzuklären. Gemäss deutscher Rechtsprechung
und Lehre kann ein Fahrzeug, das zehn bis zwölf Monate vor dem Verkauf
hergestellt worden und das, abgesehen von der Überführungsfahrt, nicht
benutzt worden war, nur dann als fabrikneu bezeichnet werden kann, wenn
dieses Modell weiterhin hergestellt wird und wenn das Fahrzeug keine Mängel
aufweist (BGH NJW 1980, S. 1097). Auch im Lichte dieser Rechtsprechung
hat die Beklagte sich unredlich verhalten, indem sie das Fahrzeug im
Kaufvertrag als "fabrikneu/neu" bezeichnete, obwohl es annähernd drei
Jahre alt war seit 1980 nicht mehr hergestellt wurde.

    c) Den auch in der Berufung erhobenen Einwand, dass die Klägerin
zwischen einem älteren und zwei Modellen des Jahrgangs 1981 habe auswählen
können, hat das Bundesgericht bereits im Beschwerdeentscheid als rechtlich
unerheblich zurückgewiesen, so dass sich eine Stellungnahme dazu im
Berufungsverfahren erübrigt. Soweit die Berufungsvorbringen auf die
Rüge hinauslaufen, die Vorinstanz habe in willkürlicher antizipierter
Beweiswürdigung angenommen, die neu eingereichten Urkunden vermöchten
am Auslegungsergebnis nichts zu ändern, ist darauf im Berufungsverfahren
ohnehin nicht einzutreten (Art. 43 Abs. 1 OG a. E.).