Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 II 295



116 II 295

52. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. Mai 1990
i.S. X. gegen Y. (Berufung) Regeste

    Invaliditätsschaden; Schadensberechnung; Genugtuung.

    1. Berechnung des Schadens infolge Erwerbsausfalls:
   a) massgebliches Jahreseinkommen (E. 3a); b) Kapitalisierung (E. 3c);
   c) Einbezug der Arbeitgeberbeiträge an AHV und Pensionskasse (E. 4).

    2. Bemessung der Genugtuung (E. 5). Ist von den am Verletzungstag
oder von den am Urteilstag geltenden Ansätzen auszugehen? (E. 5b).

Sachverhalt

    A.- X. erlitt als Folge einer Operation, bei welcher dem Chirurgen
Dr. Y. ein Kunstfehler unterlaufen war, eine irreversible Schädigung
der Muskulatur des linken Beines. Seit dem 31. Dezember 1978 übt er
seinen Beruf als Elektromonteur wegen Beinschmerzen nur noch halbtags
aus. Der Haftpflichtversicherer von Dr. Y., der mit Schreiben vom
22. November 1979 dessen Verantwortlichkeit für die Folgen der
Operation anerkannt hatte, bezahlte X. eine "Invaliditätsvergütung"
von Fr. 436'500.-- und eine Genugtuungssumme von Fr. 20'000.--. X. gab
sich mit den Versicherungsleistungen von insgesamt Fr. 456'500.-- nicht
zufrieden. Dr. Y. lehnte Mehrleistungen ab.

    B.- Am 6. März 1984 klagte X. beim Appellationshof des Kantons Bern
gegen Dr. Y. auf Bezahlung eines gerichtlich zu bestimmenden Betrages von
über Fr. 8'000.-- nebst Zins, welchen Antrag er in der Gerichtsverhandlung
dahingehend präzisierte, dass der Beklagte zur Bezahlung von Fr. 650'000.--
zu verurteilen sei. Der Appellationshof schützte die Klage mit Urteil vom
29. Juni 1989 im Umfang von Fr. 300'000.-- und wies sie im Mehrbetrag ab.

    C.- Das Bundesgericht heisst die vom Kläger eingereichte Berufung
teilweise gut und verurteilt den Beklagten, dem Kläger Fr. 365'000.--
zu bezahlen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Die Vorinstanz berechnet den Erwerbsausfall des Klägers für
die Zeit seit dem Schadensbeginn bis zum Urteilstag konkret. Sie stellt
fest, dass der Kläger im Jahre 1980 ein Bruttojahreseinkommen von Fr.
45'000.--, im Jahre 1985 ein solches von 54000.-- bis 56'400.-- hätte
erzielen können, schätzt den hypothetischen Bruttoverdienst für das Jahr
1988 auf Fr. 61'000.-- und geht demgemäss für die Schadensberechnung von
einem jährlichen Durchschnittseinkommen von Fr. 55'000.-- aus. Insoweit
ist ihr Urteil unangefochten geblieben. Der Kläger rügt jedoch,
dass der Appellationshof dasselbe jährliche Durchschnittseinkommen
von Fr. 55'000.-- auch der Schadensermittlung für die Zeit nach dem
Urteilstag zugrunde legt. Seiner Ansicht nach wäre hier auf den zum
Zeitpunkt der Urteilsfällung aktuellen Jahresverdienst, mithin auf das
für 1988 geschätzte Einkommen von Fr. 61'000.-- abzustellen. Der Beklagte
äussert sich in seiner Berufungsantwort ebenfalls dahin, dass vom aktuellen
Bruttojahreslohn auszugehen sei.

    aa) Den künftigen Erwerbsausfall des Geschädigten hat der
Richter aufgrund statistischer Werte zu schätzen. Dabei hat er nach
schweizerischer Rechtsauffassung soweit möglich die konkreten Umstände
des zu beurteilenden Falles zu berücksichtigen (BGE 113 II 347 E. a mit
Hinweisen). Das gilt auch für das hypothetische Einkommen des Geschädigten,
das der Schadensberechnung zugrunde gelegt wird. Bei dessen Ermittlung
hat daher die konkrete Einkommenssituation des Betroffenen vor der
Verletzung als Anhalts- und Ausgangspunkt zu dienen (BGE 99 II 217
E. 3c; 89 II 232). Das heisst jedoch nicht, dass sich der Richter mit
der Feststellung des bisherigen Verdiensts begnügen dürfte; massgebend
ist vielmehr, was der Geschädigte in der Zukunft jährlich verdient hätte
(STAUFFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln, 4. Aufl. 1989, S. 242 Rz. 686). Das
hypothetische künftige Durchschnittseinkommen aber lässt sich realistisch
einzig in der Weise bestimmen, dass zunächst das Einkommen ermittelt wird,
das der Geschädigte ohne die Verletzung gegenwärtig, d.h. zum Zeitpunkt
der Urteilsfällung erzielt hätte, und sodann auch die zu erwartenden
künftigen Reallohnsteigerungen mitberücksichtigt werden (vgl. BGE 91 II
427 f. E. 4b).

    bb) Gegen diese Grundsätze verstösst der Appellationshof, wenn er
statt vom aktuellen Jahresverdienst, von einem Mittelwert zwischen diesem
und dem Verdienst des Klägers vor dem Schadenseintritt ausgeht. Die
vorinstanzliche Schadensberechnung ist daher insofern zu berichtigen
und der Schadensberechnung in Übereinstimmung mit der Auffassung beider
Parteien statt ein Jahreseinkommen von Fr. 55'000.-- ein solches von
Fr. 61'000.-- zugrunde zu legen; dass darüber hinaus noch zu erwartende
künftige Reallohnsteigerungen zu berücksichtigen seien, macht der Kläger
nicht geltend.
   (...)

    c) Für die Kapitalisierung des künftigen Erwerbsausfalls ist
nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich die Tafel
20 von STAUFFER/SCHAETZLE massgebend, die auf der Annahme einer
durchschnittlichen, über das 65. Altersjahr hinausgehenden Aktivität
beruht. Der Appellationshof hat demgegenüber die Tafel 18 angewendet
und den Ausfall ausgehend vom Alter des Klägers am Urteilstag - 47 Jahre
und zwei Monate - und von einem Endalter von 65 Jahren mit einem Faktor
von 12,21 kapitalisiert. Da der Kläger selbst den gleichen Ansatz in
Anschlag bringt, hat - zufolge der Bindung an die Parteianträge (Art. 136
lit. b OG) - auch das Bundesgericht von diesem Kapitalisierungsfaktor
auszugehen. Damit ergibt sich ein kapitalisierter Schadensbetrag von
Fr. 372'405.-- (Fr. 30'500.-- x 12,21).

Erwägung 4

    4.- a) In die Berechnung des Schadens sind nach der Rechtsprechung
auch die die Höhe der künftigen Rentenansprüche mitbeeinflussenden, zufolge
verminderter Erwerbstätigkeit aber entfallenden Arbeitgeberbeiträge an AHV
und Pensionskasse einzubeziehen (BGE 113 II 350). Dass der Appellationshof
dies nicht beachtet hat, rügt der Kläger zu Recht. Für die Kapitalisierung
ist die vom Kläger beantragte Anwendung der Tafel 18 von STAUFFER/SCHAETZLE
mit einem Endalter von 65 Jahren hier in jedem Fall richtig, da ab
diesem Alter die entsprechenden Beiträge nicht mehr rentenbildende
Funktion, sondern bloss noch die Wirkung von Solidaritätsbeiträgen haben
(vgl. Art. 30 Abs. 1 und 2 AHVG; BBl 1976 III S. 23 f.; ZAK 1978, S. 386;
ZAK 1982, S. 17), was in BGE 113 II 349/350 offensichtlich übersehen wurde.

    Der Beklagte wendet gegen die Einbeziehung der Arbeitgeberbeiträge
an AHV und Pensionskasse ein, der Kläger habe schon vor dem schädigenden
Ereignis die Absicht geäussert, vorzeitig nach Spanien zurückzukehren,
in welchem Fall er ohnehin nicht in den vollen Genuss der Altersvorsorge
gekommen wäre. Dieser Einwand findet indessen in den tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz keine Stütze, weshalb darauf nicht
einzutreten ist (Art. 55 Abs. 1 lit. c und Art. 63 Abs. 2 OG).

    b) Entgegen der Auffassung des Klägers sind die
Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers allerdings nicht voll,
sondern bloss insoweit in die Schadensberechnung einzubeziehen, als sie
rentenbildende Funktion haben.

    aa) Im Bereich der 1. Säule sind daher nur die eigentlichen
AHV-Beiträge zu berücksichtigen, nicht dagegen die Risikoprämien der IV
und der AlV sowie die Beiträge nach Erwerbsersatzordnung. Die AHV-Beiträge
des Arbeitgebers betragen 4,2% (Art. 13 AHVG, SR 831.10). Der massgebende
Jahresbeitrag beläuft sich im vorliegenden Fall somit auf Fr. 1'281.--
(4,2% von Fr. 30'500.--), der kapitalisierte Schadensbetrag auf
Fr. 15'641.-- (Fr. 1'281.-- x 12,21).

    bb) Im Bereich der 2. Säule verlangt der Kläger die Anrechnung der -
minimalen - Altersgutschriften nach Art. 16 BVG (SR 831.40) von paritätisch
10% oder arbeitgeberseitig 5%. Freiwillige höhere Beiträge werden nicht
geltend gemacht. Allerdings ist zu beachten, dass die rentenbildenden
Beiträge nicht auf dem gesamten, sondern gemäss Art. 8 Abs. 1 BVG bloss
auf dem sogenannten koordinierten Lohn berechnet werden. Dieser beläuft
sich bei einem Jahreseinkommen von Fr. 61'000.-- auf Fr. 36'000.--
(Differenz zwischen Fr. 18'000.-- und Fr. 54'000.-- nach Art. 8
Abs. 1 BVG bzw. Art. 5 BVV 2, SR 831.441.1) und reduziert sich zufolge
der halben IV-Rente des Klägers auf die Hälfte, d.h. auf Fr. 18'000.--
(Art. 4 BVV 2). Entsprechend sind bloss 5% dieses Betrages oder Fr. 900.--
zu kapitalisieren, was bei einem Faktor von 12,21 einen Schadensbetrag
von Fr. 10'989.-- ergibt.

Erwägung 5

    5.- Der Appellationshof hat dem Kläger einen Genugtuungsanspruch
von Fr. 20'000.-- zugestanden. Der Kläger hält diesen Betrag für zu tief
angesetzt und verlangt eine Genugtuung von Fr. 40'000.--.

    a) Die Festlegung der Höhe einer Genugtuung beruht auf richterlichem
Ermessen. Ob der kantonale Richter sein Ermessen richtig gehandhabt hat,
ist an sich eine im Berufungsverfahren überprüfbare Rechtsfrage. Das
Bundesgericht beachtet jedoch praxisgemäss, dass dem Sachrichter ein
eigener und breiter Ermessensspielraum zusteht (BGE 115 II 32 E. 1b
mit Hinweisen). Davon, dass die Vorinstanz ihr Ermessen missbraucht
oder überschritten hätte, kann im vorliegenden Fall keine Rede
sein. Dass den Kläger aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur "sein
Los besonders hart trifft" und dass er zeitlebens Schmerzen haben wird,
ist dem Appellationshof nicht entgangen. Er hat für die Bemessung der
Genugtuung überdies eine Reihe von Entscheiden in ähnlich gelagerten
Fällen zum Vergleich herangezogen, vor deren Hintergrund der Betrag von
Fr. 20'000.-- auch bei Berücksichtigung des geringen Alters des Klägers
und des erheblichen Verschuldens des Beklagten durchaus im Rahmen des
Angemessenen bleibt.

    b) Der Kläger macht weiter geltend, der Appellationshof sei zu
Unrecht von den Ansätzen zur Verletzungszeit ausgegangen und habe nicht
berücksichtigt, dass die Genugtuungssummen in den letzten zehn Jahren
eine massive Entwicklung nach oben erfahren hätten.

    Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid vom 9. Mai 1972 i.S. Tonezzer
(teilweise publiziert in BGE 98 II 129 ff.) für die Bemessung der
Genugtuung die Ansätze angewendet, die zur Zeit der Verletzung galten
(JT 1973 I 470 Nr. 72). In der Lehre ist kritisiert worden, dass damit
den Geschädigten der Nachteil der inzwischen eingetretenen Teuerung
treffe (SZÖELLÖESY, ZBJV 112/1976, S. 31; BREHM, Berner Kommentar,
N. 92 zu Art. 47 OR). BREHM (aaO, N. 94 zu Art. 47 OR) schlägt daher
vor, dem Geschädigten entweder zusätzlich zu der nach den Ansätzen am
Verletzungstag bemessenen Summe einen Zinsanspruch zuzugestehen oder eine
Genugtuung nach den Ansätzen am Urteilstag ohne Zins zuzusprechen.

    Wieweit dem zu folgen ist, kann für den vorliegenden Fall
offenbleiben, da dem Kläger die Genugtuung von Fr. 20'000.--, die
ihm der Haftpflichtversicherer des Beklagten ausbezahlt hat, bereits
verhältnismässig kurze Zeit nach dem Schadenseintritt zur Verfügung
stand. Die Frage eines Teuerungsverlustes stellt sich deshalb nicht. Damit
aber bestünde für eine Bemessung der Genugtuung nach den Ansätzen am
Urteilstag sowenig Anlass wie für die Zusprechung eines Zinses; auf
Zinsforderungen hat der Kläger denn auch ausdrücklich verzichtet. Die
Auffassung des Appellationshofs, die Genugtuung sei nach den Ansätzen
zur Verletzungszeit zu bemessen, verstösst nicht gegen Bundesrecht.