Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 II 15



116 II 15

3. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 1. Februar 1990 i.S. X.
gegen X. (Berufung) Regeste

    Ehescheidung (Art. 142 Abs. 1 ZGB): Zerrüttung des ehelichen
Verhältnisses, Zumutbarkeit der Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft.

    1. Ob eine Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft zumutbar ist, hängt
einerseits vom Grad wie auch von der Erscheinungsform der Zerrüttung und
andererseits von der Persönlichkeit der Ehegatten ab (Erw. 2).

    2. In einer Ehe, in der die Ehefrau sich vorab der Haushaltführung
widmet und der Ehemann für die Beschaffung der erforderlichen
Geldmittel besorgt ist, hat die Ehefrau hinzunehmen, dass der Ehemann
den zur gehörigen Erfüllung seiner Pflicht nötigen Einsatz leistet
und dass seine Verfügbarkeit für dieFamilie entsprechend eingeschränkt
ist; möchte der Ehemann jedoch für seine Berufstätigkeit an Zeit und
Energie mehr aufwenden, als erforderlich ist, um der Familie einen ihren
Bedürfnissen angemessenen Lebensstandard zu sichern, darf dadurch die Ehe
als geistig-seelische Gemeinschaft nicht gefährdet werden; der Ehemann
hat auch in dieser Hinsicht auf die persönlichen Bedürfnisse der Ehefrau
Rücksicht zu nehmen (Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- Der Schweizer A.X. und die in ihrer Heimat aufgewachsene
französische Staatsangehörige B.Y. heirateten am 29. September 1978
in Grossbritannien, wo sie in der ersten Zeit auch wohnten. Ihrer Ehe
entsprossen zwei in den Jahren 1979 und 1983 geborene Kinder. Im Juli
1983 nahmen die Eheleute X.-Y. Wohnsitz in der Schweiz, und im Oktober
1985 zog B.X.-Y. mit den beiden Kindern nach Frankreich; seither leben
die Eheleute X.-Y. getrennt.

    Am 18. September 1985 hatte B.X.-Y. beim zuständigen Bezirksgericht
eine Klage auf Scheidung der Ehe erhoben, der sich der Beklagte
widersetzte.

    Mit Urteil vom 21. August 1986 sprach das Bezirksgericht die
Scheidung aus; gleichzeitig regelte es deren Nebenfolgen. In Gutheissung
der vom Beklagten hiergegen erhobenen Berufung wies das Kantonsgericht
die Scheidungsklage am 4. Mai 1988 ab. Mit Urteil vom 9. März 1989
hat die erkennende Abteilung eine Berufung der Klägerin gegen den
kantonsgerichtlichen Entscheid vom 4. Mai 1988 teilweise gutgeheissen
und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an das
Kantonsgericht zurückgewiesen. Am 30. Juni 1989 hat dieses neu entschieden
und dabei die Scheidungsklage wiederum abgewiesen.

    Die Klägerin hat hiergegen erneut Berufung an das Bundesgericht
erhoben mit dem Rechtsbegehren, das kantonsgerichtliche Urteil sei
aufzuheben und die Ehe der Parteien im Sinne ihrer Anträge vor zweiter
Instanz zu scheiden; allenfalls sei die Streitsache zur Neubeurteilung
an das Kantonsgericht zurückzuweisen.

    Der Beklagte schliesst im Hauptstandpunkt auf Abweisung der Berufung
und Bestätigung des kantonsgerichtlichen Urteils.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 142 Abs. 1 ZGB kann jeder Ehegatte auf Scheidung
klagen, wenn eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses
eingetreten ist, dass den Ehegatten die Fortsetzung der ehelichen
Gemeinschaft nicht zugemutet werden darf; ist die tiefe Zerrüttung
vorwiegend der Schuld des einen zuzuschreiben, kann indessen nur der
andere Ehegatte klagen (Art. 142 Abs. 2 ZGB). Wie die erkennende Abteilung
bereits im Urteil vom 9. März 1989 ausgeführt und auch das Kantonsgericht
festgehalten hat, genügt es für die Aussprechung der Scheidung, dass die
Unzumutbarkeit einer Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft auf seiten
des klagenden Ehegatten dargetan ist (dazu BGE 108 II 26 f. E. 3a mit
Hinweisen).

    Ob eine Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft zumutbar ist, hängt
einerseits vom Grad wie auch von der Erscheinungsform der Zerrüttung
und andererseits von der Persönlichkeit der Ehegatten ab. Je nach
geistig-seelischer Veranlagung und Verfassung eines Ehegatten wirkt eine
Tatsache, die im allgemeinen als ehezerrüttend anzuerkennen ist, auf dessen
eheliche Gesinnung nicht so, dass die Fortsetzung der Ehe als unzumutbar
erschiene. Umgekehrt kann eine gemeinhin nicht als ehezerrüttend empfundene
Tatsache unter gewissen individuellen Voraussetzungen zu einer derart
tiefen Zerrüttung der Ehe geführt haben, dass dem klagenden Ehegatten
deren Fortsetzung nicht zugemutet werden darf (vgl. BÜHLER/SPÜHLER,
N. 14 zu Art. 142 ZGB; HINDERLING, Das schweizerische Ehescheidungsrecht,
3. Auflage, S. 12).

Erwägung 3

    3.- a) Das Kantonsgericht hält fest, dass aus der Sicht der Klägerin
das eheliche Verhältnis der Parteien erheblich gestört sei; indessen
sei die Ehe nicht derart tief zerrüttet, dass ihr die Fortsetzung der
ehelichen Gemeinschaft nicht zuzumuten wäre. Die Beeinträchtigung des
ehelichen Einvernehmens führt die Vorinstanz in erster Linie auf die
unterschiedlichen Meinungen der Parteien über die Frage zurück, wieweit
ein Ehemann seine Aufmerksamkeit auf die Arbeit konzentrieren dürfe und
die Ehefrau darob seine Zuwendung zu entbehren habe. Die Klägerin habe
das Gefühl gehabt, für den Beklagten mehr Dekor des Hauses zu sein als
eine ernstgenommene Frau mit Herz, Seele, Empfindsamkeit und dem Wunsch,
den Kindern ein Umfeld von Liebe und Harmonie zu bieten; sie habe sich
alleingelassen und nicht als vollwertige Partnerin akzeptiert gefühlt, und
sie erachte es vom Beklagten als höchst egoistisch, von ihr zu verlangen,
nur eine "Verzierung der Freude" zu sein, selbst aber für Frau und Kinder
nicht verfügbar zu sein und nach einem Tag im Büro müde die Füsse unter
den Tisch zu strecken.

    Andere Störfaktoren waren nach Ansicht des Kantonsgerichts lediglich
die Folge der unterschiedlichen Vorstellungen der Parteien vom Inhalt
ihrer Ehe. Das gelte einmal für die im Zusammenhang mit der Krankheit
des Sohnes ... aufgetretenen Schwierigkeiten. Dass sich die Klägerin in
der Sorge um den Sohn, an dessen linkem Fuss zufolge einer medizinischen
Fehlbehandlung eine Missbildung (teilweise Lähmung) eingetreten sei,
allein gefühlt habe, hänge mit dem starken Engagement des Beklagten
für Arbeit und Beruf zusammen. Auch die Konflikte wegen der Wohnorte
der Parteien seien lediglich Ausfluss des ausgeprägten Bedürfnisses der
Klägerin nach dauernder Aufmerksamkeit und Zuneigung gewesen.

    b) Den Vorbringen der Klägerin hat das Kantonsgericht entgegengehalten,
dass die Ehe als umfassende Lebensgemeinschaft auch eine wirtschaftliche
Gemeinschaft sei, für die nach altem Eherecht in erster Linie der Ehemann
und nach neuem Recht die Ehegatten gleichermassen verantwortlich seien. Es
entspreche auch heute noch durchaus gängiger Auffassung, dass ein Ehemann
gehalten sei, für den Unterhalt und die Vorsorge der Familie den gehörigen
Einsatz zur Erzielung von Einkommen und Bildung von Vermögen zu leisten. Wo
die Ehefrau sich ganz der Familie und insbesondere der Erziehung der Kinder
widmen könne, habe sie einen entsprechenden Einsatz des Ehemannes für sein
berufliches Fortkommen zu dulden. Allerdings dürfe dies nicht soweit gehen,
dass die Ehe als geistig-seelische Gemeinschaft gefährdet werde. Nach
Ansicht der Vorinstanz traf dies hier nicht zu. Der Beklagte habe sich
durchschnittlich von 07.30 bis 18.00 oder 19.00 Uhr im Büro aufgehalten
und das Mittagessen jeweils auswärts eingenommen, was sich im Rahmen des
nach allgemeiner Lebensauffassung als normal Empfundenen bewege. Auch das
klägerische Vorbringen, der Beklagte sei als dominante Persönlichkeit im
traditionellen Sinne zu einem partnerschaftlichen Verhalten nicht fähig,
hält das Kantonsgericht für unzutreffend. So hätten die Parteien, als
sie in die Schweiz gezogen seien, gemeinsam den Wohnsitz bestimmt und
das Einfamilienhaus ausgesucht; ferner habe auch die Klägerin Zugang zum
Lohnkonto des Beklagten gehabt.

    c) In Würdigung der von ihm festgehaltenen Umstände ist das
Kantonsgericht zum Schluss gelangt, der Klägerin müsste es angesichts
ihrer Intelligenz und ihrer Fähigkeiten bei gutem Willen möglich sein,
die ehelichen Probleme nochmals anzupacken, zumal auch der Beklagte, der
an der zweitinstanzlichen Gerichtsverhandlung glaubhaft die Bereitschaft
bekundet habe, einen Ehetherapeuten aufzusuchen, gewillt sei, einen
erhöhten Einsatz zur Überwindung der Schwierigkeiten zu leisten.
   ...

Erwägung 5

    5.- Welche Gesichtspunkte bei der Beurteilung der vorliegenden
Scheidungsklage von Belang sind, hat das Kantonsgericht im wesentlichen
zutreffend festgehalten. Richtig ist insbesondere, dass es nicht allein
darauf ankommen kann, dass bei der Klägerin der Ehewille erloschen ist.
Indessen kann der vorinstanzlichen Gewichtung und Abwägung der Faktoren,
die für die Frage der Zumutbarkeit, die eheliche Gemeinschaft fortzuführen,
massgebend sind, nicht in allen Teilen beigepflichtet werden.

    a) Die Parteien waren sich von Anfang der Ehe an einig darüber,
dass die Klägerin sich vorab der Haushaltführung zuwenden und dass
der Beklagte für die Beschaffung der erforderlichen Geldmittel besorgt
sein werde. Bei einer solchen Aufgabenteilung hat die Ehefrau in der
Tat hinzunehmen, dass der Ehemann den zur gehörigen Erfüllung seiner
Pflicht nötigen Einsatz leistet und dass seine Verfügbarkeit für die
Familie entsprechend eingeschränkt ist. Wendet jedoch der Ehemann für
seine Berufstätigkeit an Zeit und Energie mehr auf, als erforderlich ist,
um der Familie einen ihren Bedürfnissen angemessenen Lebensstandard zu
sichern, darf - wie auch die Vorinstanz richtig erkannt hat - dadurch
die Ehe als geistig-seelische Gemeinschaft nicht gefährdet werden. Aus
der Sicht des Eherechts hat der Ehemann mit andern Worten nicht einen
unbegrenzten Anspruch auf Verwirklichung seiner beruflichen Ziele. Er
hat im Bestreben, seine persönlichen Bedürfnisse zu befriedigen, auch in
diesem Bereich auf die Ehefrau Rücksicht zu nehmen. Den Vorstellungen der
Ehefrau von der Ehe als geistig-seelischer Gemeinschaft hat der Ehemann im
Rahmen des Zumutbaren auch dann Rechnung zu tragen, wenn ihre persönlichen
Erwartungen an ihn erst im Laufe der Zeit grösser geworden sind.

    b) Der gemäss der übereinstimmenden Vorstellung beider Parteien ihm
zugefallenen Pflicht, durch seine Berufstätigkeit die Mittel zur Deckung
der materiellen Bedürfnisse der Familie zu beschaffen, ist der Beklagte
stets mit grossem Einsatz nachgekommen. Hingegen hat er - ohne dass ihn
dabei ein Verschulden zu treffen braucht - die von der Klägerin an ihn
als geistig-seelischen Partner gerichteten Erwartungen zumindest von
einem gewissen Zeitpunkt an nicht mehr ganz erfüllt. Woran dies gelegen
hat, steht nicht fest. Möglicherweise vermochte die Klägerin - etwa
aufgrund ihrer ausgeprägten Empfindsamkeit - ihre Vorstellungen nicht
in einer für den Beklagten wahrnehmbaren Form auszudrücken oder war der
Beklagte - beispielsweise weil durch seine Verantwortungen im Beruf zu
stark in Anspruch genommen - nicht in der Lage, sie wahrzunehmen und
darauf einzugehen. Der Hinweis des Kantonsgerichts auf die Arbeitszeiten
des Beklagten, die im Rahmen des Üblichen lägen, ist hier insofern nur
zum Teil stichhaltig, als wegen der Belastung durch die beruflichen
Verantwortungen auch bei physischer Anwesenheit die Verfügbarkeit
eingeschränkt sein kann. Ausserdem waren hier die an den Ehemann zu
stellenden Anforderungen auch insofern höher, als der Beklagte seine
Ehefrau in ein ihm vertrautes, ihr aber sprachlich und kulturell fremdes
Umfeld verpflanzte. Wenn die Vorinstanz weiter ausführt, dass auch der
Beklagte ein durchaus partnerschaftliches Verständnis von der Ehe an den
Tag gelegt habe, so ist festzuhalten, dass die von ihr erwähnten Tatsachen
(Bestimmung des Wohnsitzes bei der Übersiedlung in die Schweiz; Wahl des
Einfamilienhauses; Zugang der Klägerin zum Lohnkonto des Beklagten) den
Vorwurf mangelnder Partnerschaftlichkeit nur sehr beschränkt zu entkräften
vermögen. Aus den angeführten Beispielen ergibt sich vor allem eine
Grosszügigkeit des Beklagten in materiellen Belangen, nicht aber eine
Fähigkeit, der Klägerin auf der psychisch-emotionalen Ebene in der von
ihr erwarteten Art zu begegnen. Fest steht aufgrund des angefochtenen
Urteils auf jeden Fall, dass die angespannte eheliche Situation den
gesundheitlichen Allgemeinzustand der Klägerin beeinträchtigt hat und
diese insbesondere an Depressionen litt.

    c) Indem die Vorinstanz in Anbetracht der von ihr festgehaltenen
Umstände von der Klägerin verlangt, "die ehelichen Probleme nochmals
anzupacken" und die eheliche Gemeinschaft mit dem Beklagten fortzusetzen,
mutet sie ihr zuviel zu. Durch den kantonsgerichtlichen Entscheid wird
das Recht der Klägerin auf Achtung und Geltung als Persönlichkeit in
unzulässigem Masse beeinträchtigt. Dass die Klägerin intelligent und
tüchtig ist, vermag am Gesagten nichts zu ändern, zumal ihre Reaktionen
auf die ehelichen Spannungen (allgemeine gesundheitliche Störungen,
Depressionen) in der spezifischen Empfindsamkeit begründet sind
und insofern nicht im Bereiche des Willens ausgelöst und gesteuert
werden. Das Kantonsgericht hebt sodann hervor, dass der Beklagte an
der zweitinstanzlichen Gerichtsverhandlung sich bereit erklärt habe,
einen Ehetherapeuten aufzusuchen und soweit möglich seinen Arbeitsplatz
... (an den heutigen Wohnort der Klägerin) zu verlegen. Das deutet indessen
nicht ohne weiteres darauf hin, dass der Beklagte auch bereit wäre, seine
Einstellung zu Arbeit und Beruf in Frage zu stellen und nötigenfalls sein
berufliches Engagement zugunsten einer grösseren Verfügbarkeit für die
persönlichen Bedürfnisse der Klägerin ihm gegenüber zu reduzieren. Wohl
trifft schliesslich zu, dass dort, wo unmündige Kinder vorhanden sind,
von den Ehegatten ein erhöhtes Mass an Opfern und Anstrengungen zur
Fortsetzung der Ehe verlangt werden kann (vgl. BÜHLER/SPÜHLER, N. 33
zu Art. 142 ZGB). Dieser Gesichtspunkt verliert hier indessen insofern
an Bedeutung, als die sie über Gebühr belastende eheliche Situation bei
der Klägerin zu Erkrankungen und vor allem zu Depressionen geführt hat,
wodurch für sie die Erfüllung ihrer Aufgaben vor allem als Ehefrau schwer
beeinträchtigt gewesen sein dürfte.

Erwägung 6

    6.- Aus dem Gesagten erhellt, dass die Abweisung der Scheidungsklage
gegen Art. 142 Abs. 1 ZGB verstösst. Soweit auf die Berufung einzutreten
ist, ist sie daher gutzuheissen, und die Sache ist zur Aussprechung der
Ehescheidung und zum Entscheid über deren Nebenfolgen an die Vorinstanz
zurückzuweisen.