Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 II 243



116 II 243

44. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Juli 1990 i.S.
E.O.-C. gegen N. und G.O. (Berufung) Regeste

    Erbrechtliche Herabsetzung.

    1. Herabsetzbarkeit einer unter der Herrschaft des alten Eherechts
erfolgten ehevertraglichen Zuweisung des Vorschlags an den überlebenden
Ehegatten (Bestätigung der Rechtsprechung). Einredeweise Geltendmachung
im Erbteilungsprozess zugelassen, obwohl sich die Nachkommen dem ihnen
von der Vormundschaftsbehörde vorgelegten Ehevertrag seinerzeit nicht
widersetzt hatten (E. 3).

    2. Die in Erfüllung einer sittlichen Pflicht erfolgten Zuwendungen
unterliegen der Herabsetzung (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Die Eheleute Elsa und Franz O.-C. schlossen am 6. Juli 1973 einen
in der Folge von der Vormundschaftsbehörde genehmigten Ehevertrag ab. Darin
wurde unter anderem die gesetzliche Regelung der Vorschlagsteilung dahin
abgeändert, dass der bei der Auflösung der Ehe infolge Todes anfallende
Vorschlag zu zwei Dritteln dem überlebenden Ehegatten und zu einem Drittel
den Erben des verstorbenen Gatten gehören soll. Franz O. verfasste
darauf am 22. Juli 1973 eine eigenhändige letztwillige Verfügung,
in der er seiner Gattin bestimmte Vermögenswerte zu Alleineigentum
zuwies; ferner verfügte er, dass seine Liegenschaft im Sinne einer
Teilungsvorschrift ebenfalls seiner Gattin zufallen solle, wobei er
als Anrechnungswert den amtlich festgesetzten Verkehrswert, ermässigt
um dessen vierten Teil, vorsah. Schliesslich setzte er seine Nachkommen
zugunsten der überlebenden Gattin auf den gesetzlichen Pflichtteil und
verwies im übrigen auf den Ehevertrag. Am 8. August 1985 verstarb Franz O.
Neben seiner Ehefrau hinterliess er als gesetzliche Erben seine beiden
aus erster Ehe hervorgegangenen Kinder. Nachdem sich die Erben bei der
Teilung des Nachlasses nicht einigen konnten, gelangten die Nachkommen
des Verstorbenen mit Erbteilungsklage an das Bezirksgericht A. Das
angerufene Gericht und, in zweiter Instanz, das Kantonsgericht von
Graubünden errechneten den Nachlass des Verstorbenen und bestimmten die
auf die einzelnen Erben entfallenden Pflichtteile. Die Beklagte hat gegen
das Urteil des Kantonsgerichts Berufung an das Bundesgericht erhoben.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Beklagte vermag mit ihrer Berufung insoweit nicht
durchzudringen, als sie darin behauptet, die von den Klägern einredeweise
geltend gemachte Herabsetzung sei in Verletzung von Art. 533 Abs. 3 ZGB
oder gar von Art. 2 ZGB geschützt worden.

    Die kantonalen Instanzen haben in Anlehnung an die Rechtsprechung
festgehalten, dass die nicht verwirkbare Herabsetzungseinrede vom
pflichtteilsgeschützten Erben - unabhängig von der Verteilung der
Parteirollen - auch im Teilungsprozess erhoben werden kann (BGE 108
II 292; 103 II 93 E. 3c, mit Hinweisen). Gefestigter Rechtsprechung
entspricht es sodann, dass die ehevertragliche Zuweisung des Vorschlags
an den überlebenden Ehegatten wie eine Verfügung von Todes wegen in dem
Masse der Herabsetzung unterliegt, als Pflichtteilsrechte der Nachkommen
verletzt werden (BGE 115 II 322 E. 3; 106 II 276 ff. E. 2; 102 II 313 ff.);
eine Praxis, die im übrigen mit Bezug auf die nichtgemeinsamen Kinder
und deren Nachkommen auch in den übergangsrechtlichen Bestimmungen zum
revidierten Eherecht verankert worden ist (Art. 10 Abs. 3 SchlT).

    Die Pflichtteilsrechte der Nachkommen sind somit bei der
güterrechtlichen Begünstigung des überlebenden Ehegatten zu wahren und es
muss ihnen die rechtliche Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Ansprüche
geboten werden. Dass der güterrechtliche Anspruch der Ehefrau auf
Beteiligung am Vorschlag in einer entsprechenden Geldforderung gegen den
Nachlass des verstorbenen Ehemannes besteht und sie nicht die Zuweisung
von Vermögensstücken der Errungenschaft verlangen kann (BGE 100 II 73
E. 2b), vermag daran - entgegen den Vorbringen in der Berufung - nichts
zu ändern. Dabei ist insbesondere auch nicht einzusehen, inwiefern die
Kläger gegen Art. 2 ZGB verstossen haben sollten; jedenfalls kann dieser
Vorwurf nicht bereits damit begründet werden, dass sie sich dem ihnen von
der Vormundschaftsbehörde im Jahre 1973 unterbreiteten Ehevertrag nicht
widersetzt hatten. Abgesehen davon, dass die für die Pflichtteilsrechte
der Nachkommen ungünstig verlaufende ehevertragliche Begünstigung des
überlebenden Ehegatten gemäss der damaligen Rechtsprechung grundsätzlich
geschützt worden wäre, hätte ein allfälliger Einspruch der Kläger das
Zustandekommen des Ehevertrages in der gegebenen Form mit Sicherheit
nicht abwenden können (zur Wahrnehmung der Kindesinteressen im Rahmen von
Art. 181 aZGB, vgl. BGE 99 Ia 305 ff.). Die Kläger hatten somit bis zum
vorliegenden Verfahren gar keine Möglichkeit zur wirksamen Wahrung ihrer
Rechte, weshalb es ihnen heute nicht zum Nachteil gereichen kann, von
einer mit der Herabsetzungsklage nicht vergleichbaren Einsprachemöglichkeit
keinen Gebrauch gemacht zu haben.

Erwägung 4

    4.- Der Erblasser errichtete am 4. November 1982 eine
Lebensversicherung auf den Namen der Beklagten über rund Fr. 70'000.--
und eröffnete ihr zwecks Finanzierung ein entsprechendes Prämienkonto. Des
weiteren hat er ihr ein Sparheft der Raiffeisenkasse Bergün/Bravuogn mit
einer Einlage von Fr. 12'848.-- übergeben. Das Kantonsgericht hat beide
Zuwendungen als Schenkungen qualifiziert und der Herabsetzung unterstellt,
nachdem es insbesondere bezüglich des Sparhefts zur Überzeugung gelangt
ist, es könne sich dabei nicht um eine Entschädigung für geleistete
Arbeit handeln.

    a) Die Beklagte bestreitet nicht mehr, dass die Einmaleinlage zur
Bezahlung ihrer Lebensversicherung direkt vom Erblasser entrichtet
worden ist. Sie hält indessen dafür, es habe sich dabei nicht um eine
Schenkung, sondern um die Erfüllung einer sittlichen Pflicht gehandelt,
die der Herabsetzung nicht unterliege. Im übrigen lauteten Sparheft
und Lebensversicherung bereits auf ihren Namen; sie könne frei darüber
verfügen, weshalb die von der Rechtsprechung umschriebenen Voraussetzungen
der Herabsetzung nicht erfüllt seien.

    b) Ob es sich bei den genannten Zuwendungen um Schenkungen oder
um Leistungen aufgrund einer moralischen Verpflichtung handle, kann
aufgrund der vorhandenen Feststellungen nicht abschliessend beurteilt
werden. Diesbezüglich müsste die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen
werden. Dazu besteht indessen vorliegend keine Veranlassung. Die
Rechtsprechung hat vor geraumer Zeit bereits festgehalten, dass
sich die Frage der Herabsetzung stets nach Erbrecht beurteile und
dabei nicht darauf abgestellt werden dürfe, aus welchen Gründen die
strittige Zuwendung gemacht worden sei. Das Bundesgericht hat damit
auch die in Erfüllung einer sittlichen Pflicht erbrachten Zuwendungen
entgegen Art. 239 Abs. 3 OR wie eine Schenkung behandelt und der
Herabsetzung unterstellt; begründet hat es diesen Schritt damit, dass
der Pflichtteilsschutz nach Auffassung des Gesetzgebers ebenfalls auf
einer sittlichen Grundlage beruhe und es nicht angehe, jenen gegenüber
der Vorsorge für den überlebenden Ehegatten zu benachteiligen (BGE
102 II 325 f. E. 4c, mit Hinweisen). Diese Rechtsprechung vermag sich
auf einen Teil der Lehre zu stützen (insbesondere PIOTET, SJZ 57/1961,
S. 38 f.; derselbe in ZSR 90/1971 Bd. I, S. 39 ff., sowie in Erbrecht,
SPR IV/1, Basel 1978, § 63 II B, S. 446 f.; DESCHENAUX, La protection
de l'expectative de bénéfice dans le régime de la participation aux
acquêts, in: Gedächtnisschrift Peter Jäggi, Freiburg 1977, S. 186,
Anm. 75; PIERRE WIDMER, Grundfragen der erbrechtlichen Ausgleichung,
Berner Diss. 1971, S. 36/37; vgl. neuerdings Art. 208 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB,
sowie namentlich die Botschaft zum revidierten Eherecht vom 11. Juli 1979,
in BBl 1979 Bd. II, Ziff. 222.532, S. 1191 (Sonderdruck 79.043, S. 126
f.) und die darob im Schrifttum entbrannte Kontroverse). Dagegen stehen
jedoch immerhin die von EUGEN HUBER mitverfasste Botschaft zur Ergänzung
des Zivilgesetzbuches, die Auffassungen der Kommentatoren sowie weiterer
Autoren (vgl. die Botschaft betreffend die Ergänzung eines Entwurfs eines
schweizerischen Zivilgesetzbuches durch Einfügung des Obligationenrechts
und der Einführungsbestimmungen vom 3. März 1905, in BBl 1905 Bd. II
S. 52 in fine; TUOR, Berner Kommentar, 2. A. 1952, N. 21 (Ziff. 3) zu
Art. 527, sowie ESCHER, Zürcher Kommentar, 3. A. 1959, N. 19 zu Art. 527;
im gleichen Sinne wohl auch BECK, Grundriss des schweizerischen Erbrechts,
2. A. 1976, S. 118, sowie DRUEY, Grundriss des Erbrechts, 2. A. 1988, §
6, Rz. 72, S. 67; vgl. auch JÖRG ALAIN SCHWARZ, Die Herabsetzung gemäss
Art. 527 Ziff. 1 ZGB, Berner Diss. 1985, S. 32 f., mit Hinweisen).

    In der Berufung wird nichts vorgebracht, was in diesem Zusammenhang
auf eine Verletzung von Bundesrecht hindeuten oder sonstwie von Belang
sein könnte. Ausschlaggebend muss daher bleiben, dass seit dem genannten
Entscheid des Bundesgerichts keine Erkenntnisse zutage getreten sind,
welche die Annahme einer abweichenden Auffassung zwingend gebieten
würden. Der vorliegende Fall gibt deshalb keinen Anlass, von der
bisherigen Rechtsprechung abzuweichen, die immerhin den unbestreitbaren
Vorteil aufweist, dass die schwierige Abgrenzung zwischen Schenkung und
sittlicher Pflicht unterbleiben kann.

    c) Das Kantonsgericht hat schliesslich zutreffend festgehalten, dass
die Herabsetzungseinrede rechtsgültig erhoben worden ist. Dass sowohl
die Lebensversicherung als auch das Sparheft bereits auf den Namen der
Beklagten lauten, kann der Herabsetzbarkeit der entsprechenden Zuwendung
nicht entgegenstehen, selbst wenn sie bloss einredeweise geltend gemacht
wird. Vorliegend ist die Beklagte mit einem eigenen Teilungsbegehren
gegen die Kläger aufgetreten. Wie bereits festgehalten worden ist, darf
die Herabsetzungseinrede auch im Teilungsprozess erhoben werden (BGE 103
II 93; 58 II 404 f.), zumal die Kläger als gesetzliche Erben mit dem Tod
des Erblassers Mitbesitz und Gesamteigentum am Nachlass erlangt haben. Im
Rahmen der Teilung dieses Nachlasses muss es ihnen daher möglich sein,
dem gegen sie gerichteten Begehren insofern entgegenzutreten, als der
Erblasser seine Verfügungsfreiheit durch Begünstigung der ihrerseits
Ansprüche geltend machenden Beklagten überschritten hat.

    Die gegenteilige Auffassung der Beklagten würde dazu führen, dass die
Einrede der Herabsetzung stets dann versagt bliebe, wenn die fragliche
Verfügung bereits vollzogen worden wäre und sich die davon erfassten
Vermögenswerte nicht mehr im Nachlass befänden. Diese Sichtweise mag sich
aus dem Wesen der Einrede ergeben, doch wird sie der besonderen Situation
im Erbteilungsprozess nicht gerecht; dort gilt es zu berücksichtigen,
dass von sämtlichen Erben weitere Ansprüche geltend gemacht werden,
gegenüber denen die Einrede gemäss Art. 527 ZGB - ohne Rücksicht darauf,
dass gewisse Zuwendungen bereits zu Lebzeiten des Erblassers vollzogen
worden sind - offenbleiben muss.