Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 II 320



116 II 320

58. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. April 1990
i.S. Schmid AG Gattikon gegen WSI Wollspinnerei Interlaken AG und
Kammgarnspinnerei Interlaken AG in Konkurs (Berufung) Regeste

    Art. 718 Abs. 1 OR. Vertretungsmacht des Verwaltungsrates einer
überschuldeten Aktiengesellschaft.

    Die in Art. 718 Abs. 1 OR vorgesehene Beschränkung der
Vertretungsmacht kann nicht mehr ausschliesslich massgebend sein, wenn der
Gesellschaftszweck zufolge Konkursreife der Gesellschaft ohnehin nicht
mehr zu erreichen ist. Sind einschneidende Massnahmen zur Erhaltung des
Betriebes dringend geboten, verunmöglichen aber besondere Umstände eine
rechtzeitige Beschlussfassung durch die Generalversammlung, so rechtfertigt
es sich ausnahmsweise, dem Verwaltungsrat den nötigen Handlungsspielraum
zuzugestehen und seine Vertretungsmacht entsprechend zu erweitern (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die zur COOP-Gruppe gehörende Pent Holding Ltd. und die EMS-Chemie
Holding AG hielten seit Ende 1980 je die Hälfte des Aktienkapitals der
Kammgarnspinnerei Interlaken AG. Die beiden Aktionärinnen bestellten
einvernehmlich die Organe, fällten die unternehmerischen Entscheide,
brachten die zur Weiterführung des defizitären Betriebes nötigen Mittel
auf und verpflichteten sich als Bürgen. Schon im Jahre 1982 wurde die
Veräusserung der Kammgarnspinnerei Interlaken AG an Dritte ins Auge
gefasst. Übernahmeverhandlungen mit der Schmid AG Gattikon scheiterten
im Januar 1983, weshalb im März 1983 der Schweizerischen Bankgesellschaft
ein Mandat zur Vermittlung weiterer Interessenten erteilt wurde. Bereits
im Dezember 1982 hatte COOP jedoch ohne Wissen der EMS-Chemie Holding AG
auch separate Verhandlungen mit der Schmid AG Gattikon über die Übernahme
ihres hälftigen Anteils an der Kammgarnspinnerei Interlaken AG aufgenommen;
diese Verhandlungen führten am 14. April 1983 zu einer entsprechenden
Vereinbarung zwischen der Pent Holding Ltd. und der Schmid AG Gattikon. Die
EMS-Chemie Holding AG weigerte sich indessen, die Schmid AG Gattikon als
Aktionärin anzuerkennen und ihr den entsprechenden Anteil der bei ihr
deponierten Titel herauszugeben. Sie hinterlegte die Aktienzertifikate
und Einzelaktien mit Ausnahme der Pflichtaktien des Verwaltungsrates
bei der Schweizerischen Bankgesellschaft in Zürich mit der Weisung,
die Titel nur auf gemeinsames Verlangen der Pent Holding Ltd. und der
EMS-Chemie Holding AG herauszugeben. In der Zwischenzeit hatte die Bank
verschiedene Übernahmeinteressenten ausfindig gemacht, unter anderen die
Firma Südwolle der Gebrüder Steger in Nürnberg.

    Die Pent Holding Ltd. focht in der Folge ihren Vertrag vom 14. April
1983 mit der Schmid AG Gattikon beim Handelsgericht Zürich wegen
Grundlagenirrtums an. Die Schmid AG Gattikon ihrerseits machte am 11. Juli
1983 beim Bezirksgericht Imboden eine Klage gegen die EMS-Chemie Holding
AG auf Herausgabe der Titel für die von ihr gekauften Aktien anhängig.

    Nachdem die Kontrollstelle der Kammgarnspinnerei Interlaken AG am
30. Juni 1983 den Fortbestand der Unternehmung als in höchstem Masse
gefährdet bezeichnet und auf die Vorschriften von Art. 725 Abs. 2 und 3
OR aufmerksam gemacht hatte, wurde im August 1983 eine Zwischenbilanz
zu Veräusserungswerten erstellt, welche eine Unterbilanz von fast 5
Mio. Franken ergab. Angesichts dieser finanziellen Lage betrachtete man
seitens der Kammgarnspinnerei Interlaken AG die Bilanzdeponierung als
unausweichlich. An seiner Sitzung vom 13.-15. August 1983 beschloss der
Verwaltungsrat, sämtliche Aktiven des Unternehmens sowie einen Teil der
Passiven auf eine inzwischen vom Rechtsanwalt der EMS-Chemie Holding AG
unter der Firma Inkami AG gegründete Auffanggesellschaft zu übertragen
und die Kammgarnspinnerei Interlaken AG mit den restlichen, weiterhin von
COOP und der EMS-Chemie Holding AG verbürgten Passiven in Konkurs gehen zu
lassen. Mit der Inkami AG wurde zu diesem Zweck ein Übernahmevertrag und
ein öffentlich beurkundeter Liegenschaftskaufvertrag abgeschlossen. Eine
am 17. August 1983 durchgeführte ausserordentliche Generalversammlung,
zu welcher allerdings keine Vertreter der Schmid AG Gattikon eingeladen
worden waren, nahm Kenntnis von der Notwendigkeit der Bilanzdeponierung
und genehmigte die mit der Inkami AG geschlossenen Verträge einstimmig.

    Am 24. August 1983 wurde über die Kammgarnspinnerei Interlaken AG der
Konkurs eröffnet. Die Inkami AG, die an die Gebrüder Steger veräussert
wurde, änderte am 4. Oktober 1983 ihre Firma in WSI Wollspinnerei
Interlaken AG.

    B.- Am 5. Dezember 1983 erhob die Schmid AG Gattikon beim
Appellationshof des Kantons Bern Klage gegen die WSI Wollspinnerei
Interlaken AG und die Kammgarnspinnerei Interlaken AG in
Konkurs. Sie verlangte unter anderem, es seien sämtliche Beschlüsse
der ausserordentlichen Generalversammlung der Kammgarnspinnerei
Interlaken AG vom 17. August 1983 sowie der Übernahmevertrag und der
Liegenschaftskaufvertrag zwischen der Kammgarnspinnerei Interlaken AG
und der Inkami AG nichtig zu erklären.

    Mit Urteil vom 22. Juni 1989 stellte der Appellationshof fest, die
Beschlüsse der ausserordentlichen Generalversammlung der Kammgarnspinnerei
Interlaken AG vom 17. August 1983 seien nichtig; das Begehren auf
Nichtigerklärung des Übernahmevertrages und des Liegenschaftskaufvertrages
zwischen der Kammgarnspinnerei Interlaken AG und der Inkami AG hingegen
wies er ab.

    C.- Das Bundesgericht weist die von der Klägerin eingereichte Berufung
ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 718 Abs. 1 OR sind die zur Vertretung befugten Personen
ermächtigt, im Namen der Aktiengesellschaft alle Rechtshandlungen
vorzunehmen, die der Gesellschaftszweck mit sich bringen kann. Der
Appellationshof hält im angefochtenen Urteil fest, die Veräusserung
sämtlicher Aktiven des Unternehmens durch den Verwaltungsrat liege zwar
nicht mehr im Rahmen des Gesellschaftszwecks; aufgrund der besonderen
Umstände des vorliegenden Falles sei das Vorgehen des Verwaltungsrates der
Kammgarnspinnerei Interlaken AG aber dennoch gerechtfertigt gewesen. Nach
Ansicht der Klägerin verstösst diese Auffassung gegen Bundesrecht.

    a) Die Vorschrift von Art. 718 Abs. 1 OR wird in Lehre und
Rechtsprechung weit ausgelegt. Unter Rechtshandlungen, die der
Gesellschaftszweck mit sich bringen kann, sind nicht bloss solche zu
verstehen, die der Gesellschaft nützlich sind oder in ihrem Betrieb
gewöhnlich vorkommen; erfasst sind vielmehr ebenfalls ungewöhnliche
Geschäfte, sofern sie auch nur möglicherweise im Gesellschaftszweck
begründet sind, d.h. durch diesen zumindest nicht geradezu ausgeschlossen
werden (BGE 111 II 288 f.; 96 II 444 f., je mit Hinweisen; BÜRGI,
Zürcher Kommentar, N. 3 zu Art. 718 OR; MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER,
Grundriss des schweizerischen Gesellschaftsrechts, 6. Aufl. 1989, S. 288
f.; VON GREYERZ, SPR VIII/2, S. 210). Die Veräusserung des gesamten
Betriebes mit allen Aktiven der Gesellschaft liegt indessen nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich auch nicht mehr innerhalb
dieses weit umschriebenen Rahmens durch den Gesellschaftszweck gedeckter
Rechtshandlungen (unveröffentlichtes Urteil vom 7. April 1989 i.S. C.);
dem Verwaltungsrat ist es grundsätzlich verwehrt, in eigener Kompetenz
das ganze Unternehmen zu veräussern.

    Besondere Umstände können jedoch eine andere Betrachtungsweise
rechtfertigen. Die Beschränkung der Vertretungsmacht auf Rechtshandlungen,
die der Verfolgung des Gesellschaftszwecks dienen können, kann dann nicht
mehr massgebend sein, wenn dieser zufolge Konkursreife der Gesellschaft
ohnehin nicht mehr zu erreichen ist. Diesfalls muss es zulässig sein,
die Vertretungsmacht an anderen Kriterien zu orientieren, insbesondere
an den Interessen der Beschäftigten und der übrigen Gläubiger sowie
am Allgemeinwohl (vgl. THALMANN, Die Treuepflicht der Verwaltung der
Aktiengesellschaft, Diss. Bern 1975, S. 31 ff.). Ist die Aufgabe des
ursprünglichen Unternehmenszwecks zufolge Überschuldung der Gesellschaft
unausweichlich, so haben deren Organe das Recht und - zumindest moralisch
- auch die Pflicht, in anderer Hinsicht drohenden Schaden soweit möglich
zu verhindern oder zu begrenzen; es gilt, für die Betroffenen zu retten,
was noch zu retten ist. Dazu können insbesondere auch geeignete Massnahmen
zur Erhaltung des Betriebes dienen.

    Angesichts der kurzen gesetzlichen Einberufungsfrist (Art. 700
Abs. 1 OR) wird es im Regelfall allerdings auch hier möglich sein, die
nötigen Beschlüsse durch eine Generalversammlung fassen zu lassen. Soweit
das der Fall ist, ist - insbesondere bei Beschlüssen mit erheblicher
Tragweite - dieser Weg zu wählen. Eine Erweiterung der in Art. 718
Abs. 1 OR vorgesehenen Vertretungsmacht des Verwaltungsrates kann sich nur
rechtfertigen, wenn einerseits unverzügliches Handeln dringend geboten ist,
anderseits aber besondere Umstände eine rechtzeitige Beschlussfassung durch
die Generalversammlung als grundsätzlich zuständiges Organ verunmöglichen.

    b) Der Appellationshof hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt,
die Kammgarnspinnerei Interlaken AG sei im August 1983 massiv
überschuldet gewesen. An diese Feststellung, die die Klägerin in
ihrer staatsrechtlichen Beschwerde erfolglos angefochten hat, ist das
Bundesgericht im Berufungsverfahren gebunden (Art. 63 Abs. 2 OG). Ist
somit davon auszugehen, dass die Gesellschaft im massgeblichen Zeitpunkt
konkursreif war, so kann nach dem Gesagten für die Vertretungsmacht
ihrer Organe der - ohnehin nicht mehr zu erreichende - Gesellschaftszweck
nicht mehr das entscheidende Kriterium sein. Aus den Feststellungen im
angefochtenen Urteil geht überdies hervor, dass die Höhe der Überschuldung
ein weiteres Zuwarten nicht mehr zuliess, zumal die Gebrüder Steger,
die bereit waren, den Betrieb fortzuführen, ihr Übernahmeinteresse
bis Ende August 1983 limitiert hatten; an einer solchen Fortführung
aber bestand auf seiten der Arbeitnehmerschaft und der Öffentlichkeit
unbestrittenermassen ein gewichtiges Interesse. Gleichzeitig war die
Zuständigkeit an der Hälfte der Aktien und damit die entsprechende
Stimmberechtigung streitig und Gegenstand einer gerichtlichen
Auseinandersetzung; bei Stimmberechtigung der Klägerin wären sich zudem
zwei Inhaber von je 50% der Aktien gegenübergestanden, so dass angesichts
dieser Pattsituation das Zustandekommen eines Mehrheitsbeschlusses an einer
Generalversammlung ohnehin nicht hätte erwartet werden können. Unter diesen
Umständen erscheint es durchaus sachgerecht, dass der Appellationshof dem
Verwaltungsrat den gebotenen Handlungsspielraum zugestanden hat. Die Rüge
einer Verletzung von Bundesrecht ist unbegründet.

    c) Daran vermögen auch Art. 725 Abs. 2-4 OR nichts zu ändern;
die Berufung der Klägerin auf diese Vorschriften geht fehl. Die dort
vorgesehene Pflicht des Verwaltungsrates, bei Überschuldung der
Gesellschaft den Richter zu benachrichtigen, dient dem Schutz der
Interessen der Gläubiger (BÜRGI, aaO, N. 2 zu Art. 725 OR); kommt der
Verwaltungsrat seiner Anzeigepflicht nicht oder nur verspätet nach, haftet
er deshalb den Gläubigern für allfälligen dadurch verursachten Schaden
(Art. 754 Abs. 1 OR; BÜRGI, aaO, N. 11 zu Art. 725 OR). Eine Grundlage
für Ansprüche eines Aktionärs gegen die Gesellschaft oder gegen Dritte
vermögen Art. 725 Abs. 2-4 OR hingegen nicht abzugeben.