Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 116 IA 8



116 Ia 8

2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
5. Januar 1990 i.S. Lardelli gegen Staatsanwaltschaft und Obergericht
(Strafabteilung) des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 58 BV; Mitwirkung eines nicht ordnungsgemäss vereidigten Richters.

    Dem Amtsgelübde kommt nach aargauischem Recht keine konstitutive,
sondern bloss moralische und symbolische Bedeutung zu. Art. 58 BV ist
daher nicht verletzt, wenn an einem Urteil ein Richter mitwirkt, der noch
nicht von der zuständigen Behörde in Pflicht genommen wurde (E. 2-4).

Sachverhalt

    A.- Frau G. ist vom Volk am 21. August 1988 als Richterin am
Bezirksgericht Baden gewählt worden. Sie wurde am 30. August 1988 vom
Bezirksgericht Baden in Pflicht genommen, das bis 31. Dezember 1987 für
die Abnahme des Amtsgelübdes zuständig war. Am 14. März 1989 legte sie
zudem das Gelübde vor dem seit 1. Januar 1988 zuständigen Obergericht
des Kantons Aargau ab.

    Mit Urteil vom 6. März 1989 hatte das Bezirksgericht Baden gegen
Alfredo Lardelli unter anderem wegen wiederholten und fortgesetzten
Mordes eine Zuchthausstrafe von 20 Jahren ausgesprochen. Nach Zustellung
des Urteilsdispositivs - aber vor Ausfertigung der Urteilsbegründung
- verlangte Lardelli beim Obergericht des Kantons Aargau, es sei
festzustellen, dass das Urteil des Bezirksgerichtes Baden nichtig sei,
weil an diesem Urteil eine Bezirksrichterin mitgewirkt habe, die zu
jenem Zeitpunkt noch nicht rechtsgenüglich vereidigt gewesen sei. Das
Obergericht befand, im vorliegenden Fall rechtfertige sich aufgrund
der Schwere der Tat und der Höhe der ausgefällten Strafe sowie aus
prozessökonomischen Gründen eine selbständige aufsichtsrechtliche
Beurteilung der "Nichtigkeitsbeschwerde" vor der - falls keine
Nichtigkeit festgestellt werde - offenbar beabsichtigten Berufung. Es
trat deshalb auf das Gesuch um Feststellung der Nichtigkeit im Rahmen
einer aufsichtsrechtlichen Beschwerde ein. Es erwog, zwar übe innerhalb
des Obergerichts die Inspektionskommission die administrative Aufsicht
über die Bezirksgerichte aus und behandle demnach auch aufsichtsrechtliche
Beschwerden. Vorliegend sei aber nicht ein Mangel der Gerichtsorganisation
(fehlende Inpflichtnahme), sondern es seien die sich daraus ergebenden
Rechtsfolgen für das konkrete Strafverfahren zu beurteilen. Es gehe
mithin nicht primär um eine Justizverwaltungsfrage, weshalb es sich
rechtfertige, das aufsichtsrechtliche Feststellungsverfahren durch die für
die Berufung zuständige Strafabteilung zu behandeln. Die Strafabteilung
kam in materieller Hinsicht zum Schluss, die Inpflichtnahme eines
Bezirksrichters zeitige lediglich deklaratorische Wirkung; es liege
demnach ein gültiges Urteil eines vollständig besetzten Gerichtes vor.

    Gegen den Entscheid des Obergerichtes hat Lardelli staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung der Art. 4 und 58 BV eingereicht. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit einer staatsrechtlichen
Beschwerde von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE 114 Ia 81;
113 Ia 394).

    a) Vorab stellt sich die Frage, ob der angefochtene Entscheid vom
14. August 1989 ein taugliches Anfechtungsobjekt einer staatsrechtlichen
Beschwerde darstellen kann. Der Beschwerdeführer hat seine Eingabe an
das Obergericht vor dem Vorliegen der erstinstanzlichen schriftlichen
Urteilsbegründung, also vor dem Beginn des Fristenlaufs zur Einreichung
eines ordentlichen Rechtsmittels, eingereicht. Das Obergericht hat in
seinem Entscheid darauf hingewiesen, dass auch Nichtigkeitsgründe in
der Regel in einem ordentlichen Rechtsmittelverfahren geltend zu machen
seien, dass sich aber vorliegend aufgrund der Schwere der Tat und der
Höhe der ausgefällten Strafe sowie aus prozessökonomischen Gründen eine
selbständige aufsichtsrechtliche Beurteilung der Eingabe rechtfertige. Nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichtes kann jedoch der Beschluss einer
Aufsichtsbehörde, auf eine Aufsichtsbeschwerde ohne Erledigungsanspruch
nicht einzutreten oder sie abzuweisen, nicht Anfechtungsobjekt der
staatsrechtlichen Beschwerde sein (BGE 106 Ia 321, 90 I 230 f.). Unter
diesem (formellen) Gesichtspunkt könnte deshalb auf die Beschwerde nicht
eingetreten werden.

    b) Zu einem anderen Ergebnis führt indessen eine materielle
Betrachtungsweise. Wie die Strafabteilung richtig ausführt, hatte sie nicht
einen Mangel der Gerichtsorganisation, sondern die sich daraus ergebenden
Rechtsfolgen für das konkrete Strafverfahren zu beurteilen. Entgegen §
32 ff. des Gerichtsorganisationsdekretes des Kantons Aargau vom 23. Juni
1987 (GOD) hat deshalb nicht die für die Wahrnehmung der administrativen
Aufsicht über die Bezirksgerichte zuständige Inspektionskommission über
die Aufsichtsbeschwerde befunden, sondern die in der Sache zuständige
Strafabteilung. Der Sache nach handelt es sich um einen materiellen
Entscheid über eine verfrüht eingereichte (Teil-)Berufung gegen das
Urteil des Bezirksgerichtes Baden vom 6. März 1989. Tatsächlich wurde
die Fragestellung auch nicht auf die Nichtigkeit des erstinstanzlichen
Urteils beschränkt. Vielmehr wurde geprüft, ob das Urteil wegen der
fehlenden Inpflichtnahme einer Richterin gestützt auf § 74 KV bzw.
Art. 58 BV aufgehoben werden müsse. Dieser Entscheid stellt einen
kantonalen letztinstanzlichen Hoheitsakt in einer Strafsache dar, gegen
den aufgrund der gerügten Verletzung verfassungsmässiger Rechte nur die
staatsrechtliche Beschwerde offensteht (Art. 269 Abs. 2 BStP i. V. mit
Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Auf die Beschwerde ist mithin einzutreten.

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer macht - wie vor Obergericht - geltend,
der Inpflichtnahme von Richtern komme aufgrund ihrer überaus wichtigen
rechtsstaatlichen Funktion konstitutive Wirkung zu. Das Amt eines Richters
könne folglich vor der rechtsgenüglichen Inpflichtnahme nicht angetreten
werden. Daraus, dass die betreffende Richterin bei ihrer Mitwirkung am in
Frage stehenden Urteil keine amtliche Stellung innegehabt habe, ergebe
sich, dass das Gericht nicht mit der vorgeschriebenen Anzahl Richter
besetzt gewesen sei und demzufolge weder rechtswirksam habe verhandeln
noch ein rechtswirksames Urteil habe fällen könne. Da zur Qualifikation
des verfassungsmässigen Richters auch dessen Inpflichtnahme zu zählen
und diese in casu nicht vorgenommen worden sei, könne die betreffende
Richterin nicht als verfassungsmässige Richterin im Sinne von Art. 58 BV
betrachtet werden. Im übrigen habe das Obergericht mit seiner Auffassung,
§ 74 KV bzw. § 6 GOG schrieben nicht zwingend vor, dass die Inpflichtnahme
vor Amtsantritt erfolgen müsse, gegen die klar formulierten Bestimmungen
in Verfassung und Gesetz verstossen; das Urteil sei mithin willkürlich.

    b) Im Rahmen einer staatsrechtlichen Beschwerde, mit der die
Zusammensetzung des erkennenden Gerichtes wegen Verletzung von kantonalen
Verfahrensbestimmungen und von Verfassungsgarantien gerügt wird, kann auch
geltend gemacht werden, die Richter hätten das von der Verfahrensordnung
oder von der Kantonsverfassung vorgeschriebene Gelöbnis nicht abgelegt
und das Gericht sei daher nicht richtig bestellt (unveröffentlichtes
Urteil des Bundesgerichtes vom 6. Juli 1988 i.S. Ch., E. 2b). Soweit
mit einer staatsrechtlichen Beschwerde eine Verletzung des Anspruchs
auf den verfassungsmässigen Richter im Sinne des Art. 58 BV behauptet
wird, überprüft das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung des
kantonalen Gesetzesrechts lediglich unter dem Gesichtswinkel der Willkür;
mit freier Kognition prüft es indessen die Anwendung des kantonalen
Verfassungsrechts (BGE 108 Ia 66 E. 2b; 106 Ia 61 E. 2) sowie die Frage,
ob die als vertretbar anerkannte Auslegung des kantonalen Prozessrechts
mit der Garantie gemäss Art. 58 BV vereinbar ist (BGE 112 Ia 292 E. 2a;
105 Ia 159 f. E. 3). Sachverhaltsfeststellungen und deren Würdigung
durch die kantonalen Behörden prüft das Bundesgericht lediglich unter dem
Gesichtswinkel der Willkür. Daraus ergibt sich, dass der Anrufung von Art.
4 BV im vorliegenden Fall keine selbständige Bedeutung zukommt.

Erwägung 3

    3.- a) § 74 der Verfassung des Kantons Aargau vom 25. Juni 1980 (KV)
sieht vor, dass die Mitglieder von Behörden und die Beamten vor Amtsantritt
auf Verfassung und Gesetz verpflichtet werden. In Ausführung dieser
Bestimmung hält § 6 des Gerichtsorganisationsgesetzes vom 11. Dezember
1984 (GOG; in Kraft seit 1. Januar 1988) fest, dass die Richter vor ihrem
Amtsantritt getreue Pflichterfüllung geloben (Abs. 1). Bezirksrichter
legen das Gelübde vor dem Obergericht ab (§ 6 Abs. 2 GOG).

    b) Die Vorschrift von § 74 KV gewährleistet kein selbständiges
verfassungsmässiges Recht gemäss Art. 84 OG, weil sie sich nicht als
anspruchsbegründende Rechtsnorm an den Bürger richtet, sondern in erster
Linie als Auftrag an die Behörden zu verstehen ist. Es handelt sich mithin
um eine Organisationsnorm, deren Auslegung das Bundesgericht im Rahmen
einer auf Art. 58 BV gestützten Beschwerde allerdings frei überprüft.

    c) Der Beschwerdeführer macht geltend, der Wortlaut von § 74 KV
bzw. von § 6 GOG gehe eindeutig dahin, dass die Verpflichtung von
Behördemitgliedern auf Verfassung und Gesetz vor ihrem Amtsantritt zu
erfolgen habe. In der Tat ist der Akt der Inpflichtnahme nur dann sinnvoll,
wenn er vor der eigentlichen Aufnahme der Richtertätigkeit erfolgt. Im
vorliegenden Fall ist indessen zunächst festzuhalten, dass die in Frage
stehende Bezirksrichterin tatsächlich vor Amtsantritt am 30. August 1988
durch das Bezirksgericht in Pflicht genommen wurde. Es wird allerdings
von den kantonalen Behörden anerkannt, dass das Bezirksgericht seit dem
1. Januar 1988 für die Inpflichtnahme nicht mehr zuständig ist und diese
hier durch das zuständige Obergericht erst am 14. März 1989, also nach
der Durchführung des Strafverfahrens und nach Ausfällung des Urteils vom
6. März 1989 erfolgte. Es wird mithin eingeräumt, dass § 6 Abs. 2 GOG
offensichtlich nicht eingehalten wurde.

    Das bedeutet aber nicht ohne weiteres, dass das erstinstanzliche Urteil
aufgehoben werden muss. Das Obergericht vertritt vielmehr die Auffassung,
dass dem Amtsgelübde deklaratorische und nicht konstitutive Bedeutung
zukommt. Der Beschwerdeführer rügt, die vom Obergericht vorgenommene
Auslegung verstosse gegen den klaren und eindeutigen Wortlaut von § 74
KV bzw. § 6 GOG. Das trifft nicht zu. Weder § 74 KV noch § 6 GOG äussern
sich zu den Rechtsfolgen einer Verletzung der Regeln über das Amtsgelübde.

    d) Der Beschwerdeführer bringt sodann vor, die Verpflichtung eines
Richters auf Verfassung und Gesetz müsse als elementarer Grundsatz des
modernen Rechtsstaates angesehen werden. Die Bindung an das Gesetz im
weiteren Sinne stelle dabei das notwendige Korrelat der Unabhängigkeit des
Richters dar. Die Objektivität der Rechtsprechung, die Rechtsgleichheit
und die Rechtssicherheit seien ohne Beachtung der verpflichtenden Kraft
des Gesetzes nicht denkbar. Der Beschwerdeführer macht damit sinngemäss
geltend, der Inhalt der Inpflichtnahme müsse dazu führen, ihr konstitutive
Wirkung zuzuerkennen.

    Es steht ausser Zweifel, dass der Richter - um den Anforderungen von
Art. 58 BV zu genügen - seiner Aufgabe in unabhängiger und unparteiischer
Weise nachkommen muss und aus diesem Grunde allein Verfassung und Gesetz
verpflichtet sein darf. Das ergibt sich für den Kanton Aargau aus §
2 Abs. 1 GOG. Diese Verpflichtung entsteht indessen nicht erst mit dem
Amtsgelübde, sondern vielmehr bereits mit der Wahl bzw. deren Annahme durch
den Kandidaten. Nach der Rechtsprechung und der massgeblichen Lehrmeinung
stellt der Wahlakt eine (mitwirkungsbedürftige) Verfügung dar (Pra 67/1978
Nr. 73; ZBl 77/1976 S. 16 ff.; VPB 43 Nr. 52; 39 Nr. 47). Sie bewirkt
die Begründung der gegenseitigen Rechte und Pflichten im Rechtsverhältnis
zwischen Staat und gewähltem Behördemitglied. Der Kandidat gibt mit der
Annahmeerklärung im Sinne von § 57 Abs. 3 des aargauischen Gesetzes über
Wahlen und Abstimmungen vom 6. September 1937 (Wahlgesetz) in rechtlich
verbindlicher Weise zum Ausdruck, dass er bereit ist, die sich aus seinem
Amt ergebenden Amtspflichten gewissenhaft zu erfüllen, insbesondere
Verfassung und Gesetze zu wahren. Die Auffassung der kantonalen
Behörden, die Vereidigung vermöge daher in materiellrechtlicher Hinsicht
grundsätzlich keine neue Lage zu schaffen, ist nicht zu beanstanden. Sie
wird auch durch die parlamentarischen Beratungen zur Revision der
aargauischen Staatsverfassung bestärkt, wo einem Antrag auf Streichung
von § 74 KV in der Ratsdebatte einzig mit dem Argument begegnet wurde,
eine Inpflichtnahme sei ein "gehaltvoller Akt", sei "eindrucksvoll",
bleibe in Erinnerung, habe ihren Sinn und Wert (vgl. Protokoll des
Verfassungsrates des Kantons Aargau betreffend Entwurf zur 1. Lesung,
S. 727 f.). Der Inpflichtnahme nach aargauischem Recht muss der Sinn und
Zweck beigemessen werden, bei wichtigen öffentlichen Ämtern eine - bereits
durch die Wahl geschaffene - rechtliche Verpflichtung in einem gesonderten
feierlichen Akt nach aussen zu manifestieren. Entscheidend ist, dass
sich das gewählte Behördemitglied anlässlich der Vereidigung ausdrücklich
zur geltenden Rechtsordnung - der es aber auch ohne diese Kundgabe kraft
seines Amtes verpflichtet ist - bekennt. Dem Amtsgelübde kommt mithin vorab
moralische und symbolische Bedeutung zu. Fraglich könnte allenfalls sein,
wie es sich verhielte, wenn sich ein Richter ausdrücklich weigern würde,
das Amtsgelübde abzulegen. Es wäre in diesem Fall zu prüfen, ob eine solche
Verweigerung der Inpflichtnahme allenfalls als Entlassungsgrund betrachtet
werden müsste (vgl. § 28 Abs. 1 des deutschen Bundesbeamtengesetzes;
Fritjof Wagner, Beamtenrecht, 2. Auflage, Heidelberg 1988, S. 110, N 215)
oder ob in diesem Fall ein erst nachträglich erkennbarer wesentlicher
Mangel der Wahlannahme angenommen werden müsste, welcher die Nichtigkeit
des Wahlaktes ex tunc zur Folge hätte. Diese Frage braucht im vorliegenden
Verfahren nicht beurteilt zu werden, weil die Richterin sowohl vor dem
Prozess durch die unzuständige Behörde als auch nach dem Prozess von der
zuständigen Behörde in Pflicht genommen wurde. Bei dieser Sachlage bleibt
es dabei, dass das Obergericht ohne Verletzung von § 74 KV oder § 6 GOG
annehmen durfte, es liege mit dem erstinstanzlichen Urteil ein solches
eines nach kantonalem Recht vollständig besetzten Gerichtes vor.

Erwägung 4

    4.- Wurde aber das Urteil des Bezirksgerichtes Baden durch ein im
Sinne des kantonalen Rechts ordentlich besetztes Gericht gefällt, ist nicht
einzusehen, inwiefern es in Widerspruch zu der in Art. 58 BV verankerten
Garantie des verfassungsmässigen Richters stehen sollte. Die Beschwerde
erweist sich nach dem Gesagten als unbegründet und ist daher abzuweisen.