Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IA 90



116 Ia 90

17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 29.
August 1990 i.S. X. gegen Kreispräsident Trin, Staatsanwaltschaft
des Kantons Graubünden und Kantonsgericht (Ausschuss) von Graubünden
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Willkür.

    1. Bestätigung der Rechtsprechung (BGE 115 Ia 14 f. E. 3a) zur
Kognition des Bundesgerichts bei der Überprüfung der Anwendung von
Zustellungsgrundsätzen (E. 2b).

    2. a) Allein durch eine polizeiliche Einvernahme wird noch kein
(Straf)prozessrechtsverhältnis begründet. Es ist daher willkürlich,
davon auszugehen, der polizeilich Einvernommene habe mit der Zustellung
von Gerichtsurkunden rechnen müssen (E. 2c/aa).

    b) Hingegen entsteht mit der Mitteilung der Eröffnung einer
Strafuntersuchung an den Angeschuldigten diesem gegenüber ein
(Straf)prozessrechtsverhältnis, welches eine Empfangspflicht für dieses
betreffende Gerichtsurkunden begründet (E. 2c/bb).

Sachverhalt

    A.- Nachdem der Eigentümer eines in der Gemeinde Trin gelegenen
Maiensässes am 17. Juni 1988 gegen X. wegen unbewilligten Aufenthalts
in dem auf dem Maiensäss gelegenen Stall Strafantrag gestellt
hatte, versuchten die zuständigen Ermittlungsbehörden X. zur Sache
einzuvernehmen. Zustellversuche an dessen Adresse in Domat/Ems blieben
indessen erfolglos. Erst am 24. August 1988 konnten zwei Kantonspolizisten
X. auf der Alp Stätz einvernehmen.

    In der Folge sprach der Kreispräsident Trin X. mit Strafmandat vom 30.
Dezember 1988 der Sachbeschädigung sowie des Hausfriedensbruchs für
schuldig und bestrafte ihn dafür mit vierzehn Tagen Gefängnis. Nachdem
Zustellversuche zunächst mit eingeschriebener Post und anschliessend
durch die Kantonspolizei in Domat/Ems erfolglos blieben, wurde X. im
Polizeianzeiger ausgeschrieben. Am 28. September 1989 wurde ihm
das Strafmandat von der Kantonspolizei gegen Empfangsbescheinigung
ausgehändigt.

    Am 4. Oktober 1989 erhob X. Einsprache gegen das Strafmandat
vom 30. Dezember 1988. Mit Verfügung vom 9. November 1989 trat der
Kreispräsident Trin auf die Einsprache nicht ein.

    Die von X. gegen diese Verfügung erklärte Berufung ans Kantonsgericht
(Ausschuss) von Graubünden blieb erfolglos. Mit Urteil vom 17. Januar 1990
wies der Kantonsgerichtsausschuss die Berufung ab, im wesentlichen mit der
Begründung, X. habe aufgrund des gegen ihn laufenden Strafverfahrens mit
der Zustellung von Gerichtsurkunden rechnen müssen und es sich daher
selbst zuzuschreiben, dass er erst am 28. September 1989 Kenntnis
vom Strafmandat erhalten und nur verspätet habe Einsprache erheben
können. Das Bundesgericht heisst eine von X. gegen dieses Urteil erhobene
staatsrechtliche Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus der Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, der Kantonsgerichtsausschuss
habe ihm das rechtliche Gehör verweigert, indem er von der Fiktion
ausgegangen sei, ihm sei das Strafmandat zugestellt worden.

    a) Das Bundesgericht geht in seiner Praxis zur Zustellung von
Gerichtsurkunden davon aus, dass eine nicht abgeholte, eingeschrieben
zugestellte Gerichtsurkunde als am letzten Tag der Abholfrist zugestellt
gilt (BGE 115 Ia 15 E. 3a mit Hinweisen). Die Zustellungsfiktion
rechtfertigt sich, weil für die Verfahrensbeteiligten im Prozess die aus
dem Grundsatz von Treu und Glauben abzuleitende Pflicht besteht, dafür
zu sorgen, dass ihnen Gerichtsurkunden zugestellt werden können. Die
genannte Empfangspflicht entsteht als prozessuale Pflicht freilich
erst mit der Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses (BGE 115
Ia 15 E. 3a mit Hinweisen; unveröffentlichtes Bundesgerichtsurteil
i.S. M. vom 10. Februar 1988); erst nach dessen Begründung sind die
Verfahrensbeteiligten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihnen Entscheide,
welche das Verfahren betreffen, zugestellt werden können.

    b) Diese Zustellungsgrundsätze, insbesondere über die
Zulässigkeit der Zustellungsfiktion, sind freilich nicht Ausfluss
des Bundesverfassungsrechts und bilden somit auch nicht Teil eines
verfassungsmässigen Rechts (BGE 115 Ia 15 E. 2a). Übernehmen daher
kantonale Behörden - wie im vorliegenden Fall der Kantonsgerichtsausschuss
- mangels ausdrücklicher kantonaler Vorschriften die dargelegten
Grundsätze in ihrer Praxis, so hat das Bundesgericht deren Anwendung nur
unter dem Gesichtswinkel der Willkür zu überprüfen (BGE 115 Ia 15 E. 2a
mit Hinweisen).

    c) Zu überprüfen ist nach dem soeben Ausgeführten, ob der
Kantonsgerichtsausschuss, ohne in Willkür zu verfallen, davon ausgehen
durfte, der Beschwerdeführer habe nach seiner Einvernahme auf der Alp
Stätz mit der Durchführung eines Strafverfahrens und der allfälligen
Zustellung eines Strafmandats rechnen müssen.

    aa) Das Bundesgericht hat bereits in dem die Zustellung einer
Bussenverfügung nach einem Strassenverkehrsunfall betreffenden BGE 101 Ia
7 ff. ausgeführt, dass das blosse Erstellen eines Polizeirapportes für
die Unfallbeteiligten die Durchführung eines Strafverfahrens noch nicht
als derart wahrscheinlich erscheinen lässt, dass es eine Empfangspflicht
für Gerichtsurkunden auszulösen vermöchte. An dieser Rechtsprechung ist
festzuhalten: Allein durch die Einvernahme im Rahmen von polizeilichen
Ermittlungen wird noch kein Prozessrechtsverhältnis begründet, welches
den Verfahrensbeteiligten dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihm
in seiner Abwesenheit Gerichtsurkunden zugestellt werden können. Es
ist daher im vorliegend zu beurteilenden Fall nicht vertretbar, wenn
der Kantonsgerichtsausschuss einzig deshalb, weil der Beschwerdeführer
von zwei Kantonspolizisten als Auskunftsperson/Tatverdächtiger auf der
Alp Stätz zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen einvernommen worden
war, davon ausgegangen ist, für den Beschwerdeführer sei damit ein
Strafprozessrechtsverhältnis als begründet anzusehen gewesen und er habe
deshalb mit der Zustellung von Gerichtsurkunden und insbesondere auch
mit der Zustellung des Strafbefehls vom 30. Dezember 1988 rechnen müssen.

    bb) Als vertretbar erschiene die Auffassung des
Kantonsgerichtsausschusses nur dann, wenn es über die polizeiliche
Einvernahme hinaus gelungen wäre, dem Beschwerdeführer nach der
Eröffnung der Strafuntersuchung durch die Staatsanwaltschaft eine diese
betreffende Mitteilung (Vorladung, Mitteilung des Verhandlungstermins
etc.) zur Kenntnis zu bringen. Anders als nach einer blossen polizeilichen
Einvernahme wäre nämlich nach Kenntnisnahme einer solchen Mitteilung durch
den Beschwerdeführer davon auszugehen gewesen, dass ihm das Bestehen des
mit der Untersuchungseröffnung entstehenden Strafprozessrechtsverhältnisses
bekannt geworden sei und ihn dementsprechend die prozessuale
Empfangspflicht für Gerichtsurkunden getroffen hätte. Aus den Akten geht
indessen hervor, dass zwar zweimal versucht wurde, den Beschwerdeführer zu
Einvernahmen vorzuladen, ihm die an seine Adresse in Domat/Ems gerichteten
Vorladungen indessen nicht zugestellt werden konnten. Die Annahme, der
Beschwerdeführer habe von dem gegen ihn im Gang befindlichen Strafverfahren
gewusst und sei daher verpflichtet gewesen, dafür zu sorgen, dass ihm
Gerichtsurkunden nachgesendet werden können, erweist sich daher als
unhaltbar und der angefochtene Entscheid ist aus diesem Grund aufzuheben.