Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 II 238



116 II 238

43. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. August 1990
i.S. Jakob H. gegen Departement des Innern des Kantons Solothurn
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 316 ZGB: Pflegekinderaufsicht.

    Gegen die in Ausübung der Pflegekinderaufsicht ergehenden Verfügungen
ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde grundsätzlich zulässig (E. 1a und b).

    Tragweite der den Kantonen in der bundesrätlichen Verordnung
über die Aufnahme von Pflegekindern (SR 211.222.338) eingeräumten
Rechtsetzungsbefugnis (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Seit dem 23. April 1987 lebt Tina, geboren am 7. März 1974, als
Pflegekind bei Jakob und Dora H. In einer Verfügung des Oberamtmannes von
Dorneck-Thierstein vom 20. Oktober 1988 wird festgestellt, die Pflegeeltern
hätten den Nachweis einer genügenden Versicherung für das Kind nicht
erbracht, weshalb sie das Pflegekind der Kollektivunfallversicherung
anzuschliessen und für die Unfallversicherung die Prämie von Fr. 62.--
zu begleichen hätten. Gegen diese Verfügung beschwerte sich Jakob
H. mit Eingabe vom 29. Oktober 1988 beim kantonalen Departement des
Innern. Dieses wies die Beschwerde mit Verfügung vom 4. Dezember 1989
ab. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht verlangt Jakob
H. die Aufhebung dieser Verfügung.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 97 Abs. 1 OG beurteilt das Bundesgericht letztinstanzlich
Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von Art. 5
des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren
(VwVG). Als Verfügung gelten nach dieser Bestimmung Anordnungen der
Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes
stützen und unter anderem die Begründung, Änderung oder Aufhebung von
Rechten oder Pflichten zum Gegenstand haben (Art. 5 Abs. 1 lit. a VwVG)
oder aber das Bestehen, Nichtbestehen oder den Umfang von Rechten oder
Pflichten feststellen (Art. 5 Abs. 1 lit. b VwVG). Gemäss Art. 98 lit. g
OG ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen solche Verfügungen letzter
kantonaler Instanzen zulässig, soweit das Bundesrecht nicht zunächst eine
andere Beschwerdeinstanz vorsieht.

    a) Die vorliegende Streitsache beschlägt den Bereich der
Pflegekinderaufsicht gemäss Art. 316 ZGB. Nach dieser Bestimmung bedarf,
wer Pflegekinder aufnimmt, einer Bewilligung der Vormundschaftsbehörde oder
einer anderen vom kantonalen Recht bezeichneten Stelle seines Wohnsitzes;
dieselbe Behörde übt zugleich die Aufsicht über das Pflegekindschaftswesen
aus. Nach Art. 316 Abs. 2 ZGB hat der Bundesrat Ausführungsvorschriften zu
erlassen. Dieser Aufgabe ist er mit der Verordnung über die Aufnahme von
Pflegekindern (PAVO) vom 19. Oktober 1977, revidiert am 21. Dezember 1988,
nachgekommen (vgl. SR 211.222.338). Darin wird den Kantonen die Befugnis
erteilt, zum Schutze von Unmündigen, die ausserhalb des Elternhauses
aufwachsen, Bestimmungen zu erlassen, die über die bundesrätliche
Verordnung hinausgehen (Art. 3 PAVO); im Rahmen der allgemeinen
Voraussetzungen einer Pflegekinderbewilligung schreibt sodann Art. 8
Abs. 3 PAVO selber vor, dass das Kind gegen die Folgen von Krankheit,
Unfall und Haftpflicht angemessen versichert werden müsse.

    Der Kanton Solothurn hat von seiner Verordnungsbefugnis mit dem
Erlass der Pflegekinderverordnung (PKV) vom 2. Juni 1987 Gebrauch gemacht
(BGS 212.239). Darin wird in § 10 Abs. 1 die in Art. 8 Abs. 3 der
bundesrätlichen Verordnung begründete Versicherungspflicht wortgetreu
wiederholt; § 10 Abs. 2 PKV sieht daneben vor, dass der Staat eine
Kollektivversicherung abschliesse, an die sich diejenigen Pflegeeltern
anzuschliessen hätten, die den Nachweis einer genügenden Versicherung
nicht erbrächten.

    b) Obwohl die Pflegekinderaufsicht ihre grundsätzliche Regelung
im Rahmen des Bundeszivilrechts erfahren hat, handelt es sich bei
den einschlägigen Bestimmungen und den gestützt darauf ergangenen
Ausführungsvorschriften in materieller Hinsicht um öffentliches
Recht. Die Rechtsprechung hat überdies erkannt, dass Verfügungen
betreffend die Bewilligung zur Aufnahme von Pflegekindern von der
Ausschlussbestimmung gemäss Art. 100 lit. g OG nicht erfasst werden und
somit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht unterliegen
(BGE 107 Ib 285).

    Trotz der im Schrifttum vereinzelt geäusserten Kritik besteht keine
Veranlassung, von dieser Auffassung abzuweichen (vgl. HANS BÄTTIG,
Die Pflegekinderaufsicht im Bund und in den Kantonen, Freiburger Diss.,
Verlag Pro Juventute, Zürich 1984, S. 52 ff., insbesondere S. 54; billigend
jedoch GYGI, ZBJV 119/1983, S. 290). Wie in der Vernehmlassung der letzten
kantonalen Instanz zutreffend ausgeführt wird, betrifft auch die vorliegend
streitige Frage zumindest mittelbar die Voraussetzungen der Erteilung
oder des Entzugs der behördlichen Bewilligung gemäss Art. 316 Abs. 1
ZGB. Es rechtfertigt sich daher, die bestehende Rechtsprechung insofern
zu erweitern, als auch gegen solche in Ausübung der Pflegekinderaufsicht
ergehenden Verfügungen die Verwaltungsgerichtsbeschwerde grundsätzlich
zuzulassen ist.

    c) Die angefochtene Verfügung stützt sich jedoch zumindest
teilweise auch auf kantonales Recht, namentlich auf § 10 der erwähnten
solothurnischen Pflegekinderverordnung. Trotz dieses Umstandes steht
indessen einem Eintreten auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts
entgegen, da diese kantonale Bestimmung mit Bezug auf die Pflicht zur
angemessenen Versicherung keinen eigenständigen Gehalt aufweist, sondern
lediglich wiederholt, was bereits Art. 8 Abs. 3 der bundesrätlichen
Ausführungsbestimmung enthält (BGE 112 Ib 44 E. 1d, 166 E. 1). Ob hingegen
die ausschliesslich im kantonalen Recht verankerte (§ 10 Abs. 2 PKV) und
im angefochtenen Entscheid verfügte Anschlusspflicht zum Tragen kommen
kann und darf, hängt davon ab, ob der Nachweis angemessener Versicherung
erbracht worden ist. Dabei geht es indessen in erster Linie um die richtige
Anwendung von Art. 8 Abs. 3 PAVO, mithin um eine Frage des Bundesrechts
(vgl. BGE 105 Ib 108 E. 1c).

    Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demnach einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Es ist unbestritten und überdies aus den Akten
ersehbar, dass das Pflegekind des Beschwerdeführers bei der
Solothurner-Kantonalen-Krankenkasse versichert worden ist. Die
abgeschlossene Versicherung gewährt im Falle von Krankheit, Haftpflicht
sowie Invalidität nach Unfall Leistungen bis zu Fr. 150'000.--. Daneben
besteht auch Versicherungsschutz für den unfallbedingten Tod des
Kindes; die höchstmögliche Versicherungssumme beläuft sich dabei auf
Fr. 5'000.--. Die kantonalen Instanzen vertreten die Auffassung, dass
dieser Versicherungsschutz mit Bezug auf die Todesfallsumme ungenügend sei;
der Beschwerdeführer habe sich daher der vom Staat in Ausführung von §
10 Abs. 2 PKV abgeschlossenen Kollektivversicherung anzuschliessen, die
als angemessene Versicherung für den Todesfall des Kindes ab dem 1. Januar
1988 eine Mindestsumme von Fr. 10'000.-- vorsehe. Der Beschwerdeführer
erachtet diese Auffassung als bundesrechtswidrig.

    Wie bereits erwähnt, erteilt Art. 3 Abs. 1 PAVO den Kantonen
die Befugnis, Bestimmungen zu erlassen, die über die bundesrätliche
Verordnung hinausgehen. Nach dem klaren Wortlaut der Verordnung
beschränkt sich indessen diese Ermächtigung auf den Erlass solcher
Bestimmungen, die dem Schutze des Unmündigen dienen. Im Hinblick auf
den Versicherungsschutz schreibt Art. 8 Abs. 3 PAVO vor, dass das
Kind gegen die Folgen von Krankheit, Unfall und Haftpflicht angemessen
versichert werden müsse. Diese Bestimmung, die in unveränderter Form
bereits vor der Revision in der bundesrätlichen Verordnung enthalten war
(vgl. Art. 5 Abs. 2 altPAVO), darf nicht als eine der Konkretisierung
bedürftige Rahmenbestimmung verstanden werden; vielmehr regelt sie den
für das Pflegekind erforderlichen Versicherungsschutz umfassend (vgl.
BÄTTIG, aaO, S. 49, sowie ROBERT M. ZUEGG, Die Vermittlung ausländischer
Adoptivkinder als Problem des präventiven Kindesschutzes, Freiburger Diss.
1986, S. 49). Den Kantonen obliegt es dagegen bloss, den Umfang dieser
Kranken-, Unfall- und Haftpflichtversicherung zu konkretisieren, wobei sie
sich von den besonderen lokalen Verhältnissen leiten lassen dürfen. Die
Verpflichtung zum Abschluss von Zusatzversicherungen, die über diesen
Rahmen hinausgehen und insbesondere nicht dem Schutze des Kindes selbst,
sondern dem Interesse der Pflegeeltern dienen, findet ihre Grundlage weder
in Art. 8 Abs. 3 PAVO, noch dürfte sie von den Kantonen mit der Ausübung
der Rechtsetzungsbefugnis gemäss Art. 3 Abs. 1 PAVO begründet werden.

    Dem Beschwerdeführer ist somit beizupflichten, dass die von den
kantonalen Behörden verlangte Todesfallversicherung vor Bundesrecht
nicht standhält. Diese Versicherungspflicht steht - wie die Vorinstanz
selber einräumt - in keinerlei Beziehung zu den Interessen des Kindes,
sondern einzig zu denjenigen der Pflegeeltern. Diesen hat das von den
Kantonen nach Art. 3 Abs. 1 PAVO gesetzte Recht jedoch nicht Rechnung
zu tragen. Dem vermögen sich die kantonalen Behörden auch nicht mit dem
Hinweis auf das ihnen zustehende Ermessen zu entziehen. Entgegen der im
angefochtenen Entscheid angedeuteten Auffassung geht es vorliegend nicht
ausschliesslich um die Frage der Angemessenheit des Versicherungsschutzes,
sondern vielmehr um die Einführung einer zusätzlichen Verpflichtung
zulasten der Pflegeeltern, für die sich weder im Gesetz noch in den
Verordnungen des Bundesrates und des Kantons eine Grundlage finden
lässt. Soweit daher die angefochtene Verfügung den Beschwerdeführer unter
Bezugnahme auf Art. 3 und 8 Abs. 3 PAVO und § 10 PKV - allenfalls gar
unter Androhung des Bewilligungsentzuges - verpflichten will, im Rahmen
der Versicherungspflicht auch eine Todesfallversicherung abzuschliessen
oder die bereits bestehende Versicherung bezüglich der Todesfallsumme zu
verdoppeln, verstösst sie gegen Bundesrecht und ist daher aufzuheben.